E-Book, Deutsch, 220 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm
Müller-Wieland Vom Lügen und vom Träumen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7013-6283-7
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman in sechs Geschichten
E-Book, Deutsch, 220 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm
ISBN: 978-3-7013-6283-7
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was geschieht, wenn sich das Leben auf unvorhergesehene Weise ändert, unbemerkt zu Beginn, schleichend – manchmal
schockhaft, wie ein Schlag ins Gesicht? „Vom Lügen und vom Träumen" erzählt von Figuren, die sich auf unterschiedliche Weise den Brüchen in ihren Biografien stellen: Salome macht die Erfahrung, nach vielen Jahren Ehe verlassen zu werden, weil Hannes in Berlin eine Musikerin kennengelernt hat. Diese wiederum erlebt als Jugendliche einen traumatischen Beginn im Westen, nachdem die Familie aus der DDR geflohen ist. Lilly wird indirekt Zeugin eines unerhörten Übergriffes der eigenen Chefin – und muss sich fragen, wem ihre Loyalität gilt. In starken Szenen, die erstaunt und atemlos zurücklassen, zwingt die Autorin ihre Figuren zu Entscheidungen von Tragweite, welche sich manchmal als falsch erweisen und Lüge, Verrat, Verschweigen provozieren. Den Gefährdungen von Innen und Außen zu trotzen, Frohsinn, Leichtigkeit, Geglücktes
zu erkennen, all dies schwingt in den Geschichten mit. Es ist Vergnügen und Herausforderung zugleich, dem dichten Geflecht von Verweisen zu folgen, Zusammenhänge zu deuten und in bangen Vermutungen bestätigt zu werden. Birgit Müller-Wieland ist ein großartig komponierter Roman in sechs Geschichten gelungen, dessen einzelne Stimmen erst im Zusammenspiel ihre Komplexität und Raffinesse entfalten.
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Nun also auch wir
An jenem Abend, der Salomes Leben in ein Davor und ein Danach teilen würde, zündete sie die beiden weißen Kerzen am Tisch und jene am Silberleuchter auf dem Fensterbrett an, während Hannes mit dem Geschirrtuch über der Schulter leise vor sich hin pfiff. Geschickt hob er mit einem Löffel das Fruchtfleisch aus der ledrigen Avocadohülle, füllte es in eine Schüssel und zerstampfte alles zu einem gelbgrünen Brei, den er mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft würzte. Salome hörte ihn hinter ihrem Rücken hantieren und pfeifen, öffnete ruckartig die Holzschublade am Tisch, in der sie das Besteck aufbewahrten, und legte Messer und Gabel neben die beiden Teller. „Vergiss die Muskatnuss nicht“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Hannes pfiff weiter, etwas Dynamisches, das sie nicht kannte, sie lächelte. Die Küche hinter ihr war geräumig mit der Herdinsel in der Mitte, vor ihr der Holztisch mit den Stühlen neben der Kredenz – ein Miteinander von Alt und Neu, so, wie die ganze Wohnung aus Altem und Neuem bestand, hell war und gemütlich. Kam Besuch von Hannes’ Cousin und seiner Familie, jagten die kleinen Jungs gewöhnlich durch den Flur in die Küche, liefen jeder für sich in entgegengesetzter Richtung durch die vier großen Zimmer, rissen die Türen zu den Bädern auf – beide befanden sich an den jeweiligen Enden der Wohnung –, rannten wieder zurück, „Ich“-brüllend, „IchbinErster!