Müntefering Taktgefühle
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8387-0240-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 269 Seiten
ISBN: 978-3-8387-0240-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Tiffy ist schockiert: Ihre beste Freundin Toni will sie ausgerechnet in einen Lesben-Single-Tanzkurs schleifen! Dabei geht es Tiffy mit ihrem Single-Dasein doch ganz gut. Außerdem wollte sie das Tanztrauma, das sie seit ihrer Kindheit mit sich herumschleppt, nie wieder ankratzen. Nur Toni zuliebe lässt sich Tiffy schließlich doch erweichen. Und ist überrascht - so übel ist das Tanzen gar nicht! Ob das an der wunderschönen Juliane liegt, die einfach hinreißend übers Parkett schwebt? Doch die wirkt so still und abweisend. Dafür hat die Tango-argentino-Lehrerin Ricarda eindeutig ein Auge auf Tiffy geworfen -
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»Ich habe eine Wassermelone getragen.« (Dirty Dancing) Ich heiße euch herzlich willkommen zum Anfängerinnenkurs«, strahlt die sympathische Frau vor uns. »Ich bin Mona, eine der beiden Chefinnen hier. Ich werde euch also einführen in die Welt des Langsamen und des Wiener Walzers, vom Foxtrott über Tango, Jive und Cha-Cha-Cha bis zur Samba. Uh, sagt ihr jetzt bestimmt, das ist aber ganz schön viel Zeug! Aber keine Bange, wir werden uns gemeinsam langsam rantasten an die Standard- und die Lateinamerikanischen Tänze.« Auf allen neun Gesichtern am Tisch erscheint ein erleichtertes Lächeln. Auf meinem nicht. Ich vermute, ich werde heute gar nicht mehr lächeln. Vielleicht auch nie wieder. Es ist Sonntagabend. Ich sollte gemütlich auf meinem Sofa sitzen. Mit einem Tee. Etwas restlichem Spritzgebäck vom fast leer genaschten Weihnachtsteller, den meine Mutter uns Kindern immer noch jedes Jahr zusammenstellt. Ich könnte meine reichhaltige DVD-Sammlung durchforsten und aus Entscheidungsnot gleich zwei Filme schauen. Oder der Roman, den ich gerade lese, könnte superspannend werden. Ich sollte in meinem ganz normalen Leben sein, wie an allen anderen bisherigen Sonntagabenden. Stattdessen sitze ich hier neben Toni in der Ecke dieses großen Saals. Nein, großer Saal ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Riesiger Saal würde es wahrscheinlich besser treffen. Und am besten wäre er beschrieben mit ›riesiger, verspiegelter Saal‹, denn an zwei Seiten, einer Längst- und einer Querseite ist die Wand vom Boden bis zu einer Höhe von etwa zwei Meter zehn komplett verspiegelt. Wenn ich rüberlunze, kann ich mich sogar sehen, wie ich inmitten der Schar dieser verschreckten Lesben hier hocke und meinem Schicksal entgegenhadere. Nach einer erfrischend kurzen Vorstellungsrunde, in der ich den Ehrgeiz entwickele, mir alle fremden Namen zu merken, erklärt Mona uns kurz den Ablauf des jeweils neunzig Minuten dauernden Trainings, wann es Pausen gibt und so. Sie wirkt freundlich und heiter. Gar nicht so verbissen ehrgeizig wie Tanzlehrerinnen sonst. Außerdem trägt sie ihre schulterlangen Haare offen und nicht zu einem strengen, faltenreduzierenden Extremzopf zurückgebunden. Sie ist auch kaum geschminkt. Dabei hat mir meine bisherige Erfahrung gezeigt, dass Tanzlehrerinnen mindestens einen knallroten, angsteinflößenden Lippenstift tragen, der Angelina Jolie schmallippig aussehen lässt. Zudem vermerke ich auf der