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E-Book, Deutsch, 688 Seiten

Müller Kompass politischer Kultur

Verantwortlich handeln in verwirrenden Zeiten

E-Book, Deutsch, 688 Seiten

ISBN: 978-3-451-83443-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unsere demokratische Ordnung gerät zunehmend unter Druck, der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in Gefahr. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, ist ein umfassender Konsens nötig, der sich vor allem darauf konzentriert, wie Politik gemacht wird; und nicht: welche. Die gemeinsame Klammer sind Ganzheitlichkeit, Rationalität, Ethik und praktische Verantwortlichkeit. Ulrich Müllers Buch richtet sich an alle, die Politik verstehen, erklären, betreiben oder sie verbessern wollen. Es bietet einen breiten Überblick über die verschiedensten Themen und ist insofern ein Kompass zur praktischen Politik, wie sie sich auf den unterschiedlichen Ebenen der Republik vollzieht.
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A Zum Einstieg in Problem und Lösung
I Verwirrende Zeiten?
Über seine Mitmenschen konnte man schon immer den Kopf schütteln. Insofern waren die Zeiten noch nie „normal“. Ist es da gerechtfertigt, gerade gegenwärtig von „verwirrenden Zeiten“ zu sprechen, und wenn ja: Was lehrt uns die Diagnose? Vier ein Gemeinwesen belastende gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich in den letzten Jahren belegen:   dass ein Teil der Bevölkerung, irgendwo bei 10–20 Prozent, mit Informationen und Fakten schlicht nicht zu erreichen ist, und zwar bemerkenswerterweise nicht aus Mangel an Bildung, sondern wegen einer wohl nur psychologisch zu erklärenden Voreingenommenheit, dass die Zustimmung zu unserer Staatsordnung (u. a. Demokratie) und unserer politischen Ordnung (u. a. Parteiensystem) abnimmt, vor allem im Osten Deutschlands, und dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung seine Unzufriedenheit nur in Protest, Protestparteien, Verweigerung (Wahlenthaltung) und Kritik ohne Alternative zum Ausdruck bringt, dass das Aggressionspotential gegenüber Mitmenschen, vor allem solchen, die das Gemeinwesen ausmachen, seit zwei Jahrzehnten zunimmt und sich auf vielerlei Weise in unangemessenem Verhalten ausdrückt und dass die Neigung, seine Meinung aggressiv öffentlich darzutun bis hin zu Gewalttätigkeiten und Verfassungsfeindlichkeit, sich immer wieder Bahn bricht, dass der Umgangston von Menschen untereinander, sei es verbal, im persönlichen Umgang, schriftlich oder vor allem virtuell (die berüchtigten „Shitstorms“) rauer und zügelloser wird.   Bei allen vier Entwicklungen fragt man sich: Warum? Warum ist in einer Zeit höherer Durchschnittsbildung, jederzeit verfügbarer Informationen und wachsenden Gewichts wissenschaftlicher Erkenntnis die Realitätsverweigerung mit einer trotzig-selbstbewussten Attitude so ausgeprägt, dass man auch von verwirrten Zeitgenossen sprechen könnte? Warum sind ausgerechnet die Helfer ihrer Mitmenschen, Polizei, Feuerwehr, Sanitäts- und ärztliches Personal Ziel besonderer Angriffe? Warum sind auch Kommunalpolitiker, Beamte, Lehrer zu Hassobjekten geworden? Und warum pflanzt sich die Entwicklung in einem hässlicher werdenden Umgangston fort – trotz aller wohlfeilen Appelle zu „Toleranz, Respekt und Offenheit“ gegenüber Andersdenkenden, aber auch gegenüber Verkäufern, Dienstleistern, Kollegen und Mitschülern? Anspruchshaltung, Mobbing, Ellbogenmentalität, Hass und Hetze nehmen zu. Vor allem ist in Umgang, Ton, Stil, Formen, Sprache eine Radikalisierung und Primitivisierung zu beklagen – jenseits aller (politischen) Inhalte. Der zunehmend schlimmer werdende Umgang miteinander (für den die Politik gerne als Sündenbock in Anspruch genommen wird) macht die Beteiligten zunehmend unglücklich. Seneca hat es trefflich formuliert: „Die Bosheit trinkt den größten Teil ihres Giftes selber.