E-Book, Deutsch, Band 75, 400 Seiten
Müllner / Schmitz Perspektiven
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-460-51064-7
Verlag: Katholisches Bibelwerk
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Biblische Texte und Narratologie
E-Book, Deutsch, Band 75, 400 Seiten
Reihe: Stuttgarter Biblische Beiträge (SBB)
ISBN: 978-3-460-51064-7
Verlag: Katholisches Bibelwerk
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Narratologie als methodischer Zugang, Texte des Alten Testaments zu interpretieren, hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zunehmend in der alttestamentlichen Wissenschaft etabliert. Im vorliegenden Sammelband werden unterschiedliche Strategien narratologischer Perspektivbildung in 16 Beiträgen an alttestamentlichen Texten verschiedener Gattungen, Zeiten und Textsorten analysiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Traum des Kambyses (Herodot »Historien« 3, 30 und 3, 61–65).
Ein narratologisches Close-reading1
IRENE J. F. DE JONG 1.Einleitung: Narratologie und historiographische Texte?
Kann man historiographische Texte narratologisch erschließen? Einer der Gründungsväter der Narratologie, Roland Barthes, hat dies 1966 ausdrücklich bejaht: Innombrables sont les récits du monde […] il est présent dans le mythe, la légende, la fable, le conte, la nouvelle, l’épopée, l’histoire, la tragédie, le drame, la comédie, la pantomime, le tableau peint […] le vitrail, le cinéma, les comics, le fait divers, la conversation.2 Allerdings setzte sich Barthes nur theoretisch mit dem Zusammenhang von Narratologie und Historiographie auseinander (in seiner Abhandlung »The Discourse of History«),3 ohne je eine eigene grundlegende narratologische Analyse eines historiographischen Textes durchzuführen. Etwa zehn Jahre später forderte der amerikanische Historiker Hayden White nachdrücklich, die Historiographie als eine Form des Diskurses anzusehen, die denselben literarischen Vorgehensweisen folgt wie der Roman: What all this points to is the need to revise the distinction conventionally drawn between poetic and prose discourse in discussion of such narrative forms as historiography and to recognize that the distinction, as old as Aristotle, between history and poetry obscures as much as it illuminates about both. If there is an element of history in all poetry, there is an element of poetry in every historical account. This is because in our account of the historical world we are dependent […] on the techniques of figurative language both for our characterization of the objects of our narrative representations and for the strategies by which to constitute narrative accounts of the transformations of those objects in time.4 In seiner Analyse historiographischer Texte konzentriert sich Hayden White auf deren »narrative emplotment«: Historiker stellen ihre Sicht auf die Vergangenheit für gewöhnlich in Form einer Geschichte dar, und dafür müssen sie entscheiden, wo sie anfangen, wo sie aufhören und wie sie die Geschichte erzählen wollen: positiv oder pessimistisch, moralisierend oder tragisch usw. Whites Betrachtung der Historiographie als eine Form der Erzählung wurde von dem niederländischen Gelehrten Frank Ankersmit weiterentwickelt.5 1991 behandelte der Narratologe Gérard Genette in »Fiction et diction«6 ausführlich die narratologische Herangehensweise an Sachtexte. Er notierte, dass trotz Barthes’ Forderung historiographische Texte bisher noch nie umfassend narratologisch analysiert worden sind. Eine ganze Reihe von narratologischen Kategorien, wie z. B. Analepsen und Prolepsen, Rhythmus, Fokalisierung und Erzähler, würden – so Genette – auch von Historikern verwendet. Die einzigen Unterschiede, die er feststellt, betreffen zum einen die Einbeziehung von Reden, die in der Geschichtsschreibung als Zeichen einer Fiktionalisierung angesehen werden, und zum anderen die Fokalisierung von historischen Figuren, d. h. die Darstellung ihrer unausgesprochenen Gedanken und Gefühle, die ein Historiker nur einbauen kann, wenn er Modifikatoren wie »denke ich« hinzufügt oder Bezug nimmt auf Selbstzeugnisse wie Briefe oder Tagebücher. Generell jedoch können narrative Elemente von fiktionalen Genres auf Sachtexte übertragen werden. Als Genette behauptete, es gebe keine detaillierten narratologischen Studien von historiographischen Texten, konnte er nicht wissen, dass Ann Rigney 1990 gerade eine Untersuchung veröffentlicht hatte, die sich der Narratologie für die Analyse dreier historischer Berichte über die Französische Revolution bediente.7 Die Narratologie half ihr, die verschiedenen Akzente der drei Historiker