E-Book, Englisch, Französisch, Deutsch, Band bulletin 67, 208 Seiten
Reihe: Europa Forum PHILOSOPHIE
Münnix / Roew / Rolf Résistance - Widerstand
Erscheinungsjahr 2018
ISBN: 978-3-95948-913-3
Verlag: Traugott Bautz
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Englisch, Französisch, Deutsch, Band bulletin 67, 208 Seiten
Reihe: Europa Forum PHILOSOPHIE
ISBN: 978-3-95948-913-3
Verlag: Traugott Bautz
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Vorwort
Als unser ehemaliger Präsident Erich Moll vor über vier Jahren an uns herantrat und im Hinblick auf die österreichischen PhilosophielehrerInnen, die immer auch psychologisch gebildet sein müssen, das Thema „Widerstand“ für eine Tagung in Südtirol vorschlug, die auch für deutsche und italienische Fachkollegen interessant sein sollte, wussten wir noch nicht, wie brisant und aktuell das Thema werden würde. Mit dem Arbeitstitel „Sand im Getriebe“ ging es ihm um den positiven Wert widerständigen und kritischen Denkens, das in sich ruhende Persönlichkeiten braucht, die Wert- und Zielbewusstsein haben und sich nicht manipulieren lassen. Ursprünglich schwebte ihm eine Tagung vor, auf der hauptsächlich in Gruppen an didaktischen Konzepten gearbeitet werden würde. Umso trauriger ist es, dass wir in dieser Publikation nur drei Beiträge haben, die sich direkt mit der praktischen Umsetzung des Themas beschäftigen. Doch viele der Beiträge weisen in die oder berichten von einer Praxis: Die Vorgänge um den Maidan, unter den Regimes von Trump und Erdogan, obwohl man an die Kraft demokratischer Institutionen glauben konnte, der arabische Frühling, aber auch innereuropäisch anlässlich des Reformationsjubiläums, das mit Luthers Devise der Kritik an kirchlichen Autoritäten und der Aufforderung selber zu lesen und sich sein Urteil selber zu bilden, als Vorläufer aufklärerischen Denkens gesehen werden kann, wie unser ehemaliger Präsident Werner Busch ausführt. Die unglaublichen Vorgänge in der ehemaligen DDR, die – gewaltfrei – zum Fall der Mauer führten, der Protest nicht nur argentinischer Frauen gegen Feminizid und sexuelle Gewalt, aber auch das Erstarken des Rechtspopulismus und er entsprechenden Gegenbewegungen, die zu einer neuen Debattenkultur in der Politik geführt haben, all dies macht deutlich, wie wichtig eigenständiges Denken und Handeln geworden ist, auch wenn es Zivilcourage und die Neubelebung der antiken Tugend der Tapferkeit erfordert. Denn auch unsere modernen europäischen Gesellschaften entwickeln in Wirtschaft, digitalen Medien und in einer bürokratisierten Verwaltung viele System-zwänge, die nicht mehr die Menschen im Auge haben. Wir sind also dankbar, dass die Tagung im letzten Jahr durch die Hilfe unseres Mitglieds Prof. Ivo di Gennaro, dem Leiter der Akademie für deutsch-italienische Studien in Meran, ebendort stattfinden konnte und bedanken uns herzlich für das Engagement der Tagungsorganisatoren. Ihnen wünschen wir eine anregende Lektüre, aus der sie unschwer Ideen für mögliche Umsetzung in Praxis und u.a. auch für die Menschenrechtsthematik gewinnen können, wie wir hoffen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Editorial
1. Actualité / Aktuell / Currents
Riccardo Sirello: La Journée Mondiale de la Philosophie 2017 à Rome en Italie
Werner Busch: 500 Jahre Thesenanschlag Martin Luthers - Fragen an die Philosophie
Thomas Nauerth: Ein widerständiger Geist des 16. Jahrhunderts - Lernen mit und von Erasmus von Rotterdam
Riccardo Pozzo / Vania Virgili: Innovation pour l'inclusion
2. Au sujèt / Zum Thema / The Subject
Erich Moll: Das Verhältnis von Psychologie und Philosophie und das Phänomen der Widerständigkeit
Gabriele Münnix: Du sollst nicht funktionieren: Was Whistleblower, Foucaults Analyse der Macht und die Stoa miteinander verbindet
Bernd Ladwig: Ziviler Ungehorsam und Widerstand - Begriffe und Begründungen politischer Regelverletzungen im demokratischen Rechtsstaat
Astrid Engl: About unconscious defences and conscious resistance
Mohamed Turki: Demokratie und Menschenrechte nach dem "Arabischen Frühling"
Klaus Draken: Sokratische Praxis und durch Vernunft begründeter politischer Widerstand
Rolf-Arno Wirtz: Zur Unvereinbarkeit von Eigenheit und Entwicklung
Rolf Roew: Resisting Manipulation - Comments on R. H. Thaler's and C. R. Sunstein's Nudge.