überraschend langen Positivliste, dass Mona bisher nicht ein einziges Mal erwähnt hat, dass es sich bei diesem Kurs um einen »Tanzkurs für Singlefrauen« handelt. Das muss sie aber wahrscheinlich auch gar nicht. Selbst ein blinder, orthodoxer Muslim würde mitbekommen, dass hier ein Haufen paarungsbereiter Frauen in den Dreißigern aufeinanderhockt und in kollektiver Schreckstarre darauf wartet, was geschehen wird. Mona geht über das verlegene Räuspern und alle Übersprungs-am-Kopf-Kratzen-Handlungen souverän hinweg und fordert uns zunächst auf, ihr aufs Parkett zu folgen. Der Saal streckt sich vor mir aus wie ein zugefrorener See. »Wie ich sehe, haben sich die meisten von Euch mit der Wahl des Schuhwerks schon aufs Tanzen eingestellt«, sagt Mona, während sie uns ›untenrum‹ genau in Augenschein nimmt. Tonis lederne Männerslipper scheinen bei ihr problemlos durchzukommen. Doch bei mir bleiben ihre Augen kleben. Sie sieht an mir herauf, mir ins Gesicht, und lächelt. »Stefanie, richtig?«, sagt sie. »Tiffy«, sage ich möglichst heiter. »O. k., Tiffy. Also, dich würde ich bitten, zur nächsten Stunde andere Schuhe zu wählen. Boots sind nicht wirklich geeignet zum Tanzen. Das Gleiche gilt für Chucks (netter Blick zu der Hübschesten im Kurs, Michaela) und Sportschuhe (ebenfalls netter Blick zu der lässig Burschikosen, ich glaube Kati). Zum Tanzen brauchen wir leichte Schuhe mit Sohlen, die nicht zu sehr stoppen, aber auch nicht zu glatt und rutschig sind. Gummisohlen verhindern, dass der Fuß sich auf dem Parkett drehen kann. Sie wirken wie ein Gummistopper. Und schwere Schuhe haben in etwa den gleichen Effekt. Außerdem sind sie besonders ungeeignet für Anfängerinnen. Denn erfahrungsgemäß landet doch mal der eine oder andere Fuß da, wo er nicht landen sollte … auf dem Fuß eurer Tanzpartnerin.« Alle außer mir lachen. »So, dann kommen wir mal zum spannendsten Teil des heutigen Abends: der Einteilung der Gruppe in Tanzpaare. Wie ihr ja alle wisst, gibt es beim Paartanz immer eine, die die Führung übernimmt. Bei gemischten Paaren ist das der Mann. Keine einfache Rolle, denn dieser Part muss immer im Auge behalten, wo sich die anderen Paare im Saal befinden, damit es nicht zu einer Kollision kommt …« Allgemeines Gekicher. Nur ich gebe keinen Ton von mir. »Außerdem muss die Führende entscheiden, welche Figuren getanzt werden und so weiter. Sie hat also die Rolle derer, die entscheiden muss, welche Figuren getanzt werden.« Mona hält kurz inne und schaut sich in der Runde um. Ich drücke ein wenig die Schultern durch und versuche, extrem aktiv auszusehen. »Obwohl die Geführte natürlich auch aktiv die eigenen Schritte tanzen muss, hat sie es etwas einfacher, sie tanzt, was ihre Partnerin ihr vorgibt. Dann jedoch hat die Geführte meist etwas schwierigere Schritte zu tanzen. Sie kennt mehr Drehungen und kompliziertere Schrittabfolgen …« »Nicht zu vergessen die Hebefiguren!«, wirft Kati mit den Sportturnschuhen ein und erntet Gelächter, auch von Mona. Nur nicht von mir. Hebefiguren finde ich echt nicht lustig. »Also«, fährt Mona fort. »Vielleicht habt ihr euch ja auch im Vorfeld schon entschieden: Wer möchte führen?« Sie deutet auf ihre rechte Seite. »Und wer möchte geführt werden?