Müntefering Vom Glück der Pferde
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-0694-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 367 Seiten
ISBN: 978-3-7325-0694-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Emilie hofft, dass sie ihre Tochter Clara wieder zu einem glücklichen Menschen machen kann, wenn sie dem Pferd Fellow hilft. Denn die Dreizehnjährige und das Tier sind seit einem schweren Schicksalsschlag Seelengefährten. Fellow ist traumatisiert, er hat das Vertrauen in die Menschen verloren und braucht Hilfe. Genau wie Clara. Daher macht sich eines Tages eine kleine Reisegruppe zu Fuß auf den Weg zu einem bekannten Pferdetrainer, der angeblich Pferdeseelen heilen kann. Und womöglich auch gebrochene Herzen ...
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Schon am nächsten Morgen waren Hanne und ich per Du. Clara verhielt sich im Umgang mit ihr und Sam vollkommen ungezwungen, wie ich erleichtert feststellte. Sie hatte Hanne am Abend ein wenig beäugt und war offenbar zu der Meinung gelangt, dass sie ebenso nett und vertrauenswürdig war wie Sam. Und sie stellte der fremden Frau völlig ungeniert Fragen zu ihrer Arbeit als Natural Horsewoman, als die sie in ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz und England herumreiste und Seminare gab. Nach dem Frühstück lernte Hanne Fellow kennen. Sie hielt offenbar ein wenig Zwiesprache mit ihm, denn seine Ohren spielten aufmerksam, während sie auf der Weide neben ihm stand. Cilli mochte Hanne offenbar besonders gern, denn sie lehnte ihre hellbraune Ponystirn mit dem hellen Schopf vertrauensvoll an Hannes Schulter und ließ sich von ihr den Mähnenkamm kraulen. »Was für ein Glück sie gehabt hat!«, rief Hanne zu uns herüber, die wir am Zaun standen und ihnen zusahen. »Dass ihr sie mitgenommen habt. So ein altes Schätzchen; sie hat ihr Gnadenbrot redlich verdient.« Claras Augen weiteten sich, und ich sah, dass sie widersprechen wollte, vielleicht von unserer Absprache mit Frau Schellinger berichten wollte, der gemäß Cilli zum Reiterhof zurückgebracht würde – entweder mit Fellow zusammen, wenn er rasch Fortschritte machte, oder schon vorher allein, sobald er sich ausreichend eingewöhnt hatte. Doch dann warf sie mir einen raschen Blick zu und schloss den Mund wieder. Ich konnte ahnen, was in ihrem Kopf vorging. Ach herrje … Fellows Training wurde auch an diesem Tag fortgesetzt. Hanne sah zu, wie Daniel und Clara mit ihm umhergingen. Und schließlich gab es offenbar viel zu diskutieren, was mit ihm alles geübt werden sollte, um sein Vertrauen weiterhin zu stärken. Am Mittwoch hatte Clara ihren nächsten Termin bei Dr. Teichmann. Ich fuhr sie und Hanne am Morgen zum Bahnhof. Hanne reiste einen Teil der Strecke mit ihr, denn sie hatte wieder ein Seminar zu geben. So war ich einigermaßen beruhigt, überhäufte meine genervte Tochter jedoch mit guten Ratschlägen für die Rückfahrt und fühlte mich dann im Auto auf dem Weg zum Hof, als sei mir ein Körperteil amputiert worden. Sechs Wochen lang waren Clara und ich ununterbrochen zusammen gewesen. Ohne ihre schmale Gestalt an meiner Seite fühlte ich mich einfach nicht vollständig. Es war wie damals, als sie noch klein und vollkommen von mir abhängig gewesen war. Ich hatte sie mit mir herumgetragen, neben ihr geschlafen und, wie mir schien, ununterbrochen ihr süßes kleines Gesicht betrachtet. Steffen, der von unserer Tochter ebenso entzückt gewesen war wie