E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Muir KURZ NACH MITTERNACHT
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7487-7416-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Krimi-Klassiker!
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7487-7416-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sie seufzte auf und drängte ihre Tränen zurück. Sie hatte sich so viel von diesem Tag an Bord versprochen - und nun stand sie mitten in einer dieser Nervenkrisen, wie sie sie von früher her bei ihm kannte, nur war sie dieses Mal schlimmer als je zuvor... Sie sah ganz klar. Harold konnte gegen seine Nerven nichts machen, auch nichts gegen seine Abhängigkeit von ihr. Beides war die Folge jener entsetzlichen Schiffsexplosion, die er in Angstträumen immer von neuem erlebte. Erschöpft und vom Schreck wie gelähmt erwachte er dann und brauchte ihre Nähe, um sich zu erholen. Aber oft hatte sie auch das Gefühl, dass er sich nicht genügend Mühe gab, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Auch jetzt hatte sie aus seinem ziemlich zusammenhanglosen Bericht bereits herausgehört, dass Kapitän-Leutnant Shillard nicht eigentlich ungerecht gewesen war... Der Roman Kurz nach Mitternacht des schottischen Schriftstellers und Journalisten Thomas Muir (* 02. Januar 1918; ? 8. Oktober 1982) erschien erstmals im Jahr 1948; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1961. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Erstes Kapitel
»Der Frieden hat auch seine Schattenseiten - und das wäre eine von ihnen«, murmelte Leutnant Crammond nachdenklich, während er an Deck des U-Bootjägers ein paar Schritte auf und ab ging. »Die alte Nighthawk ist fertig - im Brackwasser an einer Boje vertäut, um dort zu verrosten. Der Friedhof der Kriegsmarine!« Es klang nicht gerade sehr freundlich, einen der lieblichsten Flüsse im Südwesten Englands als Brackwasser zu bezeichnen. Dort aber lag nun eine lange Reihe überzähliger Zerstörer und U-Bootjäger in Paaren mitten im Fluss an Bojen vor Anker. Schon lange hatte man die meisten dieser Schiffe abgeschrieben; sie sahen mit ihren Schornsteinüberzügen und in ihrem dunkelgrauen Schutzanstrich denn auch vernachlässigt und verödet aus. Aber die Nighthawk, auf der Leutnant Roger Crammond als Navigationsoffizier diente, war erst vor einer Woche eingelaufen und hatte noch nicht jenen Zustand erreicht, in dem sie endgültig der Schiffsreserve, Klasse B, zugeteilt werden konnte. »Schon gut, alter Lotse, werde jetzt nur nicht sentimental«, grinste der Assistenzarzt Parry. »Stell dir nur einmal vor, dass diese verdammten Kästen mit unserer Einkommensteuer in Betrieb gehalten wurden!« »Wenn einer bloß Arzt ist, versteht er das auch nicht«, erwiderte Crammond anzüglich und steckte sich die Pfeife an. »Ich bin nun über zwei Jahre auf dem alten Kahn, und da kannst du mir einen stillen Seufzer nicht verübeln!« »Unser Doktor hat ganz recht«, warf ein jüngerer Leutnant ein. Er hatte ein ernstes Gesicht und trug einen schwarzen Spitzbart. »Wenn man dich hört, glaubt man ja .tatsächlich, dir tut es leid, dass der Krieg zu Ende ist.