Muschg Im Erlebensfall
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-65957-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Essays 2002-2013
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
ISBN: 978-3-406-65957-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kulturelles Gedächtnis und digitale Revolution, das Nachleben mythischer Verstrickungen in Kunst und Zivilisation, menschliche Endlichkeit und Konsumgesellschaft, Europa und das Finanzkapital, und immer wieder: die Grenze als kritische Größe des guten Lebens – das sind Themen von Adolf Muschgs großartigen Vorträgen und Essays, die aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages in diesem Band versammelt sind, der mit einer luziden Lektüre des Gemäldes „Die Spinnerinnen“ von Velázquez einsetzt. Das Gemälde thematisiert den Anfang der Webkunst – auch der Verfertigung von Texten. Der rote Faden, der dabei entsteht, führt allerdings nicht aus dem Labyrinth heraus, sondern auf rechte Art hinein. Er lehrt erkennen, dass die Ränder menschlicher Existenz und ihr Zentrum nicht zweierlei sind. Worauf es ankommt, ist die Erfahrung des Wegs.
Diese Essays, die auch eine persönliche Geschichte erzählen, zeigen Muschg als einen Homme de lettres und Intellektuellen europäischen Formats, der Europa als unerledigtes Geschäft betrachtet. Auf der Suche nach tragfähigen Abbildungen menschlicher Realität stößt Muschg immer wieder auf die Kunst: Zu seinen Patronen gehört, nach Goethe, Jacob Burckhardt, der die Geschichte als fortgesetzten Versuch sah, die in jeder menschlichen Gesellschaft angelegten Grundwidersprüche nach dem Vorbild der Kunst zu zivilisieren. Das heißt: Mehrdeutigkeit gelten und walten zu lassen, statt sie, wie das Computermodell, zu minimieren oder, wie das politische Diktat, zu unterdrücken.
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Die Spinnerinnen – statt eines Vorworts
1 Aufs Verlieren spezialisiert – das bin eigentlich ich. Aber in den «Nullerjahren» war es zweimal meine Frau, der alle für Identität und Fortkommen wichtigen Papiere abhanden kamen: das zweite Mal 2006 im Prado-Museum zu Madrid. Dabei machte sich der Taschen-Dieb das Gedränge vor einem bestimmten Gemälde zunutze. Es waren Las Hilanderas («Die Spinnerinnen») von Velázquez. Was wir damals betrachtet haben, ist mir erst hinterher aufgegangen, und so möchte ich die nachträgliche Beschreibung des Bildes statt eines Vorworts verwenden – zu dieser Sammlung von Reden und Aufsätzen aus jenem Jahrzehnt, die, unter anderem, vom Verdacht handeln, damals sei auch anderen Leuten mehr verloren gegangen als Papiere und Identität. Bedrucktes Papier scheint ohnehin auf dem Rückzug, obwohl die digitale Revolution immer mehr ausdruckt und damit gewiß nicht weniger kostbaren Regenwald verschlingt. Und was die in der Einzahl populär gewordene Identität betrifft, so müßte auch Anspruchlosen deutlich sein, daß sogar zur Bestreitung des sozialen Alltags mehr als nur eine nötig ist. Unübersehbar ist natürlich, daß Zeitungen – Print Medien – in mancher Hinsicht dünner geworden sind, seit die Werbung ins Netz auswandert, und ebenso sicher wirkt die Kundschaft an dieser Entwicklung, die sie bedauern mag, am häuslichen Rechner tüchtig mit. Das unerläßliche digitale Werkzeug bestimmt die Zwecke, denen es dienen kann, zunehmend selbsttätig, und die Entdeckung, daß wir uns mit jedem Klick immer umfassender an Agenturen ausliefern, die unsere Daten vorgeblich für unsere Sicherheit, ganz bestimmt aber für ihre Interessen