ich, hatte schon scherzhaft gemeint, dass wir aufpassen müssten, damit Clara und ich nicht versehentlich an irgendeiner Körperstelle zusammenwuchsen. Ich sah sein Gesicht vor mir, das begeisterte Leuchten, das es anfangs erhellt hatte, als wir Eltern geworden waren. Es war lange her, dass ich daran gedacht hatte. Die Erinnerung schmerzte. Um mich abzulenken, ging ich in mein Zimmer und versuchte, via Laptop meine E-Mail-Post zu beantworten. Immer wieder stand ich auf, trat ans Fenster und sah hinaus auf den Hof. Ab und zu waren Sam oder Sven zu sehen, wie sie ihren täglichen Verrichtungen nachgingen. Ich ertappte mich jedoch dabei, wie ich Ausschau nach Daniel Richter hielt. Schließlich verbot ich mir das Aufstehen. Ein paar Stunden später klappte ich den Deckel des Laptops frustriert zu. Die Phase, in der ich das Erledigen dieser Aufgaben als lästig empfand, dauerte offenbar weiterhin an. Vom Fenster aus sah ich Daniel, der Lavinia über den Hof führte, sie vor dem Stall anband und begann, sie in aller Ruhe zu putzen. Nun, ich hatte genug am Schreibtisch gearbeitet, Zeit für eine Pause. Ich ging hinunter und schlenderte zu ihm hinüber. »Kann ich irgendwie helfen?«, bot ich an. Daniel Richter hob nur kurz den Kopf. »Lieb von Ihnen, aber ich denke nicht.« Ich sah ihm zu, wie er ein paar dreckverkrustete Stellen in Lavinias Fell bearbeitete. »Werden Sie sie wieder reiten können?« »Dieses Pferd?«, entgegnete er. Ich dachte daran, wie er mich anfangs mit seinen Gegenfragen zur Weißglut getrieben hatte. Weil er der Meinung war, dass in ihnen ebenso gut eine Antwort stecken konnte. Er hatte recht. »Stimmt. Das hätte ich mir ja wohl denken können«, sagte ich daher. »Oh nein, nicht unbedingt«, erwiderte er. »Natürlich können wir schlechte Erfahrungen nicht ungeschehen machen oder die Erinnerung an sie löschen. Aber manchmal können wir sie mit anderen, guten, angenehmen Erlebnissen nach und nach so weit überdecken, dass die schlimmen Erfahrungen keine Rolle mehr spielen. Das ist es, was wir mit Fellow vorhaben. Wenn wir sein Vertrauen ausreichend gestärkt haben und er der festen Überzeugung ist, dass ihm bei uns nichts Schlimmes geschieht, werden wir ihm immer wieder positive Erlebnisse rund um den Hänger verschaffen. Irgendwann wird er so weit sein, dass Sie ihn wieder mit nach Hause nehmen können.« Ich ließ seine Sätze auf mich wirken, während ich ihm zusah, wie er mit sanften, gleichmäßigen Strichen das rotgoldene Fell auf Hochglanz brachte. Eigentlich sollte ich mich nach solchen Worten doch zuversichtlich fühlen, dem Tag X mit Freude entgegensehen. Doch die Gedanken des Vormittags und die stundenlange Beschäftigung mit Dingen, die mir plötzlich vollkommen sinnlos vorkamen, hatten ihre Spuren hinterlassen. Bei der Vorstellung, mit Fellow im Hänger winkend vom Lotten-Hof zu fahren, wurde mir eher beklommen zumute. »Wahrscheinlich sind Sie froh, wenn Sie die beiden zusätzlichen Pferde wieder verabschieden können. Jetzt im Sommer geht es ja, aber Clara hat mir erzählt, dass es mit der Zahl der Pferde und den offenen Boxen für den Winter wohl eng wird«, sagte ich. Daniel Richter nahm die Mähnenbürste aus dem Korb mit dem Putzzeug, und die Stute schnaubte entspannt, als er nach der ersten Strähne griff. »Clara ist wirklich aufgeweckt«, sagte er, und ich dachte zuerst, er wolle meine Frage gar nicht beantworten. Seine Miene war ernst, beinahe besorgt. Doch dann deutete er gen Westen. »Im letzten Jahr haben wir das angrenzende Land dazugekauft. Dadurch haben wir mehr Weiden zur Verfügung. Und Futterwiesen, auf denen wir den Großteil des Futters für den Winter selbst herstellen können. Aber Sie haben recht, für den Winter brauchen wir dringend noch weitere Stallungen. Wir warten gerade auf die Genehmigung eines Kredits. Leider ist so was ja immer mit Geld verbunden. Egal, wie viel Gutes man damit im Sinn hat.