3. Transformations / Umsetzung im Unterricht / Teaching
Natascha Kienstra / Floris Velema: A Community of Ethics Teachers in Europe (COMET)
Rolf Roew: Resistance in Ethics Education in Bavaria
4. L'enseignement à l'université / Hochschuldidaktik / Teaching Philosophy at Universities
Kathleen Mullin / Nancy Billias: From Aristotle to Humpty Dumpty: Teaching Under Trump
5. Critiques / Rezensionen / Reviews
Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand (Claus Thormann)
Stéphane Hessel: Indignez-vous! Livre de résistance et de combat (Mohamed Turki)
Les auteurs / Zu den Autoren / The Authors
IMPRESSUM
1.Actualité / Aktuell / Currents
Riccardo Sirello (Savona)
La Journée Mondiale de la Philosophie 2017
à Rome en Italie
Le Ministère dell’Istruzione, dell’Università e della Ricerca (MIUR)
et le Centro di Ricerca sull’Indagine Filosofica (CRIF) italiens ont
célébré la Journée mondiale de la Philosophie le 16 novembre
2017 à la Salle de la Communication du MIUR de Viale Trastevere
à Rome.
Cela a été un moment important pour l’Italie car le programme
de divulgation de la pratique philosophique comme opportunité
d’apprentissage pour tous a été présenté, ainsi que la manière
dont il sera mis en oeuvre.
La Journée de la Philosophie a bénéficié non seulement d’interventions
d’experts et de la participation de nombreuses universités
et d’établissements secondaires italiens mais aussi d’une
séquence télévisée diffusée en streaming par la Rai – Radio
Televisione Italiana .
MM. Marino Santi de l’Université de Padoue, Maura Striano de
l’Université « Federico II » de Naples, Alessandro Volpone de
l’Université de Bari, Maughn Gregory de l’Advancement of Philosophy
for Children et Vincenzo Vitiello de l’Université Vita-Salute
del San Raffaele de Milan, ont mis en clair comment la pensée
créative et celle logique-argumentative sont indispensables pour
construire une citoyenneté solide et responsable.
Enfin, la Journée a mis en évidence le fait que la force de divulgation
du langage philosophique est un véhicule éducatif
précieux dans le cadre d’une Ecole de la Liberté telle que l’a
soulignée la recherche de l’Unesco.
Notre Association internationale des professeurs de philosophie a
eu un rôle important dans la communication de l’événement car
elle a maintenu les rapports avec le siège parisien de l’Unesco
qui, en le publiant sur la toile, a démontré y prêter attention
Nous aurions l’intention d’entamer, à l’avenir, une entière collaboration
entre l’AIPPh et le MIUR-CRIF en faisant remarquer au
Ministère que le succès de l’initiative romaine pourrait stimuler la
constitution d’un réseau avec tous les établissements scolaires
italiens d’abord et européens ensuite.
Werner Busch (Kiel)
500 Jahre Thesenanschlag Martin Luthers –
Fragen an die Philosophie
Als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine berühmten, damals
provokanten 95 Thesen in Wittenberg anschlug, um darüber zu
diskutieren, konnte er nicht wissen, dass er die Einheit des Denkens,
die im Abendland in Form einer universellen Kirche gedacht
wurde, grundsätzlich in Frage stellte. Luther war ein Sprachgenie,
ein begnadeter Musiker, ein energiegeladener Glaubensmann,
ein großer wissenschaftlicher Theologe, in Schulangelegenheiten
ein realistischer Politikberater, aber er war wahrhaftig kein
Philosoph, wenn man z.B. seine Beschimpfung des rationalen
Aristoteles ernst nimmt. Und doch hat er die Philosophie extrem
und intensiv herausgefordert.