verwenden, ist nicht mehr vielen eine große Empörung wert. Wer sich vor dem Mißbrauch von Daten durch ihr schieres Quantum geschützt glaubt, unterschätzt die Effizienz der Algorithmen, welche gesuchte Verdächtige – Terroristen oder Kunden – mit derselben Geschwindigkeit aussortieren, wie sie an der digitalisierten Börse sogenannte Papiere kaufen und verkaufen. Die sozialen Explosionen, die das lautlose Geschäft auslöst, finden an ganz anderen Orten statt, und das für den Ring einst charakteristische Geschrei ist ebenso passé wie die Bedeutung von Medium für «Kontaktperson mit dem Jenseits» oder «Format» für «geistigen Rang». Was in der Schweiz einst «Fichenskandal» hieß – die Beschnüffelung eines Fünftels der Wohnbevölkerung durch die Bundespolizei –, nimmt sich hinterher wie eine Dorfposse aus, und wer sich gerade noch auf dem Datenmeer als mutiger Pirat der Urheberrechtsfreiheit zu bewegen glaubte, muß heute feststellen, daß er damit nur einem globalen Kundengeschäft als Schlepper gedient hat. Was tun? Für die Frage, die Lenin 1902 an die Adresse der Weltrevolution gerichtet hat, bietet Google heute als Suchhilfe (in dieser Reihenfolge) an: gegen Übelkeit – gegen Sonnenbrand – gegen Pickel – gegen Kater. Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Die Frage zivilen Überlebens auf einem geschundenen Planeten begegnet globalisiertem Achselzucken. Uns trifft’s hoffentlich noch nicht, und die Schwarmintelligenz wird’s schon richten, was, wird man sehen, wenn’s so weit ist. Es kommt doch immer anders, als man denkt. 2 Und dafür hat man ja, in der Tat, auch verblüffende Beweise erlebt. Nicht einmal der israelische Geheimdienst hat, wie ich höre, 1989 den Mauerfall kommen sehen oder gar die Implosion des ganzen Ostblockes not with a bang but with a whimper. Kein Starkolumnist – und auch nicht Big Data – konnte mit einem «arabischen Frühling» rechnen, und als er trotzdem eintrat und ein Land nach dem andern ergriff, sah er sich selbst (oder was man in ihm gern gesehen hätte) schon in kurzer Zeit nicht mehr ähnlich – so wenig, daß heute niemand mehr weiß, auf welchen «Hoffnungsträger» er setzen soll: auf die Tamarod-Bewegung? Das Militär? Oder doch ein bißchen die Muslimbrüder? Pragmatismus, bitte sehr, nur wüßte man dann auch gern, was eigentlich Sache ist. Instanzen, die einst für verbindliche Ansagen zuständig waren, von der Kirche über die Intellektuellen bis zum Fernsehkommentator, müssen sich ihrerseits nach der Quote richten. Das heißt, auch da bestimmt der Kunde, was er gefragt sein möchte, und wenn er sich seinerseits danach richtet, was mutmaßlich gefragt ist, beißt sich die Katze in den Schwanz. Und da in diesem Spiel doch keiner schlechte Karten haben will, wird ein Schwarzer Peter so oft herumgereicht, als würde er davon weniger schwarz oder erledigte sich von selbst – was erstaunlicherweise oft genug der Fall ist. Das kurze Gedächtnis, auch durch seinen ökonomischen Vorteil empfohlen, sorgt wie von selbst dafür, daß Tatsachen von heute nicht mehr die von gestern sind. War da was? Was die sogenannte Wissensgesellschaft zu wissen braucht, hat sie an die Suchmaschine ausgelagert oder an Spezialisten delegiert, die dann ja auch gleich die Risiken mitverwalten können. Dafür sind Prognosen wohlfeil: ich wage hiermit diejenige, daß uns in den nächsten Jahren ein «chinesischer Frühling» unvorstellbarer Größenordnung bevorsteht. Da alle Wahrscheinlichkeit dafür spricht, werden sich die Tatsachen nicht nehmen lassen, ihrer zu spotten. 