E-Book, Deutsch, 500 Seiten
Müller Quintessenz: Wofür es sich lohnt zu leben
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95612-300-9
Verlag: opus magnum
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Band 1: Therapeut*innen ziehen Bilanz
E-Book, Deutsch, 500 Seiten
ISBN: 978-3-95612-300-9
Verlag: opus magnum
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bekannte Autor*innen und Psychotherapeut*innen sollten zwei Fragen beantworten. Die erste Frage war, was sie aufgrund ihrer Lebenserfahrungen für eine Bilanz ziehen im Hinblick auf das, was ihnen Sinn gegeben hat und - die zweite Frage -, was sie davon als wesentliche Einsichten gerne an ihre Mit- und Nachwelt weitergeben würden.
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Klaus Aichele - Quintessenz – Wozu es sich lohnt zu leben
Wozu es sich lohnt zu leben?
Wann habe ich mir diese Frage zum ersten Mal in meinem Leben gestellt? Ich weiß es nicht mehr, bin aber ziemlich sicher, dass es nicht im Kindesalter war. Da war Kriegs – und Nachkriegszeit. Da war es wichtig, mit anderen zu spielen, mit meinem älteren Bruder im Garten, mit Freunden aus der Nachbarschaft auf der Straße vor dem Haus, Fußball zu spielen, Fahrrad zu fahren. Oder in der Schule einigermaßen gut durchzukommen. In meinem Beruf als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut habe ich erfahren, dass auch Kinder schon fragen können, ob es sich zu leben lohnt, wenn sie ihre Eltern verlieren durch Tod oder auf der Flucht, wenn sie unter der Trennung der Eltern oder unter der Ablehnung durch ihre Eltern oder unter deren gewalttätigem Verhalten leiden. Diese Frage ist dann oft hinter ihren Ängsten verborgen, deretwegen sie in die Psychotherapie kommen. Und doch habe ich auch dies oft erlebt – sowohl in der Praxis wie in der Gruppe von Flüchtlingskindern im Container –, dass Kinder leben wollen, mit anderen zusammen spielen wollen. ... angesichts der Berufswahl
Zum ersten Mal wurde für mich die Frage, wozu es sich lohnt zu leben, in der Oberstufe deutlicher, als es um die Berufswahl ging. Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für das Studium der evangelischen Theologie. Ein Freund aus dem Jugendkreis der Kirchengemeinde hatte mir von seinen Erfahrungen aus den ersten Semestern berichtet, und nach einigen Gesprächen mit meinen Eltern und dem Gemeindepfarrer schien mir dieser Beruf „lohnend“. Ich würde damit nicht reich werden, aber wohl auch nicht arbeitslos. Dafür würde es sich lohnen zu leben. Im Laufe des Studiums und in ständigem Austausch mit meinen Studienfreunden war es immer wieder diese Frage, die uns beschäftigte, wozu es sich zu leben lohnt – oder eben auch die Frage nach dem Sinn des Lebens. In der Bibel, bei den Kirchenvätern und Theologen und auch bei den Philosophen der vergangenen Jahrhunderte suchten wir nach Antworten. Am meisten überzeugte uns als Antwort die Botschaft des Jesus von Nazareth, die Aufforderung zur Nächstenliebe, die Jesus so überzeugend lebte. Das war eine gute Antwort, wozu es sich zu leben lohnte, die Nächstenliebe wollten wir auch leben – so gut wir es eben konnten – in unsrem persönlichen Umfeld, aber auch in den gesellschaftlichen und politischen Fragen, in der Welt, in der Millionen Menschen unter Hunger, Armut, Diktatoren, Kriegen leiden mussten. Darin sahen wir den „großen“ Sinn des Lebens: die Welt menschlicher und friedlicher zu machen – oder wenigstens dazu beizutragen. Wir engagierten uns bei Kirchentagen, beim Ostermarsch, in der Friedensbewegung, gegen die Atomwaffen ... . Davon waren dann auch meine ersten Berufsjahre bestimmt, in der eigenen Familie mit inzwischen drei Kindern, im Kreis der Freunde und Kollegen, in der Arbeit in der Kirchengemeinde. Ich glaube, wir haben aber dann doch ziemlich bald gespürt, dass es schon Veränderungen in der Welt geben kann, aber dass – wie wir damals sagten – die Welt leider „nicht die beste aller Welten“ ist. Neue Richtungen entwickeln sich
Die Veränderungen in den folgenden Jahren gingen für mich in zwei Richtungen: Zum Einen meldeten sich bei mir zunehmend kritische Gedanken im Blick auf die Frage, ob Gott – wie es in der Bibel heißt – die Welt wirklich so geschaffen hat, wie wir es im christlichen Glaubensbekenntnis sprechen. Was ist dann mit all der Unmenschlichkeit, mit all dem unverschuldeten Leiden der Menschen? Es war die „alte Theodizee-Frage“, auf die ich keine Antwort mehr fand. Erst Jahre später, als ich dann die Schriften und Gedanken C. G. Jungs kennenlernte und seine Autobiografie Erinnerungen, Träume, Gedanken (Jung/Jaffé, 1962) las, habe ich eine Antwort gefunden und ein neues Verständnis von Religion, Glaube, Gott. Eine Äußerung Jungs hat für mich das Problem des Glaubens an Gott letztlich gelöst, wenn er – sinngemäß – schreibt, dass Gott ein Geheimnis sei, und dass alles, was wir von ihm sagen, in unsrer menschlichen Sprache gesagt sei – wie er oder sie oder es aber in Wirklichkeit ist, wissen wir nicht. Die andere Richtung, in die in den folgenden Jahren meine Gedanken und Fragen gingen, war die Frage nach der Seele. Was wissen wir eigentlich von der Seele? Was ist seelisch? Was ist seelisches Leiden? Ich wollte ja als Pfarrer auch „Seelsorger“ sein, hatte aber das Gefühl, dass ich von der Seele nicht viel verstand. Als ich dann bei der Telefonseelsorge mitzuarbeiten begann, wurde ich sehr deutlich mit seelischem Leiden, das sich in Konflikten, Depressionen oder suizidalen Absichten der Anrufer äußerte, konfrontiert. Die Menschen, die mich anriefen, waren in für sie unlösbare Situationen gekommen oder konnten keinen Sinn mehr im Leben sehen. Die Ausbildung am C. G. Jung-Institut in Stuttgart und die Berufsjahre als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut haben dann allmählich mein Leben verändert. Ich fand Zugang zu einem tieferen Verstehen der Seele, den seelischen Vorgängen, die von den Träumen bis zu den seelischen Leiden und Erkrankungen reichen. Obschon man es sich nicht kann träumen lassen, das Geheimnis der Seele je auszuschöpfen, so scheint es mir doch zu den vornehmsten Aufgaben des menschlichen Geistes zu gehören, unermüdlich um eine stets sich vertiefende Erkenntnis des seelischen Wesens sich zu bemühen.