« Crammond zog die Augenbrauen hoch. In sein hageres, kluges Gesicht trat ein Ausdruck der Trauer. »Das ist doch eine ziemlich verschrobene Vorstellung, Hinkley«, entgegnete er. »Ich bin genauso froh wie du, dass die Schießerei ihr Ende gefunden hat. Aber betrachtet die Sache doch einmal objektiv. Nehmen wir als Beispiel dieses Schiff: eine technisch hochwertige Arbeit, die ihre halbe Million Pfund gekostet hat. An Bord befindet sich eine Ausrüstung, die sich sehen lassen kann: Peilanlage, Radar, Funk - und dazu kommen noch Offiziere und Mannschaften, die eine gründliche technisch-wissenschaftliche Ausbildung erhalten haben. Das Ganze war auf ein einziges Ziel gerichtet: die Zerstörung von Unterseebooten und das sichere und pünktliche Eintreffen der Geleitzüge. Und nun ist das alles vorbei. U-Boote und japanische Todesflieger gehören bereits so gut wie der Geschichte des Mittelalters an, und deshalb sind wir überzählig. Wir gehören zum alten Eisen. Tatsächlich ist es doch so: die Atombombe hat die ganze Marine überflüssig und nutzlos gemacht!« »Eine beachtliche rednerische Leistung so bald nach dem Frühstück!« räumte Parry ein. »Aber lass das um Gottes willen den Alten nicht hören, oder er serviert dir eine Atomexplosion, die auch nicht von schlechten Eltern ist.« »Ja, ich weiß, die Marine ist sein Beruf, sein Leben und sein Glaube«, stimmte Crammond ihm zu. »Er hat mir neulich erst eine Abreibung verpasst, weil ich zu äußern gewagt hatte, es sei bedauerlich, dass wir nicht das eine oder andere von den Amerikanern übernähmen!« »Das war aber auch eine Herausforderung! Bei dem Alten heißt es doch nur: Erst die Marine, und was die Marine tut, ist wohlgetan! Was er wohl jetzt anfangen wird?« »Der wetzt tüchtig, um noch befördert zu werden. Würde mich gar nicht wundern, wenn er es noch weit bringt. Schließlich hat er ja auch allerhand Auszeichnungen aufzuweisen. Fünf U-Boote hat er mit Sicherheit erledigt, und weitere zwei gelten als wahrscheinlich.« »Dabei aber war sehr viel Glück im Spiel!«, warf Leutnant Rankine, der Geschützoffizier, der gerade zu ihnen getreten war, ein. »Ein ganzer Haufen weit besserer Männer hat niemals Anerkennung gefunden. Er versteht es eben, sich immer vorzudrängen, und kennt die richtigen Leute - säuft Gin mit dem Sachbearbeiter und spielt Golf mit dem Admiral. Anders kommt man ja in der Marine auch nicht vorwärts.« »Ein junger Mensch von fünfundzwanzig Jahren, der sich nichts mehr Vormacht. Vollkommen zynisch!«, murmelte Crammond. »Davon mag ja vieles zutreffen, aber Kapitän-Leutnant Shillard hat seine Auszeichnungen bestimmt verdient. Außerdem ist er durch und durch Marineoffizier. Die Mannschaften verfluchen ihn zwar, denn er ist natürlich ein scharfer Hund. Aber im Kampf gehen sie mit ihm durch dick und dünn - und du hast das nicht anders gemacht...« »Das ist im Krieg ja ganz schön und gut«, sagte Hinkley und strich sich den Bart, »aber jetzt kommt er damit nicht mehr sehr weit. Mich wundert es überhaupt, dass man ihn nicht schon längst in dunkler Nacht über Bord gehievt hat!« »Sehr richtig«, stimmte Rankine ihm bei, zuckte mit den Schultern und fügte noch hinzu: »Es ist aber völlig sinnlos, sich deswegen noch zu erhitzen. Je früher wir unseren Filzhut wieder aufsetzen können, desto besser. Die Friedensmarine hängt mir zum Hals raus und... Nanu, was ist denn unserem Cruddle über die Leber gelaufen?« Ein junger Leutnant war plötzlich aus der Schiebetür der Kapitänskajüte getreten und kam nach einem raschen Blick in die Runde auf sie zu. Die Augen in seinem blassen Gesicht hatten einen unnatürlichen Glanz. Eine Strähne seines dichten Haares war ihm über die Stirn gefallen, was ihm ein seltsam mädchenhaftes Aussehen verlieh. »Wenn er sich nur einmal sein Haar schneiden lassen wollte«, sagte Crammond. »Kein Wunder, dass er dem Alten zuweilen auf die Nerven geht... Na, Cruddle, was ist denn los?« »Allerhand!« Leutnant Cruddle atmete heftig. Er warf die Haarsträhne mit einer ungeduldigen Bewegung zurück und suchte mit zitternden Fingern nach Zigaretten. Plötzlich brach es aus ihm hervor: »Dieser Hund! Dieser dreckige Hund! Habe schon immer gewusst, dass er mich auf dein Kieker hatte, aber nun – nun reicht er also einen ungünstigen Bericht über mich ein! Mein Gott, das zahle ich ihm noch einmal heim, und wenn ich selbst dabei draufgehe!« Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen. Dann aber rief Crammond aufmunternd: »Nun lass dich doch bloß von einem ungünstigen Bericht nicht so beeindrucken! Eine solche Akte S 206 - Vertraulicher Bericht über Offiziere - wird bei der Admiralität nur abgelegt und vergessen. Hat gar nichts zu bedeuten - höchstens kommt noch eine Beförderung dabei heraus.« »Das ist es ja gerade!«, stieß Criddle hervor und schnellte seine nur halb gerauchte Zigarette über Bord. »Er weiß ganz genau, dass ich der Marine lieber heute als morgen den Rücken kehre, und so hat er mich für den Dienst in Übersee empfohlen - zur Ausbildung und aus disziplinarischen Gründen, wie er sich ausdrückt. Aber ich gehe nicht ins Ausland! Eher treffen wir uns vorher in der Hölle!« »Es gibt ja wirklich Schlimmeres«, warf Crammond ein. »Zwei Jahre im Osten - etwas Schöneres kann man sich ja kaum vorstellen. Was verlangst du denn noch? Tausende von anderen würden gern an deiner Stelle sein!« »Zwei Jahre!« Die Stimme des jungen Offiziers schrillte aufgebracht. In seinem Gesicht arbeitete es. »Ich bin verheiratet. Das ist doch etwas ganz anderes. Ich lasse meine Frau nicht wieder zwei Jahre allein - das halte ich einfach nicht mehr aus!« »Es ist erstaunlich, was der Mensch alles aushält, wenn es sein muss!«, erwiderte Crammond ungerührt. »Du hast leicht reden. Männer wie du, die keine Familie und keine Verantwortung für andere haben, die sollten gehen. Für die ist das richtig.« »Na ja, ich bin wahrscheinlich sowieso dabei! Ich habe mich freiwillig gemeldet.« »Das ist deine Sache. Aber es besteht doch absolut keine Notwendigkeit, mich zu schicken. Der Alte will mich nur schikanieren. Eben wollte ich ihn um Erlaubnis bitten, heute Abend meine Frau und meinen Jungen an Bord bringen zu dürfen. Schön, sagte er, es würde ihm eine besondere Freude sein - aber dann ging es los: all meine Verfehlungen hat er mir aufgetischt. Hat mir seinen Bericht über mich gezeigt - alles rot unterstrichen -, und dann hat er mir noch verpasst, es sei alles nur zu meinem eigenen Besten! Überhebliches Luder - hat sich eins ins Fäustchen gelacht, weil ich ihm als Vorgesetzten nicht die Antwort geben konnte, die er verdiente. Spielte sich auf, als täte es ihm leid und als ginge es ihm eigentlich gegen den Strich. In dem Augenblick hätte ich ihn tatsächlich erwürgen können...« »Ich glaube, du siehst die Sache doch nicht ganz richtig«, versuchte Crammond ihn zu besänftigen. »Der Alte ist streng, gewiss, und er hat es nun einmal etwas stark auf Orden und dergleichen abgesehen, aber er ist kein Mensch, der einen persönlichen Groll kennt.« »Ach, Unsinn!«, entgegnete Cruddle. »Gegen mich hat er immer etwas gehabt. Das verstehst du nicht. Ich sage dir, er glaubt nun, mich erledigt zu haben, aber da irrt er sich gewaltig. Dieses Mal ist er zu weit gegangen.« Unvermittelt ließ Cruddle die anderen stehen, strich sich wie zuvor das Haar aus der Stirn und eilte das Deck entlang. »Scheint mir ziemlich durcheinander zu sein!«, meinte Crammond nach einer Weile. »Bei ihm sind es die Nerven. Ist er nicht einmal mit einem Schnellboot in die Luft gegangen?« »Ja.« Rankine nickte. »Vor der holländischen Küste auf eine Mine gelaufen. War der einzige überlebende... Bestimmt ist es für seine Frau auch nicht leicht, es mit ihm auszuhalten.« »Kannst du nicht etwas für ihn tun - ich meine, als Arzt?«, fragte Crammond, indem er sich an Parry wandte. »Kannst du ihn...