« »Wem sagen Sie das«, erwiderte ich leichthin. Doch als ich es ausgesprochen hatte, kam es mir seltsam schal vor. Mit der Beantragung von Geldern kannte ich mich wirklich aus. Aber wollte ich allen Ernstes beispielsweise die Finanzierung einer weiteren Studie zur Dichtung der Romantik mit dem vergleichen, worum es hier auf dem Lotten-Hof ging? Etwas beklommen stand ich da und sah Daniel Richter zu, der Lavinias seidig fallende Mähne durch die Hände gleiten ließ. »Ich hab da mal eine dumme Frage«, sagte ich. Daniel Richter gab ein Geräusch von sich, irgendetwas zwischen Brummen und Glucksen. »Die sind mir am liebsten.« »Kann es sein, dass Pferde … na ja, mögen sie Kinder besonders gern? Es ist nur … ich frage mich, wieso Clara bei Fellow schon so große Fortschritte erzielt und ich selbst …« »Sie möchten wissen, wieso er die Mitarbeit mit Ihnen manchmal verweigert«, sagte er, und es war keine Frage. »Genau«, stimmte ich zu. »Sie sollten zuschauen, wenn Clara etwas mit ihm macht«, sagte er, ohne dass es nach einem Tadel klang. Es klang so aufmunternd, dass ich augenblicklich Lust bekam, das tatsächlich zu tun. »Sie sitzen zu viel über Ihrer Arbeit. Ich dachte, Sie haben Ferien.« »Auch in der vorlesungsfreien Zeit gibt es viel zu tun.« »Ach ja? Was denn?« »Nun, meine Doktoranden wollen weiterhin betreut sein. Ich muss ein Gutachten für ein Stipendium schreiben. Die Endversion meiner neuesten Publikation fertigstellen. Projektmittelanträge …« Ich unterbrach mich selbst. »Denken Sie bloß nicht, dass ich nicht mitbekomme, dass Sie mir auszuweichen versuchen. Es ist offensichtlich, dass Sie mir mal wieder keine Antwort geben wollen.« Obwohl ich mich bemühte, meine Stimme ganz locker und unbeschwert klingen zu lassen, konnte ich selbst hören, dass sie angespannt klang. Daniel schwieg eine Weile. Und als ich ihm ins Gesicht sah, wurde mir klar, dass er nicht so lange zögerte, weil er keine Antwort wusste. Er zögerte, weil er nach der richtigen Art und Weise suchte, mir seine Antwort auf möglichst schonende Weise beizubringen. »In Ihrem Job«, sagte er schließlich und legte die Bürste zur Seite, um sich mir ganz zuzuwenden, »an der Universität, da haben Sie doch sicher eine Assistentin oder jemanden, der Ihnen zuarbeitet?« »Sicher. Ich habe eine Sekretärin«, antwortete ich irritiert. Was hatte Beatrice mit meinen mangelnden Fortschritten bei Fellow zu tun? »Ist sie gut?« »Sie ist spitze.« »Sagen Sie ihr das hin und wieder?« »Sie weiß, dass sie verdammt gut ist.« »Mag sein. Aber sagen Sie es ihr?« Ich dachte nach. »Sicher. Ich habe ihr schon ein paar Mal gesagt, dass sie für mich unentbehrlich ist, dass sie eine tolle Mitarbeiterin ist.« »Wenn sie beispielsweise irgendeine Aufgabe zu ihrer vollsten Zufriedenheit erledigt hat. Sagen Sie ihr das dann? Genau in diesem Augenblick, in dem Sie das gute Ergebnis sehen?« Ich blinzelte. Was um Himmels willen wollte er von mir? Er sah auf die Uhr. »Wissen Sie was? Es ist eigentlich gerade Zeit für eine weitere Lektion für...