“, um in der Mitte, triumphierend und japsend, vor der Terrassentür aufeinanderzutreffen. Es war ihr „GroßeWohnung-Spiel“, das Cousin Clemens und seine Frau, mit dünnem Lächeln im Flur stehend, nicht verhindern konnten. Ja, sie hatten Glück gehabt, damals, als sie die Wohnung gefunden hatten, ein Zufall, ein Tipp vom Freund einer Bekannten von Salomes Arbeitskollegin, eine Bleibe unterderHand, eigentlich unerschwinglich, aber dann doch kaufbar, mit Bürgschaften und Kreditermöglichungen von den Eltern, die damals alle noch gelebt hatten. Das Aufglimmen von Neid in den Augen jener, die zum ersten Mal die Wohnung betraten, hatten Salome und Hannes gelernt zu übersehen, so wie sie die Fragen nicht hörten, ob eine dermaßen große Behausung nicht zu viel Arbeit mache – und welcher der Räume wohl einmal das Kinderzimmer sein werde. Über all das lächelten sie hinweg, servierten den Begrüßungssekt, erzählten Renovierungs- und Umzugsanekdoten und flochten scheinbar nebenbei und in Abständen, beim zweiten Gang oder dem Dessert oder zum Schluss, bei der Verabschiedung, die fehlenden Parkmöglichkeiten ein, den Straßenlärm, das sehr alte und deswegen sehr knarzende Parkett, wie die Gäste ja wohl schon den ganzen Abend über bemerkt haben würden, dann noch der Weg zur U-Bahn, und die Nachbarn, tja, sodass die Gäste schließlich mit dem Gefühl nach Hause gingen, sie hätten es in ihrem kleineren und unattraktiveren Heim dann doch tatsächlich besser getroffen als die beiden, die in der riesigen Flügeltür verloren wirkten, wie sie da um drei Uhr oder vier Uhr morgens aneinanderlehnten und den Gästen hinterherwinkten. Und so gab es irgendwann keine Fragen mehr, nicht zur Größe der Wohnung oder dem Gebrauch der Zimmer und auch keine mehr zum Freitagabend. „Unser heiliger Abend“, wie Salome und Hannes diesen manchmal nannten, wenn sie zu später Stunde kichernd die zweite Rotweinflasche entkorkten. Ihn durchzusetzen, hatte anfangs einigen Aufwand erfordert. Bis alle in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis wussten, dass es keinen Sinn hatte, sie an diesem Tag einzuladen oder zu einem Theater- oder Kinobesuch zu bewegen, hatte es gedauert. „Nein“, hatten entweder sie oder er damals vor vielen Jahren immer wieder freundlich gesagt, „vielen Dank, aber freitags feiern wir, wie du weißt, unseren Sabbat“. Worauf ein „Oh“ zu hören gewesen war oder „Ach, entschuldige“ oder sich eine Stille während eines Telefonats eingestellt hatte, in der die Freunde und Freundinnen offenbar nachgedacht oder an etwas anderes gedacht hatten, oder gar nichts. Einer hatte gewitzelt: „Habt ihr auch diesen Armleuchter?“, worauf Hannes – in Salomes Augen Übereinstimmendes lesend – liebenswürdig erwidert hatte: „Der bist natürlich du. Schönes Leben noch.“ Auf diese Weise wurde in der Frühzeit ihrer Liebe so manche Freundschaft spontan und in Einverständnis beendet, Vorgänge, die sie nicht bedauerten, Verluste, die im Überschwang ihrer Gefühle füreinander untergingen. Und diejenigen, die ihnen blieben, hatten die Sache mit dem Freitag bald verstanden. Natürlich besaßen sie eine Menora. Eine wunderschöne, aus schlichtem Silber, Hannes hatte sie auf dem Flohmarkt gekauft und stolz nach Hause gebracht. Ohne einander abzusprechen, war sie immer geputzt, ein Schmuckstück, das auf dem Fensterbrett schimmerte, mit einer selbstverständlichen Grandezza auf seinen Einsatz wartend. Schon am Wochenanfang berieten sie sich, wer dieses Mal für den Freitag einkaufen und kochen würde, oder ob sie Zeit hätten, alles gemeinsam zu tun. Sie freuten sich auf die Stunden miteinander, das warme Licht, das ihre