“ Nur schade, dass weise Gedanken gerade dann verkannt werden, wenn sie am nötigsten wären. Besonders verwirrend und besorgniserregend ist die Distanzierung von unserer politischen Kultur, z. T. auch dem ökonomischen (soziale Marktwirtschaft) und gesellschaftlichen System (Bürgergesellschaft freier, verantwortlicher und aktiver Bürger). Diese Trends sind messbar (z. Zt. hat sich gut ein Drittel von unserer politischen Ordnung distanziert/absentiert), und sie sind selbstverständlich hochrelevant für die Zukunft unseres Landes. Auch hier die Frage: Warum? Warum verliert eine Ordnung an Zustimmung, die in unserer Geschichte wie keine und im globalen Maßstab wie kaum eine andere nach Diktatur, Krieg, Niederlage, Vertreibung und Teilung so viel an Positivem für die Menschen erreicht hat? Warum verliert eine Ordnung ausgerechnet bei den Hauptbetroffenen in einem Erosionsprozess so sehr an Zustimmung, die eine kommunistische Diktatur abgelöst und die Menschen von ihren Folgen erlöst hat? Dabei ist es nicht tröstlich, sondern im Gegenteil Indiz für einen tiefgreifenden Wandel, wenn man feststellt, dass die eben beschriebenen Entwicklungen keine deutschen Besonderheiten sind, sondern praktisch alle westlichen Industrieländer erfasst haben. Stand die bisherige Akzeptanz nur auf den tönernen Füßen einer guten wirtschaftlich-sozialen Entwicklung ohne eine Überzeugung, die auch in schlechten Zeiten tragfähig ist? Hat alle politische Aufklärung, alles Wirken von Bildung und Medien, alles an Angeboten, sich einzubringen, nicht verhindern können, dass bei einem beträchtlichen Teil des Publikums die mal nachvollziehbare, mal diffuse Kritik an der jeweils aktuellen Politik nicht einfach den Regierenden, sondern gleich unserer Verfasstheit in Staat und Gesellschaft ohne weitere Differenzierung entgegengehalten wird? Warum funktioniert das Wechselspiel von Regierung und Opposition als einem System kommunizierender Röhren nicht mehr, sondern kommt es zum Exodus: Weder das eine noch das andere? „Exodus“, das kann man wörtlich nehmen, wenn man sich die Ergebnisse der Studie des Rheingold-Instituts anschaut, die nicht nur einen verbreiteten Rückzug ins Private als Flucht vor den schlechten Nachrichten feststellt, sondern auch eine Abschottung von 60 Prozent der Menschen gegenüber den Informationen über das Weltgeschehen. Die Mehrheit ist damit für vieles unerreichbar geworden. Und was soll man mit einer platten Pauschalkritik anfangen, die nur in ihren Unmutsäußerungen zu mobilisieren versteht, aber keine Alternative zu bieten hat, die sich nicht einmal in ihrer Kritik einig ist, sondern nur ein Sammelbecken derer ist, die wirklich Probleme haben, aber auch derer, die glauben, unter die Räder gekommen zu sein, und derer, die sich marginalisiert fühlen? Geht es dabei nur um eine enttäuschte Erwartung an staatliche und wirtschaftlich-soziale Funktionserfüllung oder vielleicht auch um das Gefühl, aus den politischen Debatten unserer Tage mit ihren Political-Correctness-Standards ausgegrenzt worden zu sein, weder zu verstehen noch verstanden zu werden? Wie stabil ist unsere Ordnung, wenn sie zunehmend Belastungen und Herausforderungen unterliegt, aktuelle und strukturelle Krisen bewältigen