E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-451-83714-2
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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TEIL I
Aufstieg, Wende, Abstieg – Leben zulassen und loslassen
Altwerden ist nichts für Feiglinge
Auf die Frage: »Wird denn nichts im Alter leichter?«, antwortet die 82-jährige Angelica Domröse (in: Pollmer/Schneider 2023, 16), die als junge Frau in dem Film Die Legende von Paul und Paula die Rolle der Paula spielte: »Alter ist immer scheiße.« Wenn Alter tatsächlich immer nur scheiße ist, dann gibt es keinen Grund, das Alter zu begrüßen, können wir ihm nichts Positives abgewinnen. Angelica Domröse empfindet es offensichtlich so und manche, vielleicht auch viele, werden ihr beipflichten, je nachdem wie sie selbst ihr Altwerden oder Altsein erleben. Altsein kann tatsächlich schrecklich und alles andere als erstrebenswert sein. Doch ist es immer so? Wir werden alt. In einer gewissen Weise verwelken wir. Sich das vorzustellen und am eigenen Leib zu erleben, ist nicht schön. Wir versuchen mit Hilfe von vielfältigen Mitteln diesen Prozess hinauszuzögern oder zu übertünchen. Das alles ändert aber nichts an dem Zerfall unseres Körpers, der letztlich nicht zu stoppen ist. Da gibt es nichts zu beschönigen. Winfried Glatzeder, der in dem besagten Film Paul spielt, inzwischen 78 Jahre alt, meint denn auch, »zu akzeptieren, dass der Körper sich nach und nach verabschiedet, ist sehr schwer, weil es so brutal ist« (ebd.). Ja, das ist brutal und der Schauspieler Joachim Fuchsberger hat recht, wenn er seine eigenen Erfahrungen vom Altwerden überschreibt mit der Erkenntnis, dass Altwerden nichts für Feiglinge ist. Ob Altwerden immer schlimm ist, hängt sicher auch von den Umständen ab, unter denen wir alt werden. Es hängt aber auch von uns ab, wie wir mit unserem Altwerden umgehen, welche innere Haltung wir dazu einnehmen. Was wir dazu beitragen, dass wir das Altwerden nicht oder nicht nur negativ erleben. Inwiefern wir ihm auch positive Seiten abgewinnen können, bis dahin, dass wir gerne alt werden. Akzeptieren, was unausweichlich ist: Wir werden alt
Die Kunst des Altwerdens beginnt damit, zu akzeptieren, dass wir alt werden. Das bedeutet, dass wir, was dabei mit uns geschieht, zunächst einmal einfach nur zur Kenntnis nehmen, ohne es zu bewerten. Wir es nicht von vorneherein für furchtbar halten, es aber auch nicht mit rosaroter Brille betrachten. In einem nächsten Schritt bedauern wir vielleicht, was sich in unserem Leben verändert, auf was wir verzichten müssen. Dazu gehört auch, dass wir feststellen, nicht mehr über die Vitalität zu verfügen, die wir früher so sehr an uns schätzten. Die Muskelkraft lässt nach, das Kreuz tut weh. Unser ohnehin schon spärlicher Haarwuchs nimmt weiter ab. Die Altersflecken vermehren sich. Das stimmt uns wehmütig und macht uns vielleicht auch traurig. Die Wehmut und Trauer sollten wir zulassen, weil das auch traurig ist, uns wehtut. Wenn wir die Trauer zulassen, hilft uns das, uns mit der Zeit von dem zu verabschieden, was nicht mehr ist und auch nicht mehr zurückkehren wird. Die Schriftstellerin Amelie Fried (in: Mainpost 2023, 14) bekennt, dass sie an dem hänge, was gewesen sei, und bisweilen wehmütig sei, wenn sie zurückblicke. Doch mit Dingen zu hadern, die vorbei sind, sei sinnlos. Damit müsse man sich versöhnen, um die Lebensfreude nicht zu verlieren. Zur Kunst des Altwerdens gehört, uns von der Vorstellung oder auch Illusion zu verabschieden, bis zum Ende unseres Lebens einen Anspruch zu haben auf Gesundheit, Vitalität, Schönheit oder ewige Jugend. Wenn uns das nicht gelingt, leiden wir nur darunter, etwas nicht länger zu haben, was wir einfach nicht mehr haben und nicht mehr haben werden. Wir bleiben hängen, sitzen fest, blasen Trübsal und verstehen die Welt nicht mehr. Es geht nichts mehr weiter in unserem Leben. Unsere notwendige Weiterentwicklung wird blockiert. Loslassen, was sich überlebt hat