3 Regellose Verhältnisse sind so unerträglich wie überregulierte, und auch mit diesen sind wir reichlich gesegnet: wenn die bekannte Welt aus den Fugen ist, brennt ihr der Zeitgeist neue Koordinaten auf. Die Korrektheit macht dem freien Markt heute so erfolgreich Konkurrenz, daß sie sich selbst zur gewinnbringenden Investition empfiehlt, und als Pfeifenraucher erlebe ich jeden Tag, daß man gegen einen Haufen gesunden Mists nicht anstinken kann. In den hier gesammelten Vermutungen, Thesen, Spekulationen und Herzensergießungen wird man vielleicht eine Strategie bemerken, die – ich weiß es wahrhaftig! – viel zu wünschen übrigläßt: der «flachen Welt», die Thomas Friedman von der New York Times im Zeichen des globalen Netzes zelebriert hat, hinterrücks wieder lokale Rundungen abzugewinnen – im Bewußtsein, daß die Erde davon nicht wirklich runder wird. Und es, solange sie ein kulturelles Objekt bleibt, auch gar nicht werden darf. Darum möchte ich meinem Thema – nennen wir es: Verhaftung in der Zeit – wenigstens von einer Seite beikommen, wo es immer schon offen gewesen ist. Wo man aber auch eine bestimmte Praktik geübt hat – und immer noch üben kann –, der Sache des Menschen wenn nicht bei-, so doch fühlbar etwas näherzukommen; wo man im Objekt eines Interesses immer auch sein Subjekt deutlicher zu erkennen vermag und im Werk, das es scheinbar zweckfrei unternimmt, einst sogar eine höhere Stimme zu vernehmen, göttlichen Atem zu spüren glaubte. 4 Darum kehrt dieses Vorwort an die Stelle zurück, wo meiner Frau alle Papiere gestohlen wurden, in der Ahnung, es gebe dort immer noch etwas zu suchen. Dafür rufe ich die Hilanderas als Zeuginnen an. Denn wie sollte ein Bild, in das man sich bis zur Selbstvergessenheit vertiefen kann, nicht seinerseits etwas zu melden haben? Und wenn in seinem Zentrum der Raub der Europa steht: wie sollte es von kleineren Diebstählen nichts verstehen, auch wenn der Ruf: haltet den Dieb! ein paar Jahre zu spät kommt? Er kommt immer zu spät, denn der wahre Dieb läßt sich nicht halten, ohne daß wir uns selbst bei der Nase nehmen. Darum ist der Ruf, wie das Bild beweisen kann, auch nie ganz ehrlich gewesen. Aber auch nicht ganz unbegreiflich, wenn herauskommen sollte, daß sich nicht nur in jedem Bestohlenen ein Dieb verbirgt, sondern auch im Dieb ein Bestohlener. Kurzum: wir bekommen es mit Kunst zu tun, und bei diesem Künstler – Diego Rodríguez de Silva y Velázquez (getauft 6. Juni 1599 in Sevilla; † 6. August 1660 in Madrid) kann man etwas erleben. 5 Mit großen Bildern geht es anders als mit wichtigen Träumen; diese reißen die Pforten der Wahrnehmung einen Augenblick weit auf, so daß man plötzlich in eine noch nie dagewesene Tiefe zu blicken glaubt. Aber schon bald nach dem Erwachen hat sie sich wieder so gründlich verschlossen, daß man gegen die Wand läuft, wenn man den Eindruck etwa schriftlich festzuhalten sucht; er verkrümelt sich mit jedem Wort, und schon ein paar Tage später weiß man nicht mehr, was der Unsinn bedeuten soll. Mit einem Kunstwerk (siehe Vorsatz) wie den Hilanderas läuft es umgekehrt: beim ersten Mal steht man wie vor einem blinden Spiegel; und erst aus der zeitlichen Entfernung sieht man das Bild nicht nur immer genauer, sondern glaubt sogar sich selbst, als Betrachter, besser zu erkennen. Diese Offenbarung stellt sich langsam ein, als wäre das Bild im Element der eigenen Erfahrung nachgewachsen und als hätte erst diese, wie ein fotochemisches Bad, seine Eigenschaften bis in alle Einzelheiten entwickelt. Dabei wird...