Musio | Scheinwerfen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 404 Seiten

Musio Scheinwerfen


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-902844-81-1
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 404 Seiten

ISBN: 978-3-902844-81-1
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Es handelt sich sicher um einen der ungewöhnlichsten Familienbetriebe im heutigen Bern: Durch bloße Berührung können die Weingarts verschüttete Erinnerungen anderer Menschen sehen. Aber was als Geschäft gut funktioniert, wird für die Beteiligten mehr und mehr zur persönlichen Falle. Eine Gabe wird zum Fluch, Erinnerungen werden zum Verhängnis. Humorvoll abgründig und mit realistischer Prägnanz erzählt Giuliano Musio von der fatalen Macht der Erinnerung. Das 'Scheinwerfen' vererbt sich in der Familie Weingart seit Generationen und wurde für einige von ihnen inzwischen zur guten Lebensgrundlage. Julius, studierter Psychologe und in mancher Hinsicht ein Spätzünder, versucht mit trauriger Verzweiflung den Ansprüchen des Geschäfts gerecht zu werden und hinter das Geheimnis zu kommen, das seine Freundin Sonja in letzter Zeit immer stärker zu belasten scheint. Sonja ist gleichzeitig seine Cousine und arbeitet ebenfalls in der Praxis, genauso wie sein Bruder Toni, der mit seiner Homosexualität hadert und sich auf eine problematische Vereinbarung mit dem Sohn eines Kunden einlässt. Nur der plötzlich auftauchende Halbbruder Res ist grundsätzlich mehr als zufrieden mit sich und der Welt, was aber vor allem an einem geistigen Manko und einer daraus resultierenden, ganz eigenen Wirklichkeit liegt. Die Geschehnisse um sie alle haben mehr miteinander zu tun, als sich die Brüder zunächst vorstellen können. Ihre Gabe, fremde Erinnerungen zu sehen, wird die einzelnen Fäden nach und nach zusammenspinnen. Aber es werden Erinnerungen sein, die vielleicht besser weiterhin geruht hätten. 'Scheinwerfen' ist Kanditat für die HOTLIST 2015 (als eines von 30 Büchern aus 171 Einreichungen) Die Hotlist ist zu einem der wichtigsten Instrumente geworden, um das zu zeigen, was die unabhängigen Verlage für den Reichtum, die Qualität und den Erfolg der Buchkultur im deutschsprachigen Raum leisten.

Giuliano Musio, *1977 in der Nähe von Bern. Er hat Germanistik und Anglistik studiert und publizierte bisher in Anthologien und Literaturzeitschriften wie Manuskripte und Entwürfe. Er las in der Endrunde des Open Mike Berlin und erhielt für seine Texte mehrere Preise und Stipendien. Weil er das Surren von Kaffeemaschinen und grammatische Phänomene wie das Zustandspassiv mag, arbeitete er als Kellner und ist heute als Korrektor bei der NZZ tätig. Scheinwerfen ist sein Debütroman. Titel bei Luftschacht: Scheinwerfen (Roman, 2015) www.giulianomusio.com www.facebook.com/giulianomusio
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FOLGE 2


VÄTER


Julius warf Sonja mit Wucht zu Boden, setzte sich auf sie, drückte sie an den Schultern ins Gras. Sie schrie, versuchte, ihn in den Arm zu beißen. Toni kniete sich hin und legte den Goldfisch auf eine der Steinplatten am Rand des Teichs. Wäre Sonja ihnen mit ihrem Tierschutzgerede nicht so auf die Nerven gegangen, hätten sie dem Fisch auch nichts getan. Nun krümmte er sich und zuckte. Toni ließ die Lupe über ihn gleiten, bis er mit dem leuchtenden Punkt das Auge erreicht hatte. Eine schwarze Flüssigkeit trat aus, rann über die roten und weißen Schuppen. Er warf den Fisch zurück in den Teich, wischte sich die Hand im Gras ab und sagte: „Du kannst sie loslassen.“ Julius stieg von ihr runter und sie stürzte sich schreiend auf Toni. Dann die scharfe Stimme seiner Mutter. Sie stand mit strengem Blick am Fenster, befahl Julius, sofort zu ihr kommen.

Als er das Haus betrat, schaute sie noch immer hinaus in den Garten. Leise sagte er: „Es war Tonis Idee.“

„Ich habe einen Anruf aus Portugal bekommen“, sagte sie. Sie schloss das Fenster, setzte sich hin und teilte ihm mit, was mit seinem Vater geschehen war. Und mit Sonjas.

