E-Book, Deutsch, 856 Seiten
Murtaza Die Friedensmacher
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-347-84809-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ethos und Ethik im Islam
E-Book, Deutsch, 856 Seiten
ISBN: 978-3-347-84809-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor. Als freier Mitarbeiter wirkt er bei der Stiftung Weltethos, wo er zu Gegenwartsströmungen im Islam, islamischer Philosophie, Gewaltlosigkeit im Islam und Islam und Weltethos forscht. Weiter wirkt er als wissenschaftlicher Gutachter bei der renommierten in Pakistan herausgegebenen islamwissenschaftlichen Fachzeitschrift Hamdard Islamicus mit. Er ist gefragter Vortragsredner und publiziert in verschiedenen Magazinen und Tageszeitungen.
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Immer noch alles fraglich…
In den vergangenen 300 Jahren hat die muslimische Gemeinschaft ihren intellektuellen, politischen und ökonomischen Niedergang erlebt, den Einbruch der Moderne durch den Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung erfahren, Erneuerungsbewegungen verschiedener Couleur, Dekolonisation, post-koloniale säkulare und religiöse Diktaturen kommen und gehen sehen, Revolutionen, Kriege, Diaspora, gescheiterte Staaten, ausländische Interventionen und den Verfall der klassischen Institutionen des Islam erdulden müssen. In all dieser Zeit waren Muslime Unterdrückte und Befreier, aber auch Rächer und Täter. Im Namen des Islam wurden Muslime und Nichtmuslime verteidigt, aber auch ermordet. Der Name Gottes und des Propheten Muhammad wurden mit Blut besudelt. Wirklich aufgearbeitet wurden diese Exzesse von muslimischer Seite bisher nicht. Immer noch predigen muslimische Gelehrte naiverweise, dass Religion notwendig sei, um ein ethisches Leben zu führen, während der Atheismus als die größte Gefahr für die Menschheit denunziert wird. Doch die Taten, Gräuel und Verbrechen sowohl ideologischer und militanter muslimischer Selbstermächtigungsgruppen als auch autoritärer und totalitärer muslimischer Staaten verdeutlichen: Gläubige Menschen sind nicht die friedlicheren Menschen. Gläubige Menschen handeln nicht per se ethisch. Gläubige Menschen haben nicht das Recht, eine solche Ausnahmestellung für sich zu beanspruchen.
Dass dies dennoch geschieht, macht deutlich, dass die Herausforderung der Fraglichkeit der Welt nicht verstanden wurde.
Antworten auf die Fraglichkeit der Welt
Als sich aber seine [Lots] Frau hinter ihm umblickte, wurde sie zu einer Salzsäule (Genesis 19,26). Der sehnsuchtsvolle Blick zurück auf den Zustand der Unwissenheit über Gott, der Ethiklosigkeit und der Gesetzlosigkeit, zusammengefasst in dem arabischen Ausdruck gahiliya, führt zur Vernichtung, so lehrt es diese biblische Erzählung. Doch es gibt auch den kritischen Blick zurück, der zu Einblick und somit Erkenntnis führt. Nur der Blick zurück, nachdem man bereits seine Entscheidung getroffen hat, macht einem bewusst, vor welcher Herausforderung man eigentlich stand.
Die Frage, ob da etwas ist, das dem Menschen Urgrund ist, steht nicht am Anfang der Selbstfindung. Es geht gar nicht so sehr um Gott, vielmehr um einen selbst und die eigene Verortung in dieser stummen Welt. Die Entscheidung, an Gott zu glauben oder auch nicht zu glauben, ist daher verbunden mit einer anderen, naheliegenderen Entscheidung, nämlich die des eigenen Verhältnisses zur Welt.
Wir Menschen werden in eine Welt ohne Erklärungen geworfen. Existenziell verwirrt, orientierungslos und konfus müssen wir erkennen, dass diese Welt und unsere Existenz in ihr fraglich sind. Allein an einem selbst liegt es, sich Orientierung zu geben. Unabdingbar muss der Mensch – jeder Mensch – eine Wertung über sein eigenes Sein und die Welt, in die er hineingeworfen wurde, vornehmen. Dieses Werturteil ist die fundamentale Grunderfahrung, der alle Menschen ausgesetzt sind und der wir uns nicht entziehen können, wenn wir denn mündige Menschen sein wollen. Jeder Mensch steht vor der Entscheidung, der Welt ein Grundvertrauen oder ein Grundmisstrauen entgegenzubringen. Er kann Ja zu der Welt sagen. Er kann sie als sinnvoll, wertvoll und wirklich beurteilen. Aber er kann auch Nein zu der Welt sagen, sie als sinnlos, wertlos und nichtig befinden.2 Betrachten wir zunächst das Grundvertrauen.
Grundvertrauen und Gott
Derjenige, der Ja zur Welt sagt, gibt subjektiv dem gesamten Universum, von den fernsten Galaxien bis hin zum Elektron, einen übergeordneten Sinn und erhält hierdurch ein Gefühl von Geborgenheit. Doch worauf fußt dieses Grundvertrauen eigentlich? Worin ist es denn begründet? Andernfalls wäre es ja unbegründet. Es bedarf einer Erklärung, weshalb etwas ist und nicht nichts ist.