Die reale Lage in Deutschland, in dem die Landesherren im Verhältnis
zum Kaiser stark waren, machte es möglich, dass Luthers
Dissens mit der einheitlichen Kirche von Anfang an institutionell
gelebt werden konnte. Da sich mittlerweile viele Einwohner mit
Hilfe des neuen Mediums „gedruckte Schrift“ seit dem 16. Jahrhundert
selbst eine Meinung bildeten, waren Tür und Tor geöffnet,
nach Luthers endgültigem Selbstständigkeitsbeschluss selbst
neue Glaubensgemeinschaften zu gründen, sei es unter landesherrlicher
Führung oder in ganz freier Gruppendynamik. D.h.
nach Martin Luthers Dissenserfolg war die gewünschte, eingeforderte
oder konstruierte Einheit des Denkens im Abendland für
immer verloren. Es entstand nach und nach ein Kaleidoskop verschiedener
sich untereinander stark abgrenzender Glaubensgemeinschaften
und Sekten, deren Nennung die historische Phantasie
gewaltig anregt: Lutheraner, Reformierte, Zwinglianer, Calvinisten,
Unierte, Anglikaner, Pietisten, Puritaner, Mennoniten,
Quäker, Independenten, Baptisten, Zeugen Jehovas, Sozzinianer,
Unitarier, Methodisten, Mormonen und viele mehr. Schaut man
auf diese Vielfalt, gewinnt man den Eindruck, dass die Sektenbildung
wieder aufgelebt ist, die wir aus der Antike kennen, für uns
überliefert in „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ des
Diogenes Laertius. Der Unterschied zur christlich geprägten europäischen
Neuzeit ist allerdings der, dass die antiken philosophischen
Schulen und Sekten mit Angeboten verschiedener Lebensformen
und argumentativ miteinander konkurrierten, während in
der europäischen Neuzeit ein persönlicher in der Natur und in
den Menschen wirkender Gott den Gläubigen die Kraft verlieh,
Recht zu haben und dies, verbunden mit welchen Interessen
auch immer, oft genug mit Gewalt und Repression durchzusetzen.
Wir Heutigen vergessen leicht, dass der angenommene religionsstiftende
Gott auch bei uns in Europa mindestens bis ins 18.
Jahrhundert als eine real leitende Macht weithin verinnerlicht
war. Die Frage war nur, welche Form die herausgelesenen göttlichen
Botschaften annahmen und wie sie mit oder ohne Waffen
verteidigt wurden. Wie sollte man mit dieser neuen Vielfalt umgehen?
Die Glaubenskriege, deren interessengeleitete Rechtfertigung
die jeweilige Interpretation des angenommenen göttlichen
Willens lieferte, waren mit Martin Luthers Dissens fast schon vorprogrammiert.
So betrachtet, ist die Geschichte, an deren Anfang
der Thesenanschlag Martin Luthers stand, alles andere als angenehm
nachzuvollziehen.
Aber es gibt auch eine andere Version dieser Geschichte, nämlich
die der Herausforderungen, die die europäischen Philosophen
aufgriffen. Thomas Hobbes begründete gegen die Vielfalt der
selbsternannten Widerständler die absolute Staatsgewalt, John
Locke antwortete mit der Theorie der Repräsentation in Parlamenten
und mit der Rechtfertigung des Widerstandes gegen
elementares Unrecht, Montesquieu analysierte und strukturierte
die politischen Systeme neu und Immanuel Kant und Georg Wilhelm
Friedrich Hegel füllten schließlich den Begriff des Rechtsstaates
aus, einen Begriff, der als Erzeugnis der deutschen Philosophie
nur mit Schwierigkeit in andere Sprachen zu übersetzen
ist. Parallel zu dieser rechtsphilosophischen Gesprächssituation
konstruierte René Descartes im Zuge des Fortschritts der Mathematik
einen unpersönlichen Gott, der nur gedacht werden
kann und den Baruch Spinoza schließlich einheitlich in das gesamte
Universum einwebte. Ebenfalls parallel zu den staatsrechtlichen
Diskussionen machte sich der Religionsflüchtling Pierre
Bayle in guter skeptischer Tradition eine Freude daraus, in seinem
weit verbreiteten „Dictionnaire historique et critique“ alle
möglichen Widersprüche in den menschlichen Urteilen seit der
Antike aufzudecken, was konsequent gegen alle Rechthaberei
zum Gedanken der universalen Toleranz führen musste. Es ist
klar, dass diese wenigen genannten Diskussionsstränge nur eini-
ge herausragende Spitzen inmitten eines dichten Geflechts von
veröffentlichten Thesen in der europäischen philosophischen Öffentlichkeit
zeigen. Faktum ist, dass breit und meisterhaft argumentiert
wurde – als eine der Antworten auf die neue Vielfalt, die
Martin Luthers Dissens ausgelöst hatte.