muss, Belastungen auch auferlegen und verteilen muss und Fehler gemacht werden? Speziell in Ostdeutschland vollziehen sich viele dieser Erosionsprozesse sehr viel stärker als im Westen Deutschlands – erstaunlicherweise je weiter von 1990 entfernt desto mehr. Die soziale und ökonomische Angleichung hat keine mentale Assimilation zur Folge. Die Entwicklung – ausgedrückt z. B. im Protest und in Fruststimmen für die AfD – schadet der politischen Kultur, der Einheit unseres Landes und vor allem den deprimierten Menschen. Vielleicht lässt sich nachholen, was nach 1990 versäumt wurde: Ein breit angelegter demokratischer Bildungsprozess, der zwar überall nötig ist, aber nicht überall gleich dringlich. Nicht nur Menschen ist Resilienz zu wünschen, sondern auch dem System, das durch die Abwendung eines erheblichen Teils seiner Bürger an innerer Stabilität verliert – verwirrende Zeiten. Wir sollten vermeiden, diese Beobachtungen so zu deuten, dass alle unsere Mitbürger oder auch nur ein großer Teil die genannten Fehlhaltungen an den Tag legen. Aber schon eine relevante Minderheit genügt, um sich Sorgen zu machen – wegen einer möglichen sich selbst tragenden Eskalation, wegen der Vergiftung des Klimas bis hin zur Unlösbarkeit von Sachfragen und einfach auch im Interesse derer, die unter solchem Fehlverhalten leiden. Von Bedeutung sind diese immer wieder aufflackernden und sich vertiefenden Trends auch deshalb, weil der Einzelne, die Gesellschaft, Medien, Politik und Staat ihnen ratlos und erfolglos gegenüberstehen. Ist erst einmal weder klar noch verhaltensbestimmend und verbindlich, „was man tut und was man nicht tut“, wird es schwierig, solche ungeschriebenen und internalisierten Regeln zum gesellschaftlichen Zusammenleben aufzustellen und „einzupflanzen“. Wie kommt man wieder zu ihnen, sofern man sie verloren hat? Auch ist festzuhalten, dass es sich hier eigentlich „nur“ um Stil-, Verfahrens-, Methoden- und Verhaltensfragen handelt. Aber was heißt schon „nur“? Ihr Gewicht kann man an der Eigendynamik und den Folgen für das Zusammenleben und die Politik erkennen. Und schon mit der bloßen Feststellung inhaltlicher Austauschbarkeit solcher Fehlhaltungen zeigt sich, dass auch deren Überwindung ganz wesentlich auf der Ebene von Stil-, Verfahrens-, Methoden- und Verhaltensfragen liegen muss, soll eine Korrektur gelingen. Natürlich haben Veränderungen auf diesem Feld dann auch inhaltliche Konsequenzen. Um beides – Verfahrensfragen wie inhaltliche Folgen – wird es in dieser Abhandlung gehen. Welches sind die Fugen, aus denen die Welt geraten ist? Teils als Erklärung, teils als Ergänzung der vier oben genannten Phänomene muss man darüber hinaus konstatieren:   Wir befinden uns in einer (statistisch leicht belegbaren) Phase abnehmender religiöser und kirchlicher Bindung. Auch die Bindungskraft der politischen Parteien lässt nach. Weltweit verlieren die Parteien in der politischen Mitte, werden die Ränder stärker und bleiben oft nur noch lagerübergreifende, durch Mehrheitsverhältnisse erzwungene und damit ungeliebte Koalitionen, was...


Müller, Ulrich
Ulrich Müller war von 1998 bis 2004 Umwelt- und Verkehrsminister in Baden-Württemberg und 2004 bis 2005 dort Staatsminister. Von 1992 bis 2016 war er Abgeordneter im bande-württembergischen Landtag.

Ulrich Müller war von 1998 bis 2004 Umwelt- und Verkehrsminister in Baden-Württemberg und 2004 bis 2005 dort Staatsminister. Von 1992 bis 2016 war er Abgeordneter im bande-württembergischen Landtag.


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