aufzuzeigen, auch wenn sie letztlich doch ein und dieselbe Geschichte erzählen. Einen anderen Weg schlug die amerikanische Narratologin Dorrit Cohn in ihrer Untersuchung »The Distinction of Fiction« von 1999 ein. Sie behauptete, dass fiktionale Texte gewisse Merkmale haben, die sie von Sachtexten unterscheiden, und skizzierte, wie die Narratologie dabei helfen kann, diese zu erkennen. In einem Kapitel über »The Signposts of Fictionality« hält sie fest, dass Narratologen bisher zu schnell mit generellen Behauptungen bei der Hand waren: [M]ost narratological studies, including such classics of the discipline as Roland Barthes’ ›Introduction to the Structural Analysis of Narrative‹ and Gérard Genette’s Narrative Discourse, don’t explicitly restrict their field, and some even quite expressly announce that they intend to encompass non-fiction as well. In the absence of counter-indications of any sort, a narrative poetics of this overarching kind leads one to believe that the entire panoply of conventions, ›figures‹, structural types, and discursive modes that it identifies applies equally within and without fiction, even though its textual exemplifications are drawn exclusively from the novelistic canon.8 Als nächsten Schritt macht sie sich daran, Wegweiser der Fiktionalität zu identifizieren, indem sie fiktionales und historiographisches Erzählen vergleicht, und schlägt »some rudiments for a historiographic narratology« vor. Der erste Wegweiser bezieht sich auf die wohlbekannte Unterscheidung zwischen Geschichte, Erzählung und Text (fabula-story-text).9 In Bezug auf die Historiographie schlägt Cohn vor, eine vierte Ebene hinzuzufügen: die der »more or less reliably documented evidence of past events out of which the historian fashions his story« (112). Die Existenz dieser Ebene, die im Prinzip außerhalb des Textes liegt, kann trotzdem manchmal im Text entdeckt werden, und zwar an den Stellen, die sie »testimonial stratum« (115) nennt: wenn ein Historiker die Quellen seiner Geschichte bespricht. Der zweite Wegweiser bezieht sich auf die Kategorie der Zeit. Cohn ist sich mit Genette einig, dass in historiographischen Texten die gleichen Analepsen und Prolepsen zu finden sind wie in fiktionalen, dennoch sieht sie einen Unterschied in der Art und Weise ihrer Verwendung: This is not to say that historians ›play‹ with time in the same sense as novelists: their departures from chronology and isochrony tend to be functional, dictated by the nature of their source materials, their subject matter, and their interpretative arguments rather than by aesthetic concerns or formal experimentation.10 Cohn merkt außerdem an, dass die Zusammenfassung die typische Erzählart der Historiographie ist, während die szenische Erzählart in den meisten Romanen dominiert. Der dritte Wegweiser in Cohns Überlegungen ist die Fokalisierung. Hier ist sie noch radikaler als Genette. Während dieser sagte, dass die Fokalisierung in der historiographischen Erzählung relativiert oder zumindest begründet werden muss, behauptet sie, dass dieses erzählerische Mittel hier schlichtweg nicht möglich sei: Ein Historiker kann niemals wissen, was eine historische Person gedacht oder gefühlt hat, und kann nur mit Schlussfolgerungen arbeiten (entweder den eigenen oder denen anderer Personen). Cohn stellt auch die Tatsache heraus, dass sich die Historiographie eher mit kollektiven Denkweisen als mit Gedanken einzelner Personen befasst. Das, so ihre Forderung, verlangt nach einer neuen Kategorie der Fokalisierung. Der letzte Wegweiser der Fiktionalität ist die Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor. In fiktionalen Texten ist diese Unterscheidung unabdingbar, auch wenn der Erzähler seinen Namen nicht nennt, wohingegen der Erzähler bei einem historiographischen Text identisch mit dem auf der Titelseite genannten Autor ist. Soviel zur Positionierung von Narratologen zu Narratologie und Historiographie.11 Wenn wir uns nun der lateinischen und griechischen Historiographie zuwenden (was Genette und Cohn nie getan haben), ergibt sich ein völlig anderes Bild. Hier betrachtet man fiktionale und Sachtexte traditionell als eng miteinander verknüpft. Was der römische Lehrer der Rhetorik Quintilian zu diesem Thema zu sagen hat, scheint in etwa die communis opinio der Antike gewesen zu sein: Quintilian, Institutio oratoria X.1.31: est enim [historia] proxima poetis, et quodam modo carmen solutum est, et scribitur ad narrandum, non ad probandum, totumque opus non ad actum rei pugnamque praesentem, sed ad memoriam posteritatis et ingenii famam componitur. Denn die Historiographie ist...