« Diesmal zeigt sie nach links. Es gibt ein kleines Geschiebe und Gerangel. Ich befürchte schon Allerschlimmstes. Ich meine, welche Lesbe stellt sich bei so einer Fragestellung schon links hin? Geführt werden. Passiv sein. Einfach etwas über sich ergehen lassen. Doch am Ende bin ich bass erstaunt, dass es einigermaßen hinzukommen scheint. Die hübsche, brünette Michaela, die nun auf der rechten Seite steht, grinst zur anderen Seite hinüber und fragt die blonde, etwas spröde wirkende Heike: »Bevor mir eine zuvorkommt: Magst du mit mir tanzen?« Boah, das geht hier ja zu wie beim Völkerball damals in den Schulpausen. Wer wird als Erste in eine Mannschaft gewählt? Heike strahlt und nickt eifrig. Um allen ganz klarzumachen, dass sie bereits vergeben sind, treten die beiden etwas zur Seite und bleiben dort verlegen grinsend nebeneinander stehen. »Na, wir wissen ja schon, dass wir miteinander tanzen wollen«, sage ich laut zu Toni. Die nickt zaghaft und schaut verlegen auf ihre Schuhspitzen. »Was ist denn?«, frage ich. »Fällt dir nichts auf?«, will Anke wissen. Ich sehe sie verwundert an. »Ihr steht beide auf der gleichen Seite«, erklärt Natascha, die auch bei uns rumlümmelt. Und im gleichen Moment tut sie einen kleinen Satz hinüber zu denen, die geführt werden wollen und schnappt sich Anke. Na, die beiden sind eh Busenfreundinnen, war ja klar. Ehe Toni und ich uns versehen, haben sich die anderen Paare auch gefunden. Kati mit den Turnschuhen steht neben einer kleinen, sehr blassen und schüchtern wirkenden Rothaarigen, die sich als Jutta vorgestellt hat. Und die recht forsch wirkende Kerstin neben der zierlichen Sandra. Toni und ich schauen uns an. Mona runzelt die Stirn. »Ich bin größer als du«, stellt Toni fest. »Ich denke, es wäre besser, wenn ich führe.« Ich öffne den Mund, um zu protestieren. Aber natürlich ist Mona Vollprofi und sagt: »Für diese Stunde können wir das so machen. Aber nächste Stunde probieren wir es mal andersrum. Dann werden wir ja sehen, in welcher Rolle ihr euch am wohlsten fühlt. Manche Paare machen es auch so, dass die eine den Walzer führt und die andere den Foxtrott und so weiter.« Wir beginnen mit dem Langsamen Walzer. Wie beim Aerobictraining stellt Mona sich mit uns vor den Spiegel und zeigt erst den Führenden, dann den Geführten ihre Schritte. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Das reicht eigentlich schon. Mein Körper erinnert sich. Es ist irre lange her. Ich war zwölf, als ich zuletzt getanzt habe. Doch meine Füße wissen sofort wieder Bescheid. Jede, die mal getanzt hat, kann den Langsamen Walzer auch nach Jahrzehnten noch im Schlaf. Dann sollen wir in Sicherheitsabstandshaltung gehen. Das heißt, wir stehen unserer Tanzpartnerin zwar schon recht nah gegenüber, halten uns dabei aber erst mal an den Händen wie beim Ringelreihen. Lächerlich. Die paar Schrittchen werden doch wohl alle hinbekommen, ohne größere Kollisionen zu fabrizieren. Doch Monas System scheint seine Berechtigung zu haben, stelle ich fest. Denn als wir schließlich zum ersten Mal zur Musik unsere eins, zwei, drei Schrittchen wagen, wäre die eine oder andere bestimmt auf dem Fuß der jeweiligen Tanzpartnerin gelandet, würden wir alle schon in der üblichen Haltung tanzen. Dass bei uns alles glattläuft, begeistert Toni derart, dass sie ganz euphorisch wird. Ich verdrehe heimlich die Augen. Als das Eins-Zwei-Drei mit Sicherheitsabstand funktioniert, zeigt uns Mona die...