E-Book, Deutsch, 277 Seiten
Mumm / Plag / Fehm Auftrittsängste bei Musikerinnen und Musikern
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8409-2988-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungsleitfaden
E-Book, Deutsch, 277 Seiten
ISBN: 978-3-8409-2988-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Zahlreiche Musikerinnen und Musiker leiden unter Auftrittsangst. Solche Ängste gehen über bloßes Lampenfieber hinaus und können so stark ausgeprägt sein, dass im schlimmsten Fall eine Musikkarriere abgebrochen werden muss oder gar nicht erst angestrebt wird. Auch in schwächeren Ausprägungen verursachen Auftrittsängste deutliches Leid. Dieses Buch liefert einen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Leitfaden zur Behandlung von Auftrittsängsten bei Musikerinnen und Musikern.
Der Band fasst zunächst den aktuellen Kenntnisstand zu Erscheinungsformen, Erklärungs- und Behandlungsansätzen von Auftrittsängsten zusammen. Anschließend werden die einzelnen Schritte der Behandlung von Auftrittsängsten detailliert beschrieben. Um den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Auftrittsängsten gerecht zu werden, wird hierfür ein modulorientiertes Vorgehen gewählt, das es erlaubt, den Behandlungsablauf bestmöglich zu individualisieren. Anwendungsorientiert wird auf Diagnostik, Psychoedukation, Konfrontationsverfahren, Verhaltensexperimente, kognitive Verfahren, Entspannungstechniken und Rückfallprophylaxe eingegangen. Zudem werden auch konkrete Schritte zur Auftrittsplanung und Kurzinterventionen für besonders schwierige Situationen dargestellt. Zahlreiche Beispiele, Therapiedialoge und Arbeitsblätter veranschaulichen das Vorgehen und erleichtern die Umsetzung der einzelnen Therapieschritte in der klinischen Praxis.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten, Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Musikermedizinische Ambulanzen, Musiker, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Verhaltenstherapie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Psychopathologie
Weitere Infos & Material
1;Inhaltsverzeichnis, Geleitwort, Vorwort;7
2;1Das Störungsbild der Auftrittsangst;19
3;2Entstehung der Auftrittsangst;26
4;3Wirksamkeit verschiedener Therapieformen;35
5;4Somatische Musikererkrankungen;39
6;5Körperorientierte Verfahren zur Behandlung der Auftrittsangst;48
7;6Diagnostik und Therapieplanung;59
8;7Psychoedukation;70
9;8Expositionsverfahren und Verhaltensexperimente;97
10;9Kognitive Techniken;115
11;10Entspannungstechniken;129
12;11 Konkrete Vorbereitung auf eine Auftrittssituation;136
13;12Themen zum Abschluss der Therapie;142
14;13 Kurzinterventionen bei spezifischen, besonders belastenden Auftrittssituationen;150
15;14Umgang mit komorbiden psychischen Störungen;161
16;15Übertragung auf andere Auftrittsformate;168
17;Literatur;172
18;Übersicht u?ber die Dateien auf der CD-ROM;227
19;Die Autorinnen und Autoren des Bandes;229
20;Sachregister;231
21;CD-ROM-Inhalte: Arbeitsblätter;234
|17|1 Das Störungsbild der Auftrittsangst
Überblick In diesem Kapitel wird die Auftrittsangst hinsichtlich ihrer Symptomkonstellation sowie ihrer Auslösebedingungen genauer charakterisiert und ihre nosologische Einordnung innerhalb der aktuellen Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen erläutert. Darüber hinaus erfolgt ein Überblick zu epidemiologischen Daten, wie der Erkrankungshäufigkeit oder der Alters- und Geschlechterverteilung. Abschließend soll auch die Bedeutung transkultureller Aspekte verdeutlicht werden, die sowohl für die Entstehung als auch für die Phänomenologie der Auftrittsangst bedeutsam sein können. 1.1 Symptome der Auftrittsangst
Die Auftrittsangst zeichnet sich auf symptomatischer Ebene durch ein sog. „psychovegetatives Syndrom“ aus, bei dem körperliche und psychische Symptome in einer charakteristischen Konstellation zusammen auftreten. Der physische Anteil der Auftrittsangst ist überwiegend durch die Aktivierung des vegetativen, insbesondere des sympathischen Nervensystems bedingt und wird unmittelbar durch dessen Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin an den entsprechenden „Effektororganen“ (z.?B. Herz, Blutgefäße, Schweißdrüsen, Skelettmuskulatur) ausgelöst. Entsprechend stellen Herzrasen, Schwitzen, Übelkeit, Zittern, Blutdruckanstieg, Harn- oder Stuhldrang, Luftnot und Schwindel typische Symptome dar. Die psychische Komponente beinhaltet regelhaft die Angst vor Kontrollverlust über die Situation und kann von (ausgeprägtem) Derealisations- oder Depersonalisationserleben gekennzeichnet sein. Darüber hinaus befürchten Betroffene insbesondere in der Frühphase der Erkrankung häufig, aufgrund der bzw. durch die Symptomentwicklung „verrückt zu werden“ oder körperlichen Schaden zu nehmen. Phänomenologisch ähnelt die Auftrittsangst damit auf dieser Ebene einer nicht pathologischen Angst oder auch Angstreaktionen im Rahmen anderer Angst|18|störungen wie beispielsweise der Panikstörung oder (anderen) phobischen Erkrankungen. Entscheidend für die Einordnung als Auftrittsangst ist deshalb zunächst der umschriebene Auslöser der Symptomatik. Die Symptomatik tritt