Damit das nicht passiert, müssen wir uns einen Ruck geben und loslassen, was wir ohnehin nicht mehr haben und nicht mehr sind. Wir müssen loslassen, was sich überlebt hat, auch damit das, was jetzt leben möchte oder erst jetzt leben kann, zum Zuge kommen kann (vgl. Riedel 2015, 150). Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir auch im Alter Zufriedenheit und Glück erfahren. Solange wir an dem festhalten, was nicht mehr ist, werden wir vergeblich danach suchen, weil das, was uns bisher Erfüllung, Zufriedenheit, Glück bescherte, uns im Alter nicht länger die erwünschte Erfüllung schenken wird. Dahin zu kommen, ist nicht leicht. Wir haben uns an unseren Zustand gewöhnt, es uns eingerichtet. Wir sind zufrieden damit, wie es in unserem Leben im Moment aussieht. Jetzt soll sich das ändern. Sollen wir uns verabschieden von dem, woran wir uns gewöhnt haben. Doch, wenn wir ehrlich sind und genauer hinschauen, merken wir, dass sich in der letzten Zeit etwas verändert hat, es vielleicht doch nicht mehr so gut läuft wie früher. Wir schneller müde werden, es uns öfters nach Hause zieht, um unsere Ruhe zu haben, statt auf eine Fete zu gehen oder an einem Event teilzunehmen. Wir ahnen, dass sich etwas in unserem Leben verändern müsste, wir etwas verändern müssten. Doch es geht uns so wie jenem Passagier, von den Mathias Jung (2004, 107) in folgender kleinen Episode auf humorvolle Weise berichtet: »Ein Mann sitzt im Bummelzug. Bei jeder Station steckt er den Kopf zum Fenster hinaus, liest den Ortsnamen und stöhnt. Nach einigen Stationen fragt ihn sein Gegenüber besorgt: ›Tut Ihnen etwas weh? Was ist los?‹ Da antwortet der Mann: ›Eigentlich müsste ich aussteigen. Ich fahre dauernd in die falsche Richtung. Aber hier drin ist es so schön warm.‹« Wollen wir bis zum Schluss ein erfüllendes Leben führen, wollen wir nicht einrosten, sondern an unserem Wachstumsprozess mitwirken, müssen wir den Mut haben, immer wieder die Komfortzone zu verlassen. Vertrautes hinter uns lassen. Wir müssen am Ball bleiben, flexibel sein. Das gilt auch für die letzte Lebensphase, wollen wir, dass sie eine erfüllte Zeit für uns ist, an deren Gestaltung wir uns aktiv beteiligen. Statt es uns einzurichten und so zu leben, wie wenn wir bereits mit dem Leben abgeschlossen haben und passiv das Ende erwarten. Erst wenn wir immer wieder loslassen, uns aufraffen, die Komfortzone verlassen, schaffen wir Platz und setzen wir die Energie frei, die wir benötigen, um Neues planen, ausprobieren und wagen zu können. Wir gehen zielsicher dem Ende entgegen
Die Kunst des Altwerdens, das wird an dieser Stelle deutlich, verlangt uns einiges ab. Zunächst mag man denken, Kunst ist etwas Spielerisches, hat mit Muße zu tun und dürfte uns eher leicht von der Hand gehen. Doch Kunst kennt auch einen bestimmten Anspruch, ist darauf aus, etwas Besonderes zu schaffen, das sich vom Alltäglichen unterscheidet. Das geht auch mit einem großen Engagement einher, kann anstrengend und aufreibend sein. Die Aufgabe der Kunst, so eine Künstlerin, bestehe darin, die Realität schöner zu machen. Zumindest, so würde ich ergänzen, die Realität mitzugestalten. Beim Übergang in die letzte Lebensphase besteht die Kunst des Altwerdens darin, uns einen Schubser zu geben, damit wir den Übergang gut hinbekommen. Sie muss uns das schmackhaft machen. Wie ich das gerade auch versuche, indem ich darauf hinweise, dass wir etwas dafür bekommen, wenn wir diesen Schritt wagen: wir uns von dem, was nicht mehr ist, verabschieden und uns auf das einlassen, was uns jetzt bevorsteht. Also, geben wir uns einen Ruck. Springen wir im übertragenen Sinn auf den fahrenden Zug. Denn wir gehen ohnehin zielsicher, ohne dass sich dies stoppen ließe, dem Ende entgehen. Das trifft auf das ganze Leben zu, bei dem wir von Anfang an unaufhaltsam auf das Ende zugehen. Aber solange wir jung sind oder uns in den mittleren Lebensjahren befinden, spielt das in der Regel keine große Rolle. Jetzt aber, wenn der Abend des Lebens beginnt, rückt das Ende immer näher und wir können dieser Tatsache nicht länger aus dem Weg gehen oder sie verdrängen. Wir sollten das auch nicht tun. Vielmehr sollten wir ein klares »Ja« zu dieser letzten Lebensphase sagen und uns auf die äußeren und inneren Prozesse einlassen, die auf uns zukommen. Wir sollten bereit sein, uns ihr zu stellen, sie ganz bewusst in den Blick zu nehmen. Die Möglichkeiten, die uns dieser letzte Lebensabschnitt bietet, für uns zu entdecken und zu nutzen, und die Schwierigkeiten, mit denen wir zu rechnen haben, gut zu meistern. Wir tragen bei einer solchen Einstellung dazu bei, ganz normal älter zu werden. Wir akzeptieren, dass wir älter werden, wir diesen Prozess nicht aufhalten können. Dass uns, selbst wenn wir es versuchen wollten, uns dagegen aufzulehnen, die Wirklichkeit einholen wird. Die aber besteht darin, dass wir mit jedem neuen Tag, Monat, Jahr dem Ende näherkommen. Auch uns am Ende unausweichlich ereilen wird, was jeden Menschen ereilt: der Tod. Eigentlich ist das selbstverständlich und vom Kopf her wissen wir das. Doch es ist verständlich, dass es uns zunächst schwerfällt, das zu akzeptieren. Wenn wir merken, wie ein Tag nach dem anderen, ein Jahr nach dem anderen vergeht,...