E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Murray Wahnsinn der Massen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96092-690-0
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-96092-690-0
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Douglas Murray ist Mit-Herausgeber des »Spectator« und schreibt regelmäßig für eine Reihe weiterer Publikationen wie die »Sunday Times«, »Standpoint«, »The Guardian« und das »Wall Street Journal«. Er besuchte das Eton College in Eton (Berkshire) und das Magdalen College an der Universität von Oxford. Murray wurde mit dem Charles-Douglas-Home-Gedenkpreis für Journalismus ausgezeichnet und war als Gastredner bereits zu Gast im Britischen sowie Europäischen Parlament und im Weißen Haus. Sein 2017 erschienenes Buch »Der Selbstmord-Europas« führte die Sunday-Times-Bestsellerliste an und war ein internationaler Verkaufserfolg mit starkem Medienecho.
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VORWORT
Wir befinden uns inmitten einer großen Verwirrung der Massen. Privat wie öffentlich, online wie offline verhalten sich Menschen zunehmend irrational, emotional, herdenartig und schlicht unangenehm. Die Nachrichten berichten immer wieder von den Folgen eines solchen Verhaltens. Erstaunlicherweise sehen wir zwar die Symptome, nicht aber die Ursachen.
Es kursieren verschiedene Erklärungen dieses Phänomens, die allesamt den Schluss nahelegen, dass dieses Chaos maßgeblich durch den Ausgang einer Präsidentschaftswahl (in den Vereinigten Staaten) oder einer Volksabstimmung (im Vereinigten Königreich) verursacht sei. Doch keine dieser Erklärungen erfasst das eigentliche Problem. Hinter diesen alltäglichen Ereignissen stecken größere Bewegungen und weitreichendere Geschehnisse. Es ist an der Zeit, sich genauer anzusehen, weshalb zurzeit einiges schiefläuft.
Auch die Ursache dieses Zustandes wird nur selten erkannt. Das liegt an der einfachen Tatsache, dass in einem Zeitraum von knapp drei Jahrzehnten alle unsere großen Narrative in sich zusammengefallen sind. Eines nach dem anderen wurde angefochten, es zu verteidigen wurde unpopulär oder unmöglich, es aufrechtzuerhalten. Seit dem 19. Jahrhundert genügten uns religiöse Erklärungen unserer Existenz nicht mehr, und im 20. Jahrhundert ereilten auch die weltlichen Hoffnungen, die die politischen Ideologien angeboten hatten, dieses Schicksal. Das ausgehende 20. Jahrhundert sah den Beginn der Postmoderne, eine Epoche, die sich selbst definiert und definiert wird durch eine große Skepsis gegenüber allen großen Erzählungen.1 Doch wie bereits Schulkinder lernen, verabscheut die Natur das Vakuum, und im Vakuum der Postmoderne begannen sich neue Ideen herauszukristallisieren, mit der Absicht, Erklärungen und Deutungen ganz eigener Art anzubieten.
Es war unvermeidlich, die entstandene Leere erneut zu füllen. Die Menschen der wohlhabenden westlichen Demokratien unserer Zeit konnten unmöglich die ersten in der Geschichte der Menschheit sein, die keinerlei Erklärung dafür fänden, was wir hier tun, und keine Erzählung hätten, die ihrem Leben Sinn verleiht. Was immer den großen Erzählungen der Vergangenheit auch gefehlt hat, so gaben sie doch dem Leben eine Bedeutung. Die Frage, was genau wir eigentlich mit unserem Leben anfangen sollen – außer Reichtümer anzuhäufen, wann immer es geht, und jedem erdenklichen Vergnügen nachzugehen, das sich uns bietet –, musste irgendwie beantwortet werden.
Seit ein paar Jahren zeichnet sich ab, dass die Antwort lauten könnte, sich an neuen Schlachten und immer wilderen Aktionen zu beteiligen und immer abseitigere Forderungen zu stellen. Sinn und Bedeutung scheinen darin zu liegen, einen Dauerkrieg gegen jeden zu führen, der auf der falschen Seite zu stehen scheint, obwohl die einer Auseinandersetzung zugrunde liegende Frage möglicherweise nur neu gedeutet und die Antwort darauf nur neu formuliert wurde. Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich diese Entwicklung vollzog, lässt sich nicht nur damit erklären, dass eine Handvoll Unternehmen aus dem Silicon Valley (vornehmlich Google, Twitter und Facebook) in der Lage sind zu steuern, was ein Großteil der Menschen auf dieser Welt weiß, denkt und äußert, sondern auch mit ihrem Geschäftsmodell, das – so wurde es einmal trefflich formuliert – darauf beruht, »Kunden zu finden, die bereit sind, Geld dafür zu zahlen, dass sie das Verhalten Dritter beeinflussen können«.2 Erschwerend kommt hinzu, dass die modernen Technologien so rasend schnell sind, dass wir kaum noch mit ihnen Schritt halten können. Dennoch werden diese Kriege nicht grundlos geführt. Sie alle weisen in eine bestimmte Richtung. Und diese Richtung verfolgt ein ungeheures Ziel. Ziel ist es – manchen Menschen dürfte es bewusst sein, anderen dagegen nicht –, eine neue Metaphysik in unserer Gesellschaft zu verankern: eine neue Religion, wenn Sie so wollen.
