E-Book, Deutsch, 103 Seiten
Mürner Nieren im Kontext der Kulturgeschichte(n)
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-9095-6
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sozialer Umgang mit chronischer Krankheit, Dialyse, Organspende und Organtransplantation
E-Book, Deutsch, 103 Seiten
ISBN: 978-3-7799-9095-6
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Mürner, geb. 1948, Dr. phil., Autor und Behindertenpädagoge. Veröffentlichungen u.a.: »Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen« (2003); zusammen mit Volker Schönwiese herausgegeben: »Das Bildnis eines behinderten Mannes« (2006); mit Udo Sierck: »Krüppelzeitung« (2009); »Autobiografie und Behinderung« (2018); »Narrheit« (2022); »Verkannte Figuren« (2024).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Wenn die Nieren in Urlaub gehen
Dialyse, Organspende und Transplantation in erzählender Literatur
Nieren sind lebenswichtig. Wie unentbehrlich sind Erzählungen? Schriftstellerinnen und Schriftsteller, literaturwissenschaftlich und philosophisch Tätige begreifen sie als Urphänomen. Erzählende Literatur und Fantasie ermöglichen ein erweiterndes Verständnis, indem sie Stimmungen thematisieren. Erfahrungsberichte können ein Mittelding zwischen Erzählungen und den in Medizin und Psychologie bekannten Fallgeschichten mit Klassifizierungen der Befunde darstellen.
Erzählungen wirken in der öffentlichen Aufmerksamkeit oft attraktiver als medizinische Faktendarstellungen des menschlichen Körpers und seiner Organe. Das Herz wird in Buchtiteln von Romanen – der Langform von Erzählungen – viel häufiger genannt als in Fachbüchern. Nieren hingegen scheinen literarisch ohne Belang. Wird dieses Zwillingsorgan übergangen, weil es „tief“ im Körperinnern liegt und „still und leise“ funktioniert? Doch wenn die Nieren versagen, merkt man ihre existenzielle Bedeutung.
Ich habe zum Thema Essays von Michel de Montaigne aus dem Jahr 1588 und von Annie Freud von 2018 ausgewählt. Essayistische Abhandlungen verknüpfen persönliche, sachliche und literarische Formen. Sie bilden den Rahmen meiner spezifischen Nacherzählungen von vier Romanen bzw. Erfahrungsberichten, in denen Nieren und Nierentransplantationen eine Rolle spielen: von Vladimir Nabokov, 1947, Rocco Fortunato, 1999, Slavenka Drakulic, 2006 und Tabea Hertzog, 2019.
Abbildung 2:Harnorgane, aus Anna Fischer-Dückelmann: Die Frau als Hausärztin, Stuttgart 1911, S. 27.
Ich beginne aber mit einer Abbildung, sie stammt aus dem erstmals 1901 erschienenen, weitverbreiteten Buch mit dem Titel „Die Frau als Hausärztin“ von Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917). Die Illustration zeigt die „Harnorgane“, sie werden in der Legende nach Nummern in der Zeichnung aufgelistet. Fig. 16 hat eine ovale, leicht grau unterlegte Form. Sie gleicht einem länglichen Gesicht. Unter der Obhut des Zwerchfells, das die kurz geschnittene Frisur bildet, wirken die Nieren gewissermaßen wie traurig blickende Augen. Die bruchstückhaft angedeutete Bauchschlagader und Vene sind mit den Nieren verbunden und formen die Nase. Die Harnleiter gestalten die Nasolabialfalten zwischen Nase und Mund. Die Blase steht anstelle des Kinns oder scheint – als Mund gedeutet – fließend eine Geschichte zu schildern. Meine ausschmückende Beschreibung leiht sich einen erzählenden Tonfall, der für diejenigen, die die Abbildung nicht sehen, eine Veranschaulichung versucht.