Gesichter weich machte und Funken in ihre Augen zauberte, auf die Verse aus den Lyrikbänden, die sie einander vorlasen, Lavant, Kaléko, Rilke, Sachs, sie freuten sich auf die Gespräche, in denen die vergangene Woche mit ihren Vorkommnissen, den wichtigen, absurden und nebensächlichen, auflebte, und später, beim Abräumen des Geschirrs, dem Löschen der Kerzen, zur Ruhe gekommen war, eine Ruhe, die beide ins Wochenende mitnahmen und welche zuweilen sogar weiterwirkte, bis Montagfrüh. * An jenem Abend also setzten sie sich an den gedeckten Tisch, die Gläser sirrten sacht beim Anstoßen, von den Leinenservietten stieg beim Auseinanderfalten ein zarter Duft von Rosengeranie und Lavendel auf, Stärke. Sie aßen das Avocadomus und Salat mit Pinienkernen, danach Huhn mit Reis. „Wir sollten“, sagte Salome, nachdem das Thema Arbeit ausgiebig besprochen worden war, „uns schön langsam Gedanken machen“. Hannes spießte ein Stück Fleisch auf, kaute, schluckte und fragte: „Worüber?“ „Schussel“, lächelte sie und führte das Glas zum Mund. Hannes sah auf seinen Teller, schob Reis auf die Gabel, kam hoch mit seinem noch immer fragenden Gesicht. „Vi-“, fragte Salome gespielt entgeistert, „et-nam?“ „Oh“, entfuhr es Hannes…“ – „… Ha Long Bucht? Na Thrang? Hué?“, setzte sie nach – „Oh, klar, äh …“, Hannes lehnte sich zurück, blies seine Backen auf, „entschuldige, es war ein bisschen viel in den letzten…“ – „Sicher“, sagte Salome, „alles gut“. Sie betrachtete seinen braunroten Schopf, dessen widerborstige Haare sie zu durchwühlen liebte, die von Sommersprossen besprenkelte Nase, seine kräftigen, gleichzeitig schmalen Hände, sie beugte sich verschwörerisch über den Tisch: „Ich habe einige Angebote gefunden, sie sind traumhaft, du musst sie dir später…“ – Hannes lächelte, nickte, hob die volle Gabel hoch. Aber schon im nächsten Moment kippte sein Blick nach innen, eine Abwesenheit, die Salome amüsierte. „Vergiss nicht zu essen“, schmunzelte sie. Als er nicht reagierte, schnippte sie mit Mittelfinger und Daumen vor seinem Gesicht. Hannes’ Blick kam von weit her zurück, so weit her, als erinnerte er sich weder an die nach wie vor erhobene Gabel voll Reis, die zwischen seinen Fingern steckte, noch an sie, Salome. „He“, sagte sie leise. Hannes senkte den Arm, legte die Gabel auf den Tellerrand. Er realisierte ihren fragenden Blick, lächelte und murmelte, indem er das Glas ergriff: „Bin etwas … etwas müde heute…“ „Ja“, erwiderte Salome, „ich auch…“ * Später, nach dem Aufräumen und Zähneputzen, wollte sie mit ihm schlafen. Sie hatte es schon tagsüber gespürt, das vertraute Begehren, sobald sie an ihn dachte, ein Sehnen nach seiner Haut und ihren unterschiedlichen Gerüchen, das strenge Wühlen in ihrem Unterleib. Es hatte sich verstärkt durch Hannes’ träge Unerreichbarkeit im Laufe des Abends, sein Zerstreutsein, das ihr Bedürfnis nach besinnungsloser Nähe provozierte. Er boxte sich sein Kissen zurecht, ohne sie anzusehen, als sie das von der Straßenlaterne erhellte Schlafzimmer betrat, im fliederfarbenen Nachthemd, welches er seit jeher als ihr „Verführungsteil“ bezeichnete. Sie musste kichern, ja, sie war beschwipst, sie begann leise zu summen, hob ihre Arme, stampfte mit einem Fuß auf und begann sich rhythmisch und aufreizend langsam zu drehen. Sie fühlte den seidigen Stoff an ihren Schenkeln, das leichte Wehen. Ihre Arme, das musste sie nicht im Spiegel sehen, bewegten sich girlandenhaft, graziös, ein...