(C. G. Jung, GW 18/II, § 1729) Dass ich damit sozusagen eine „Wendung nach Innen“ erlebte, wurde mir zunehmend bewusst, hielt mich aber nicht davon ab, mich mit den „äußeren“ Situationen und Verhältnissen intensiv zu beschäftigen, sozusagen das „Individuelle“ und das „Kollektive“ im Blick zu haben. Erkenne Dich selbst
Um wieder auf unsere Frage, wozu es sich zu leben lohnt, zurückzukommen, möchte ich für meine Antwort heute den uralten Satz der alten Weisen, zitieren: „Gnothi seauton“ – „Erkenne Dich selbst.“ Diese Aufforderung wurde bereits dem griechischen Gott Apollon, dem Gott des Lichts, der Heilung und der Künste, zugeschrieben. Das stand auch im Zentrum des Lebenswerks von C. G. Jung: Er wollte in das innerste Geheimnis der menschlichen Seele vordringen und hat von daher immer wieder auf die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis hingewiesen, z. B. in seinen Briefen (C. G. Jung, Briefe III, S. 284): „Das einzige, was wirklich hilft, ist die Selbsterkenntnis und die dadurch bewirkte Änderung der geistigen und moralischen Einstellung.“ Und in seinem Spätwerk Mysterium Coniunctionis (C. G. Jung, GW 14/II, § 298): „Selbsterkenntnis ist ein Abenteuer, das in unerwartete Weiten und Tiefen führt.“ Dass man mit der Selbsterkenntnis nie zu Ende ist, versteht sich von selbst – es ist vielmehr ein Weg, auf den man sich einlässt. Deshalb könnte man auch von Schritten zur Selbsterkenntnis sprechen. Etwas von der Seele verstehen, Schritte zur Selbsterkenntnis zu gehen, bedeutet zugleich, Schritte auf dem Weg, selbst zu werden, zu gehen. Jung hat dies beschrieben als Individuationsprozess: „Individuation bedeutet, zum Einzelwesen zu werden, und insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst zu werden.“
(C. G. Jung, GW VII, § 266) Es hat einige Zeit gedauert, bis ich in meinem Leben ein Gefühl dafür bekommen konnte, ein individueller Mensch zu sein, mich von anderen Menschen unterscheiden zu können und zu dürfen, die Verschiedenheit der Menschen zu akzeptieren. Zugleich erlebte ich für mich eine zunehmende Eigenständigkeit in meinen Gedanken und meinem Verhalten, eine zunehmende Unabhängigkeit von anderen Menschen, fühlte mich nicht mehr wie früher abhängig von der Meinung oder dem Verhalten anderer, gewann letztlich größere „innere und äußere Freiheit“. „In creation you are created ...“
In verschiedener Hinsicht zeigte sich dies in neuen Schritten in meinem weiteren Leben. Zum Einen begann ich meine eigenen schöpferischen und kreativen Möglichkeiten und Fähigkeiten deutlicher zu erkennen und zu erleben, indem ich begann, zu malen, zuhause oder in Malkursen im Freien. Dabei erlebte ich, was Jung zu sagen pflegte: „In creation you are created.“ Oder ich beschäftigte mich mit Bildern von alten und neuen Malern und besuchte mit meiner Familie Kunstausstellungen in den verschiedensten Ländern. Dies führte wohl auch dazu, dass unser ältester Sohn sich dann dem Studium der Malerei und Kunsterziehung zuwandte. Sodann begann ich, nachdem ich schon als Jugendlicher Klavier- und Orgelunterricht hatte, mich wieder mehr der Musik zuzuwenden, besuchte viele Konzerte und begann, selbst in einem Chor mitzusingen, der sich den Aufführungen großer Messen von Beethoven, Mendelsohn oder auch McCartney widmete. Dass das Hören von Musik und besonders das Singen die Menschen glücklich macht, weniger einsam und gelangweilt, hat inzwischen auch die neurowissenschaftliche Forschung (vgl. Spitzer, 2004) bestätigt. Und da ich von früher Kindheit an immer gern spielte, damals schon Regelspiele wie Mühle oder Dame, aber vor allem auch draußen mit anderen Kindern, meist Fußball usw., hatte ich dann das Glück, auch in meinem Beruf als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut beruflich spielen zu dürfen – und das überwiegend mit großer Freude. C. G. Jung schien es ähnlich gegangen zu sein, als er entdeckte, wie hilfreich es für ihn war, am Ufer des...