Michel de Montaignes (1533–1592) Essay „Über die Erfahrung“43 ist ein Beispiel für die Veranschaulichung des Zusammenhangs von Erfahrung und Erzählung. Im dreizehnten und letzten der berühmten Essays des französischen Edelmanns findet sich gleich zu Beginn der Satz: „Wenn wir mit dem Denken nicht weiterkommen, behelfen wir uns mit der Erfahrung.“ Ein paar Seiten später notiert Montaigne: „Die Medizin ist der praktischen Erfahrung ureigenste Domäne, die ihr das theoretische Denken denn auch voll und ganz überlassen wird.“44
Montaigne gilt gewöhnlich als Medizinkritiker, er sagt, die Medizin verspreche viel, halte aber wenig. Er gehe selten zum Arzt, weil dieser ihn von oben herab mit „vorgefertigten Meinungen“ belästige. Montaigne lehnt es ab, „Übel mit Übel zu kurieren“, das heißt: „Mit einer Nierenkolik und gleichzeitig dem Verbot geschlagen zu sein, sich dem Genuss von Austern hinzugeben – das sind zwei Übel für eins. Die Krankheit drangsaliert uns auf der einen Seite, die Diät auf der andern.“ Montaigne sagt, die Ärzte sollten ihre Verordnung auch mit dem Verlangen der Kranken koordinieren. Könnte nun dies nicht auch als das, was man heute Adhärenz nennt, gedeutet werden? Seine Argumentation ist weniger pauschal als eher persönlich. Er schreibt: „Das Nierenleiden ist oft nicht weniger lebenskräftig als der Mensch; man sieht Kranke, denen es von Kindheit an bis in ihr höchstes Alter die Treue hielt, und hätten sie es nicht selbst im Stich gelassen, wäre es bereit gewesen, ihnen weiter Gesellschaft zu leisten.“ Dann direkt auf sich bezogen: „Meine Nieren sind ein Menschenalter lang unverändert gesund geblieben, und es ist fast schon ein zweites her, dass sich ihr Zustand zu ändern begann. Die Übel dauern ihre Zeit wie die Wohltaten. […] Die Nierenkoliken haben den Vorzug, dass sie hernach wie weggeblasen sind. […] Und hier noch eine besondre Gunstbezeigung meiner Krankheit: Sie treibt ihr Spiel nahezu für sich und lässt mich das meine treiben (und wenn ich es einmal nicht tue, dann nur aus Mangel an Mut). Während der heftigsten Koliken habe ich schon zehn Stunden im Sattel durchgehalten. Man ertrage das Leiden einfach, eine andre Verhaltensregel braucht man nicht!“45 Das klingt heroisch, doch ließe sich nicht entscheiden, ob Montaigne sich mit seiner originellen Vorstellungskraft und Ironie über seine Krankheit hinwegtäusche.46
Ein Essay, der von Erfahrungen handelt, wird selbst auf Erfahrungen zurückgreifen, das heißt, das Ich stimmt mit dem Autor überein und ist kein literarischer Ich-Erzähler, auch wenn der Essay in der Regel erzählende Elemente mit beschreibenden Fakten, Darstellungen und belegten Zitaten und Erzählungen anderer mischt, wie dies Montaigne als Erfinder des Essays demonstriert. Mit der Gattungsbezeichnung „Roman“ im Untertitel eines Buches gibt man in der Regel zu verstehen, dass der Autor nicht vorbehaltlos mit dem Ich-Erzähler identifiziert werden sollte.
In Vladimir Nabokovs (1899–1977) Roman „Das Bastardzeichen“47 tritt die Hauptfigur, der Philosophieprofessor Adam Krug, sozusagen nur im 1. Kapitel als Ich-Erzähler auf. Er schildert seine Eindrücke beim Blick aus dem Fenster eines Krankenzimmers. Seine Frau liegt „im Anschluss an eine Nierenoperation“ im Sterben. Ansonsten wird von Krug in auktorialer Weise berichtet, bis auf eine Stelle, in der offenbar der Autor ihn seine „Lieblingsfigur“ nennt. Krug ist ein anerkannter Philosoph, der von seiner Universität aufgefordert wird, zu ihren Gunsten den „Boten“ zu spielen beim mächtigen Staatspräsidenten, weil Krug einst dessen Schulkamerad gewesen war. Den eigenwilligen Krug interessiert das nicht, er amüsiert sich nur darüber, welche Demütigungen er der „Kröte“ – so der Spitzname des „jämmerlichen Tyrannen“ – in der Schulzeit zugefügt hat. Aber auch der Diktator namens Paduk möchte sich mit der Berühmtheit Krugs schmücken und lädt ihn zur Audienz. Auch hier erklärt Krug sein Desinteresse. Die Geschichte nimmt einen unheilvollen Verlauf. Trotz Warnungen glaubt Krug, er sei „unverletzlich“, doch als das Regime sich auf die Verfolgung seines Sohnes David verlegt, wird es ernst. Es ist schon zu spät. David wird ermordet, Krug wahnsinnig und schließlich erschossen. Beruht der oft hintergründige Roman auf Erfahrungen Nabokovs? Er emigrierte 1919 aus St. Petersburg vor dem Kommunismus und 1937 aus Berlin vor dem Nationalsozialismus über Frankreich in die USA. Die letzten Jahre lebte er in der Schweiz, in Montreux am Genfersee, wo er 1977 starb.
Der Einwand ist unverkennbar, dass die Erwähnung einer Nierenoperation und die einmalige Phrase eines Folterknechts, dass ihm etwas an die Nieren geht, keine Thematisierung im Sinn der Eingangsfrage darstellt. Aber es gibt eine Stelle, deren Rätselhaftigkeit die literarische Bedeutung zum Ausdruck bringt. In einem 1963 von Nabokov seinem Roman hinzugefügten Vorwort (auf Deutsch im Anhang wiedergegeben) schreibt der Autor: „Die Handlung keimt in der hellen Brühe einer Regenpfütze.“ Die Pfütze taucht in mehreren Kapiteln in veränderter Gestalt auf, als quecksilbrig glänzender Fußstapfen, als schwarze Träne, als Tintenfleck und als „nierenförmige Lache“ aus Milch, die entstand, weil der Diktator beim Gespräch mit Krug einen Becher umstieß. Man hat bemerkt, dass diese zuletzt genannte reniforme weiße Pfütze die Hauptfigur schmerzhaft an die erfolglose Nierenoperation seiner Frau erinnere.48 Das gehört zur Freiheit der Interpretation der Lesenden, der Wortlaut Nabokovs bietet keine Anhaltspunkte dafür, die Textstellen liegen gut 150 Seiten auseinander. Allgemein ist am Schluss die kleine Pfütze nach...