„In den nächsten Stunden will ich nicht gestört werden. Von keinem von euch. Du gehst jetzt wieder raus und informierst die anderen. Nein, warte. Besser, du schickst Sonja nach Hause. Und dann erzählst du es Toni, aber vorsichtig. Du bist vierzehn. Alt genug, um etwas Verantwortung zu übernehmen.“

An diesem Abend begann Julius, eine Zeittafel zu schreiben. Am Computer erstellte er eine Tabelle, die mit dem Urknall begann und bis in die Gegenwart führte. Er trug alles ein, was ihm wichtig schien: die Entstehung der Erde, die Dinosaurier, den Untergang Roms, die Entdeckung Amerikas, Hitler, Elvis, seine eigene Geburt und schließlich die beiden Todesfälle, gefolgt von vielen leeren Zeilen für die Zukunft.

Während er daran arbeitete, sprang seine Mutter aus dem Fenster. Toni hatte es mit angesehen. Sie wurde von der Thuja und vom Kirschlorbeer abgefedert, zog sich nur ein paar Schürfungen zu; und ein blaues Auge, weil sie am Ende noch mit dem Kopf gegen einen Gartenzwerg geknallt war.

Wenn Julius heute an diesen Tag zurückdachte, dann erinnerte er sich an die neonfarbenen Armreife, die Sonja getragen hatte, und an ihr T-Shirt mit einem Bild von New Kids on the Block. Versuchte er aber, sich ihr damaliges Gesicht vorzustellen, dann sah er nur die Sonja der Gegenwart vor sich. Als hätte es das junge Mädchen nie gegeben.

Eine schmale Landstraße führte durch den Wald. Kieselsteine, Fahrspuren, Pfützen, die Rinden der Baumstämme; im Lichtkegel der Scheinwerfer erschien alles in fremdartigen Konturen, bevor es wieder in der Dunkelheit verschwand. Aus dem Autoradio eine leise Frauenstimme, von einem Rauschen durchsetzt. Julius kannte die Strecke.

Sonja hatte lange schweigend neben ihm gesessen. Jetzt sagte sie: „Morgen werde ich beim Haus mit den Weinreben klingeln gehen.“

„Lässt dir das immer noch keine Ruhe?“

„Die Trauben an der Fassade verfaulen. Schon letztes Jahr hat sie keiner gepflückt.“

Julius schaute zu ihr rüber. Einen Moment lang sah sie unwahrscheinlich traurig aus. „Das ist nicht unser Problem“, sagte er. „Genau genommen ist es überhaupt kein Problem.“

Sie rutschte etwas tiefer, winkelte die Beine an und schwieg. Mitten in diese Stille, die mehrere Minuten angehalten hatte, entfuhr ihr ein gellender Schrei. Dabei griff sie nach seiner Schulter. „Halt an!“ Julius trat auf die Bremse, das Auto blieb mit einem Ruck stehen.

Sonja atmete schnell, den Mund halb offen, kniff die Augen zusammen, spähte hinaus. Auf der Straße Steine, eine Lache, vereinzelte Blätter. „Fahr weiter, aber ganz langsam“, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden.

Er trat vorsichtig aufs Gaspedal, bog um eine enge Kurve. An den Seiten dichtes Geäst, das unzählige Schatten warf. „Da ist nichts“, sagte er und beschleunigte das Tempo wieder.

Zu Hause sprach sie nicht mehr mit ihm. Sie kochte sich einen Tee und setzte sich auf die Bank auf dem Balkon. Julius merkte, dass sie allein sein wollte. Er folgte ihr trotzdem. Sie hatte sich die Ärmel ihres Pullovers bis über die Hände gezogen, während sie die Tasse hielt.

„Es ist so, seit du Kaspar Ott behandelst“, sagte er. „Du bist schreckhaft, hast Albträume, lachst kaum noch.“ Er setzte sich neben sie. „Nach deinem letzten Treffen mit ihm hab ich dich oben an der Treppe stehen sehen. Du warst bleich, aber ich glaube, das war es gar nicht, was mich so erschreckt hat. Es war vielmehr etwas, was ich gespürt habe.“

Sie stellte den Tee neben sich auf die Sitzfläche der Bank. „Mir ist es egal, wenn Toni und du Privates von euren Kunden ausplaudert. Aber ich werde mit dir nicht über den Ott sprechen. Das geht gegen meine Prinzipien.“

Julius konnte sich kaum vorstellen, in welcher Hinsicht ein zerstreuter alter Mann wie Kaspar Ott eine Bedrohung sein sollte. Vielleicht sah Sonja Kriegserlebnisse, wenn sie ihn berührte. Oder er hatte ein Verbrechen begangen, von dem nun niemand außer ihr wusste. Dass er ein Mörder oder ein Kinderschänder war, hielt er für unwahrscheinlich. So was würde ihm sein Bauchgefühl sagen. Doch auch jemand mit einer ausgeprägten Menschenkenntnis, wie Julius sie hatte, konnte sich mal täuschen. „Wenn es dir nicht guttut, was du bei Kaspar Ott siehst, dann beende die Sitzungen. Mutter wird es verstehen.“