ausschließlich während oder in Erwartung („antizipatorische Angst“) eines Auftritts auf – und damit in einem Kontext, der per se nicht (vital) bedrohlich ist. Darüber hinaus übersteigt die Angstreaktion eine erwartbare, ggf. bereits zuvor bekannte auftrittsassoziierte Anspannung (im Sinne eines „Lampenfiebers“) und führt zu einer deutlichen Belastung und Beeinträchtigung der Betroffenen. Grundbefürchtungen, die als kognitive Auslösebedingungen der Auftrittsangst fungieren, können vielgestaltig sein. Von vielen Patienten wird die Sorge geäußert, den eigenen Ansprüchen oder den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden und sich deshalb zu blamieren. Damit verbunden sind häufig Ängste hinsichtlich sozialer Implikationen eines „persönlichen Versagens“, wie beispielsweise ein Arbeitsplatzverlust, der Verlust von Engagements oder seinen guten Ruf innerhalb der „Community“ zu verlieren. Hierdurch treten viele Patienten in einen „Teufelskreis“ ein, in dem zwischen den kognitiven und den psychophysiologischen Komponenten des Beschwerdebildes eine sich beschleunigende Wechselwirkung entsteht. Ein maßgeblicher Teil der Beeinträchtigung resultiert in Analogie zu anderen Angsterkrankungen aus einem spezifischen Sicherheits- oder Vermeidungsverhalten. Um eine Symptomkontrolle herzustellen oder befürchtete Konsequenzen zu verhindern, vermeiden viele der unter einer Auftrittsangst leidenden Musiker im Verlauf der Erkrankung Auftritte vollständig oder sind nur noch unter bestimmten Vorrausetzungen (z.?B. präventive Einnahme eines Beruhigungsmittels, Positionierung an einer bestimmten Stelle im Orchester, begrenzte Anzahl an Zuhörern) in der Lage, „die Bühne zu betreten“. Sicherheits- und Vermeidungsverhalten ist bei allen Angsterkrankungen maßgeblich für die Verkleinerung des Aktionsradius verantwortlich und nimmt in der Verminderung des psychosozialen Funktionsniveaus jeweils eine zentrale Rolle ein. Im direkten Vergleich sind die hieraus erwachsenen Implikationen für Musiker mit Auftrittsangst häufig jedoch besonders sozial relevant. Gerade bei Berufsmusikern kann aus einer stark ausgeprägten bzw. sich rasch progredient entwickelnden Symptomatik eine unmittelbare Gefährdung der Arbeitsfähigkeit resultieren, und für Musikstudenten kann dadurch eine Perspektive, die häufig durch eine langjährige, stringent musikbezogene Ausrichtung der Lebensgestaltung entwickelt wurde, in Frage gestellt werden. Entsprechend kommt der Korrektur des Vermeidungs- oder Sicherheitsverhaltens (vgl. auch Kapitel 7.7.5.2) in der Therapie eine besondere Bedeutung zu. |19|1.2 Klassifikation der Auftrittsangst
Die für die klinische Diagnostik und Forschung relevantesten Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen stellen gegenwärtig die 10. bzw. 5. Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (American Psychiatric Association, APA) dar (WHO/Dilling et al., 2016; APA/Falkai et al., 2018). Beide Systeme ähneln sich im Bereich der Angsterkrankungen hinsichtlich ihrer Kriterien stark, subsummieren jedoch insbesondere die Auftrittsangst unter unterschiedliche Angsterkrankungen. Obwohl der Aspekt der (sozialen) Bewertung durch Dritte in der Entstehung und Aufrechterhaltung des Krankheitsbildes eine zentrale Rolle spielt, stellt die Auftrittsangst gemäß den Kriterien der ICD (bisher) eine spezifische Phobie vom „situativen Typ“ dar. Entscheidend für eine entsprechende Zuordnung ist der Auftritt der Symptomatik, die hinsichtlich ihres Kontextes und ihres exklusiven Triggers scharf umschriebenen ist. Die soziale Phobie gemäß ICD-10 ist zwar zentral durch eine „Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen“ gekennzeichnet; die daraus resultierende Vermeidung soll jedoch mehrere soziale Situationen umfassen und nicht auf ausschließlich einen einzelnen Trigger beschränkt sein. Das DSM-5 hingegen definiert die Auftrittsangst explizit als einen Subtyp der sozialen Angststörung, welcher „nur in Leistungssituationen“ auftritt und deshalb auch als „performance-only subtype“ bezeichnet wird (vgl. auch Tab. 1). Hierdurch wird eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung deutlich, die bisher entweder der Monokausalität (ICD-10) oder dem Aspekt der sozialen Bewertung (DSM-5) in der Symptomentstehung Rechnung trägt. Die ICD-11, die im Mai 2019 von der WHO final verabschiedet wurde und voraussichtlich 2022 in Kraft treten wird, nähert sich jedoch sowohl nomenklatorisch (der Begriff „soziale Phobie“ wird aufgegeben) als auch inhaltlich dem Konstrukt der sozialen Angststörung des DSM-5 an. Zwar wird ein leistungssituativer Subtyp auch hier nicht definiert; gemäß ICD-11 kann eine Angstreaktion jedoch dann einer sozialen Angststörung zugeschrieben werden, wenn sie regelmäßig im Zusammenhang mit „einer oder mehreren sozialen Situatione(n)“ auftritt (WHO, 2019). Entsprechend kann die Auftrittsangst zukünftig in beiden Systemen als eine Variante einer sozialen Angststörung eingeordnet und so den kognitiven Auslösebedingungen der Symptomatik eine stärkere Gewichtung beigemessen werden. ... ICD-10a: Spezifische Phobie (F40.2) DSM-5b: Soziale Angststörung (F40.10)