Obwohl die Voraussetzungen dafür bereits seit mehreren Jahrzehnten vorhanden waren, ist es erst seit der Finanzkrise von 2008 so, dass Ideen, mit denen man sich bislang bestenfalls im hintersten Winkel der akademischen Welt befasste, sich mit einem Mal im Mainstream verbreiteten. Der Reiz dieser neuen Werte liegt auf der Hand. Weshalb eine Generation, der es nicht gelingt, nennenswert Kapital zu bilden, eine Liebe für den Kapitalismus haben sollte, ist nicht ersichtlich. Andererseits ist es nicht allzu schwer nachzuvollziehen, weshalb eine Generation, die überzeugt davon ist, es niemals zu einem Eigenheim zu bringen, sich von einer ideologischen Weltsicht angezogen fühlt, die ihr verspricht, nicht nur der Ungerechtigkeit in ihrem eigenen Leben, sondern jeglicher Ungerechtigkeit auf Erden ein Ende zu bereiten. Die Welt durch eine Brille »sozialer Gerechtigkeit«, »Identitätspolitik« und »Intersektionalität« zu betrachten, mit dem Ziel einer neuen Ideologie, dürfte die wohl kühnste und umfassendste Bewegung seit dem Ende des Kalten Krieges sein.
Bis zum heutigen Tag hat die »soziale Gerechtigkeit« das Rennen gewonnen, denn das klingt nicht nur gut, es ist es auch, zumindest in einigen Ausführungen. Allein schon der Begriff! Völlig unmöglich, sich dagegenzustellen! Wie, Sie sind gegen soziale Gerechtigkeit? Und was wollen Sie stattdessen? Am Ende soziale Ungerechtigkeit? »Identitätspolitik« geht dort vonstatten, wo soziale Gerechtigkeit ihre Gremien und Ausschüsse findet. Mit ihrer Hilfe wird die Gesellschaft je nach Geschlechtsidentität, ethnischer Zugehörigkeit, sexuellen Vorlieben und dergleichen mehr in unterschiedliche Interessengruppen eingeteilt. Dabei gilt die Annahme, dass solche Merkmale die wichtigsten oder einzig relevanten Attribute der jeweiligen Gruppe sind und ihnen ein paar Pluspunkte verschaffen. So kursiert zum Beispiel die Theorie (wie es der amerikanische Schriftsteller Coleman Hughes ausdrückte), dass die Tatsache, schwarz, weiblich oder homosexuell zu sein, mit einem »höheren moralischen Wissen« einhergeht.3 Das dürfte auch der Grund sein, weshalb diese Menschen ihre Fragen oder Aussagen in der Regel mit »Ich als …« beginnen. Erschwerend kommt hinzu, dass jemand – ganz egal, ob er oder sie noch lebt oder bereits verstorben ist – auf der richtigen Seite stehen muss. Das erklärt die Forderungen, die Denkmäler für bestimmte historische Persönlichkeiten zu entfernen, sofern davon ausgegangen wird, auf der falschen Seite gestanden zu haben. Und aus diesem Grund muss die Geschichte für alle, die auf der sicheren Seite stehen wollen, neu geschrieben werden. Das erklärt, warum es für einen Senator von der Sinn Féin völlig normal ist zu behaupten, dass der Grund für die Hungerstreiks der inhaftierten IRA-Mitglieder im Jahr 1981 ihre Forderung nach mehr Rechten für Homosexuelle war.4 Identitätspolitik findet dort statt, wo Minderheiten ermutigt werden, sich gleichzeitig zu atomisieren, zu organisieren und zu erklären.
Das Konzept der »Intersektionalität« ist der Teil dieser Dreifaltigkeit, der am wenigsten ansprechend klingt. Dabei handelt es sich um nichts anderes als die Aufforderung, den Rest seines Lebens damit zu verbringen, Ansprüche aufgrund der eigenen Identität und der damit verbundenen Verletzlichkeit, aber auch der von anderen herauszuarbeiten und diese so zu strukturieren, dass sie zu dem System der Gerechtigkeit (zu welchem auch immer) passen, das sich aus der von uns entdeckten, stets im Wandel begriffenen Hierarchie ergibt. Doch dieses System ist nicht nur nicht umzusetzen, sondern Irrsinn, da unmögliche Forderungen gestellt werden und Ziele erreicht werden sollen, die schlicht unerreichbar sind. Die Intersektionalität hat mittlerweile den engen Bereich der sozialwissenschaftlichen Fachbereiche, in denen sie ihren Ursprung hat, hinter sich gelassen. Inzwischen wird sie von einer ganzen Generation junger Menschen ernst genommen. Sie wurde – wie wir noch sehen werden – mithilfe des Arbeitsrechts (insbesondere durch die »Verpflichtung zur Vielfalt«) auf die Fahnen sämtlicher bedeutender Unternehmen und Behörden geschrieben.
Um uns dazu zu bringen, die neuen Annahmen zu schlucken, bedurfte es neuer Heuristiken. Die Geschwindigkeit, mit der sie zum Mainstream wurden, ist atemberaubend. Wie der Mathematiker und Autor Eric Weinstein festgestellt hat (und die Suche über Google Books bestätigt), haben Suchbegriffe wie »LGBTQ« [Anm. d. Red.: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer – Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transgender, Queer], »weiße Privilegien« und »Transphobie« eine beeindruckende Entwicklung genommen – von nicht vorhanden bis zu allgemein geläufig. Weiter heißt es in seinem Artikel über den resultierenden Graphen, der diese Tendenz veranschaulicht, dass das »erwachte Bewusstsein«, das die Millennials und andere dafür nutzen, »Jahrtausende der Unterdrückung und/oder Zivilisation in der Luft zu zerreißen, … sich innerhalb der letzten 20 Minuten herausbildete.« Es spreche zwar...