Sie schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln. „Dafür ist es zu spät.“

Als er in der Nacht erwachte, lag Sonja nicht mehr neben ihm. Er tastete sich durch die Wohnung. In der Dunkelheit des Wohnzimmers stand sie am Fenster, den Rücken zu ihm. Sie hatte seine Schritte nicht gehört. Die Vorlage für einen Horrorfilm, dachte er. Er stellte sich vor, wie er auf Sonja zuging und ihr die Hand auf die Schulter legte. Sie würde sich zu ihm umdrehen und hätte das Gesicht einer alten Frau. Oder eines Monsters. Oder sie hätte gar kein Gesicht mehr. Er schlich zurück ins Bett und wartete, bis Sonja sich wieder neben ihn legte. Dann endlich schlief er ein. In seinen Träumen brannte sie lichterloh.

Als der Wecker losging, lag Toni auf dem Sofa. Der Fernseher lief. Zwei Lehrerinnen spielten im Morgenmagazin frohlockend Gitarre. Das Läuten aus dem Schlafzimmer wurde lauter, Toni zündete sich eine Zigarette an und stand auf, um den Wecker auszustellen.

Er hatte geträumt. Vom Rothaarigen. Strand, Sonnenuntergang, ein Früchtekorb. Abgedroschene Kitschszenen und billige Sexmetaphern. Und waren da sogar Pferde gewesen? „Verfluchte Scheiße“, flüsterte er.

Er musste sich bewegen. Mit jeder Bewegung, die man nach dem Aufwachen mache, könne man sich schlechter an Geträumtes erinnern, hatte Julius ihm mal erklärt. Die Gelenke knackten.

Im Kühlschrank war nur noch ein Stück Butter. Über dem Geschirr fand er aber eine halbe Packung gemahlener Mandeln und eine Tüte mit sauren Gummikängurus. Er setzte sich mit beidem vor den Fernseher. Dallmayr stellte vollendet veredelten Spitzenkaffee her. Zwei Frauen unterhielten sich über Verdauungsbeschwerden, eine grinste, die andere jammerte irgendwas. Dann die Merci-Werbung: „Du bist der hellste Punkt an meinem Horizont … Du bist das Rettungsboot auf meinem Ozean …“ Toni fühlte, wie ihm etwas Feuchtes die Wange hinunterlief. Er wischte es mit dem Finger weg, schaute es an.

„Nun reicht’s aber“, murmelte er und stellte den Fernseher aus.

Als er das Haus am Erlenweg betrat, zupfte seine Mutter ihm gleich in den Haaren rum. „Wenn ich dir einen Kamm schenke, benutzt du ihn dann?“ Er schaute in die Agenda. Walter Stocker wollte sich an eine Urlaubsreise aus der Jugendzeit erinnern, während der er ständig gekifft hatte. Anja Gräub wollte wissen, wie sie als Baby von ihrer Mutter behandelt worden war. Markus Heinzmann hatte den Code seines Safes vergessen. Die erste Kundin wartete bereits im Salon, eine Arzthelferin. „Ich hätte sie von Anfang an zu dir schicken sollen“, sagte seine Mutter.

In Tonis Behandlungszimmer stand ein runder Glastisch mit drei Stühlen aus transparentem Kunststoff. Auf einem Regal an der Wand gläserne Vasen, darüber ein Spiegel. Von der Decke hingen neben ein paar farblosen Glaskugeln auch leere Wodkaflaschen herunter, die mit einem Faden an den Hälsen befestigt waren. Die Vorhänge und die Wände waren weiß. Toni setzte sich mit der Arzthelferin an den Tisch.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte sie.

Er rieb sich die Augen, hustete. „Schlecht geschlafen, entschuldigen Sie bitte.“

„Sie wissen, worum es geht?“

Toni nickte. „Ist es Ihnen unangenehm, wenn...


Giuliano Musio, *1977 in der Nähe von Bern. Er hat Germanistik und Anglistik studiert und publizierte bisher in Anthologien und Literaturzeitschriften wie Manuskripte und Entwürfe. Er las in der Endrunde des Open Mike Berlin und erhielt für seine Texte mehrere Preise und Stipendien. Weil er das Surren von Kaffeemaschinen und grammatische Phänomene wie das Zustandspassiv mag, arbeitete er als Kellner und ist heute als Korrektor bei der NZZ tätig.
Scheinwerfen ist sein Debütroman.

Titel bei Luftschacht: Scheinwerfen (Roman, 2015)

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