Die Menschen glaubten zu allen Zeiten – als würden sie einem natürlichen Impuls folgen – dass diese Geborgenheit auf ein höheres Wesen zurückzuführen ist. Der Mensch suchte die Verbindung zu diesem höheren Wesen und aus dieser Beziehung entstand eine weitere Grunderfahrung: Verantwortlichkeit.3 Die Bewertung der Fraglichkeit der Welt, das Gefühl von Geborgenheit und die damit einhergehende Verantwortlichkeit stellen das Fundament der Religion dar und erden zugleich die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz.4 Der Poet Mir Taqi Mir (gest. 1810) dichtet:
Mein Herr hat große Gnade mir erwiesen:
Ein Nichts von Staub macht’ Er zu einem
Menschen.5
Gott ist für den Theisten somit die Antwort auf die Fraglichkeit dieser Welt. Gott wird zum Urgrund seiner Existenz. Gott wird zum Urhalt in allen Lebensumständen. Gott wird zur Hoffnung auf ein besseres Leben im Diesseits und im Jenseits. Gott wird zum Urziel, zur Heimat nach dem Tode. Gott wird für diesen Menschen zur einzigen Wirklichkeit.6 Der eine Gott ist für den Theisten die transzendente Ursache von allem, was existiert, zugleich ist Seine Barmherzigkeit in jedem Phänomen Seiner Schöpfung immanent.7 Poetisch heißt es im Qur?an:
Bei dem Berg (Sinai)! Bei der Offenbarung, geschrieben auf ausgerolltem Pergament! Bei dem vielbesuchten Haus! Bei dem hohen (Himmels-)Gewölbe! Und bei dem wellengeschwellten Meer! (52:1-6)
Nach dem Qur?anexegeten Muhammad Asad (gest. 1992) steht der im Versabschnitt erwähnte Berg Sinai metonymisch für die Offenbarung, durch die Gott seit Entstehung des vernunftbegabten Menschen das Gespräch mit diesem sucht, worauf das vielbesuchte Haus, gemeint ist die Ka?ba in Mekka, hinweist. Der Mensch antwortet auf den Ruf Gottes, nachdem er aufgrund der unendlichen Weite des Universums und des Meeres sich zunächst fragt, was wohl hinter ihnen liegt,8 was schließlich zu den existenziellen Fragen führt: „Wer bin ich? Was ist meine Aufgabe und was geht hier vor sich?“9
Das Gespräch mit Gott führt schließlich zu einer Lebensgemeinschaft mit Ihm, d. h. es wird angestrebt, die eigene Existenz in Einklang mit dem Willen Gottes zu bringen. In den Psalmen heißt es:
Weise mir, Herr, deinen Weg; / ich will ihn gehen in Treue zu dir. (Psalmen 86,11)
Religion ist gelebtes Leben und für religiöse Menschen eine den Alltag bestimmende Angelegenheit. Sie ist eine Lebenssicht, Lebenseinstellung und Lebensart. Religion ist niemals nur Privatsache und reine Verinnerlichung, schon das Gebet des Gläubigen für eine bessere Welt ist ein Ich-überschreitender politischer Akt. Religion ist ein Mensch und Welt, ja die gesamte Schöpfung umgreifendes Koordinatensystem, durch das der Gläubige sieht, denkt, fühlt, handelt und leidet.10
Betrachten wir aus islamischer Perspektive, was hier geschieht: In der Anschauung der Welt entdeckt der Mensch unter der Oberfläche allen Seins eine Macht, die er Gott nennt. Hierdurch findet der Mensch sein Selbst: „Ich bin, weil Du bist, und weil Du bist, bin ich.“ Durch diese Erkenntnis erhebt sich der Mensch, so der Qur?anexeget Abdullah Yusuf Ali (gest. 1953) über ein gänzlich materialistisches Verständnis seines Selbst und der Welt, in der er lebt.11 Die englische Redewendung Seeing is Believing wird hier umgedreht Believing is Seeing, denn der Gläubige sieht nun in allem, was ihn umgibt, einen Fingerzeig auf Gott.12 Oder anders ausgedrückt: Gott spricht durch die Schöpfung in Zeichensprache zum Menschen.
Im Gläubigen entsteht nun eine Kraft, die Liebe zu Gott (?išq-u ?llah), die ein Streben nach Ihm auslöst. Diese Kraft wächst und wächst und ergießt sich schließlich in ihrer Überfülle als Nächstenliebe auf die Umgebung des Gläubigen, der auf diese Weise Gottes Werk ehrt – die erotisch-männliche Komponente dieses Bildes ist unübersehbar. Die Schöpfung ist gebettet in einen Ozean der Nächstenliebe – ein erotischweibliches Bild. Diese Kraft soll im weiteren Verlauf auch relationale vereinigende Kraft genannt werden, da sie in Relation zur Gottesliebe steht und die gesamte Schöpfung miteinander verbindet. Durch die Liebe zu Gott findet der Mensch sein Lebensvertrauen und richtet sich auf, zugleich wird er aber auch geerdet, da er sich in der Erkenntnis seiner eigenen Grenzen Gott in Liebe unterwirft: Durch die Liebe zu Ihm und davon abgeleitet zu Seiner Schöpfung wird das soeben erkannte eigene Selbst zu einem selbstlosen Selbst, das sich Gott hingibt, Seine Schöpfung ehrt und sich dadurch zugleich findet.
Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, bei Religion geht es nicht ausschließlich darum, ein ethisch handelnder Mensch zu werden. Dies kann auch ohne Religion erreicht werden. So heißt es auch im Prophetenwort:
Von Abu Huraira – Gottes Wohlgefallen auf ihm –, dass der Gesandte Gottes – Gottes Segen und Frieden auf...