Man mag diese permanenten und intensiven Dialoge der europäischen
Aufklärung nun nach Karl Marx durch die Entwicklung der
Produktionsverhältnisse als notwendig erzeugt sehen oder nach
Hegel als ein dialektisches Wirken des Weltgeistes: Dass auf hohem
Niveau argumentiert wurde und diese Argumentationen in
die Gestaltungen der europäischen Gesellschaften hineinwirkten,
ist unbestreitbar: Man lese nur die Staatsverfassungen, die von
dieser europäischen Tradition geprägt wurden. Man könnte sogar
behaupten, dass auf philosophischer Ebene intellektueller Widerstand,
wie Martin Luther ihn ursprünglich wollte, auf Umwegen
erfolgreich in die Realität hineinwirkte.
Nun ist und bleibt die von Martin Luther ausgehende Reformation
mit ihren Folgen ein primär europäisches bzw. eurozentrisches
Phänomen. Da Philosophie grundsätzlich interkulturell konzipiert
sein muss, stellt sich angesichts des bis hierher gezeigten Eurozentrismus
die Frage, ob wir gegen die sogenannte westliche und
wesentlich rationale Variante der Philosophie nicht wieder die
Philosophie eines intuitiv geoffenbarten, Wahrheit verleihenden
Gottes oder die Philosophie der Verbalinspiration göttlicher Texte
stellen müssen. Diese Rückkehr vor die Argumentationen der
nachreformatorischen Aufklärung böte die Chance, neue wahrheitsbewusste
Ichstärke dadurch zu gewinnen, dass die religiösen
Menschen wieder einen persönlichen und gesellschaftsbeherrschenden
Gott auf ihrer Seite wüssten. Der derart Gestärkte
stellte seine Gedanken nicht mehr zur Diskussion, sondern hätte
das Recht und die Pflicht, zu verkünden und für die eigene gute
Sache auch mit Gewalt als Widerstand gegen zerstörerisches
problematisierendes und verunsicherndes Denken einzutreten:
Denn für alle geltende göttliche Wahrheiten müssten schließlich
mit dem Ziel einheitlicher Lebens- und Denkformen durchgesetzt
werden.
Es ist ein Paradox, dass solche Entscheidungen für oder gegen
einen faktischen persönlichen Gott ganz auf den Einzelnen bezogen
sind, dass sie eigentlich von sich aus eine unendliche Vielfalt
erzeugen müssten, aber die Tendenz haben, von allen Mitmenschen
das identische Denken einzufordern. Um dieses Paradox
aufzulösen, ist der nachreformatorische Eurozentrismus als Antwort
auf alle Formen von solipsistischer Rechthaberei vielleicht
doch gar nicht so schlecht, wenn man die Ergebnisse der aufklärerischen
Philosophie, dass eben nur das menschliche Denken gilt
und nicht das angenommene göttliche, ganz einfach als Innovation
auffasst wie zum Beispiel den Verbrennungsmotor, den
Elektromotor, den Computer, das Internet und das Smartphone,
alles Dinge die interkulturell – die Ausnahmen bewusster Zivilisationsverweigerer
gibt es immer – gern genutzt werden, wie wir
es tagtäglich als gelebte Realität vor uns sehen.
Nehmen wir die nachreformatorische Aufklärung ernst, dann bedeutet
es aber auch, dass die heutigen Philosophen ebenso deutlich
und markant, wie z.B. Thomas Hobbes und John Locke auf
die damaligen Probleme eingingen, die heutigen Herausforderungen
aufgreifen. Da ist z.B. die Entgrenzung der Nationalstaaten
und der Nationalkulturen durch die universelle Kommunikation,
die Möglichkeit der massenhaften Migration durch die Menge der
sich ständig vermehrenden Verkehrsmittel, die Spannung von
Welternährung und Artenvielfalt, die Bewusstseinsveränderung
durch die Vorherrschaft sekundärer digitaler Welten, die Gefährdung
des Privaten durch totale Überwachungsmöglichkeiten, der
Umgang mit der menschlichen Aggression angesichts der immer
perfekterer Zerstörungskraft und vieles mehr.
So schlimm die nachreformatorische Geschichte in ihren Gewaltformen
war, die Geschichte der europäischen Philosophie kann
Mut machen, dass intellektueller Widerstand die Wirklichkeit faktisch
verändert und in mancher Hinsicht sicherlich zu einer hilfreichen
Bewältigung der menschlichen Vielfalt und zu einem
zweckmäßigeren Zusammenleben führt. Es lohnt sich sicherlich,
in dieser Tradition der europäischen Aufklärung, verstanden als
Innovation, kräftig fortzuschreiten. Es geht schließlich erst einmal
nur um Argumente.