Müller / Koller / Nowara | Maßregeln auf dem Prüfstand | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 218 Seiten

Müller / Koller / Nowara Maßregeln auf dem Prüfstand

Ist die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB reformbedürftig?
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-035986-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ist die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB reformbedürftig?

E-Book, Deutsch, 218 Seiten

ISBN: 978-3-17-035986-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Konzept der präventiven Unterbringung von Tätern mit einer psychischen Störung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB wird heute unter verschiedensten Gesichtspunkten in Frage gestellt: Jede vierte Unterbringung dauert länger als 10 Jahre und die Kliniken sind vielerorts überbelegt. Eine Behandlung ist in der Regel nur mit Einwilligung der Betroffenen möglich. Die Zuständigkeit der Psychiatrie für nicht behandlungswillige Untergebrachte wird zunehmend kritisch gesehen. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention wirft grundsätzliche Fragen auf. In diesem Buch beleuchten internationale forensische Experten die Unterbringungspraxis und diskutieren Alternativen.

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1 Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: gestern, heute – und morgen?
Matthias Koller 1.1 Der Weg zum zweispurigen Strafrecht
Das deutsche Strafrecht verfolgt zwei Spuren der Reaktion auf rechtswidrige Taten, die den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen: die Spur der vergeltenden und Schuld ausgleichenden Bestrafung und die Spur der präventiven Unterbringung zur Besserung und Sicherung. Das war nicht immer so. Ursprünglich kannte das deutsche Reichsstrafgesetzbuch nur die eine Spur des dem Vergeltungsgedanken verpflichteten Strafens. Mit seiner als »Marburger Programm« berühmt gewordenen Marburger Antrittsvorlesung über den »Zweckgedanke?[n] im Strafrecht« gab der in Österreich geborene und in Deutschland lehrende Rechtswissenschaftler und nachmalige Reichstagsabgeordnete Franz von Liszt 1882 dann allerdings einen entscheidenden Anstoß zur Ausbildung eines zweispurigen Sanktionensystems im Strafrecht. Dabei ging es von Liszt anfangs tatsächlich nur um die Strafe und darum, ob diese »als Vergeltung begriffsnotwendige Folge des Verbrechens oder ob sie als Form des Rechtsgüterschutzes zweckbewußte Schöpfung und zielbewußte Funktion der staatlichen Gesellschaft« sei und ob sie ihren zureichenden Grund allein »in der Sühne der Vergangenheit – quia peccatum est – [...] oder [...] in der Wirkung auf die Zukunft – ne peccetur –« finde (v. Liszt 1883, S. 1). Von Liszt wollte beide Aspekte – den im reinen Vergeltungs- und Sühnegedanken wurzelnden »absoluten Ursprung« der Strafe und ihre Weiterentwicklung durch den Zweckgedanken – in einer »Vereinigungstheorie« zusammenführen (v. Liszt 1883, S. 7). »Die möglichen wesentlichen Wirkungen der Strafe und damit zugleich die möglichen Formen des Rechtsgüterschutzes durch Strafe« erblickte er dabei in der »Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher«, in der »Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher« sowie in der »Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher« durch »Einsperren« zum Schutz der Gesellschaft auf Lebenszeit oder doch auf unbestimmte Zeit (v. Liszt 1883, S. 35?f., 39). Die Diskussion der folgenden Jahre und Jahrzehnte brachte dann die weitere Ausdifferenzierung dieses Ansatzes. Diejenigen, die Strafe weiterhin als reine Vergeltungsstrafe verstehen wollten, wandten gegen ein am präventiven Rechtsgüterschutz ausgerichtetes Strafen ein, dass die Strafe nach Art und Maß der Schwere der begangenen Tat entsprechen müsse und daher die Berücksichtigung der Gemeingefährlichkeit des Täters die Forderungen der Gerechtigkeit verletzen und eine Anhaltung auf unbestimmte Zeit dem innersten Wesen der Strafe widersprechen würde. »Die allmähliche Klärung der Meinungen« führte aber dazu, »dass auch von dieser Seite einer in der Dauer unbestimmten Anhaltung dieser Personen nach Verbüssung der Strafe zugestimmt wurde; nur soll es sich dabei nicht mehr um Strafe, sondern um eine ›sichernde Massnahme‹ handeln.« (v. Liszt 1914, S. 199). Rechtsdogmatisch war das sicher mehr als ein bloßer »Streit um die Terminologie«, wie von Liszt lakonisch formulierte (a.?a.?O.) – es war die Grundlegung der zweiten Spur des Strafrechts, nämlich der präventiven Maßregeln. Zugleich war damit das Tor für die sichernde strafrechtliche Unterbringung von Tätern eröffnet, die Rechtsgutsverletzungen begangen hatten, als »gemeingefährlich« eingeschätzt wurden, jedoch »bisher wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit freigesprochen werden müssen, ohne dass irgend welche Massregeln zum Schutze der Gesellschaft getroffen werden können.« (v. Liszt 1914, S. 200). Gebahnt war damit außerdem der Weg zur Maßregel-Unterbringung »vermindert zurechnungsfähige?[r] Personen«, die als »gemeingefährlich« eingeschätzt wurden. Als unbefriedigend wurde es nämlich empfunden, dass vermindert zurechnungsfähigen Tätern zwar eine Strafmilderung gewährt werden konnte, dass diese Täter dann aber nach Verbüßung der gemilderten Strafe auch bei fortbestehender Gefährlichkeit auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Dem sollte durch die Ermöglichung einer Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt nach Verbüßung der Strafe begegnet werden. Schließlich sollte auch eine zeitlich auf höchstens zwei Jahre befristete Unterbringung zurechnungsunfähiger und gemindert zurechnungsfähiger und als gefährlich eingeschätzter Alkoholiker in einer Trinkerheilanstalt ermöglicht werden (v. Liszt 1914, S. 200). Bemerkenswert ist, dass und wie von Liszt seine Überlegungen breit fundierte. Er beschränkte sich keineswegs auf eine Auseinandersetzung mit den »gängigen« philosophischen Begründungen des Strafens, etwa durch Kant, Hegel, Fichte und Feuerbach, und deren Auswertung durch die Strafrechtswissenschaft. Vielmehr berücksichtigte er auch Ergebnisse der verfügbaren Kriminal- und insbesondere der Rückfallstatistik, der er einen Anstieg des prozentualen Anteils der Rückfälligen an der Gesamtzahl der Verurteilten und eine hohe Vorstrafenbelastung der Inhaftierten in Württemberg und Preußen entnahm, die nach seiner Auffassung für die Erforderlichkeit sichernder Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft sprachen (v. Liszt 1883, S. 37?f.). Bemerkenswert ist außerdem, dass die lebhafte Diskussion keineswegs auf Deutschland begrenzt war, sondern von Anfang an auch Österreich und die Schweiz einbezog. So legte der Schweizer Strafrechtler Carl Stooss bereits 1893 einen »Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch« vor (Stooss 1893), der vorsah, »Unzurechnungsfähige« und »vermindert Zurechnungsfähige« in einer »Anstalt« – gemeint war: in einer psychiatrischen Einrichtung, in der damaligen Terminologie: einer »Irrenanstalt« –, zu »verwahren«, wenn und solange die öffentliche Sicherheit dies erforderte (Art. 10), Trinker unabhängig von einer Bestrafung, also auch bei Unzurechnungsfähigkeit, für bis zu zwei Jahren in einer Heilanstalt für Trinker unterzubringen, wenn dies geboten erschien (Art. 26), und gegen rückfällige Verbrecher die Verwahrung auf 10?–?20 Jahre zu verfügen (Art. 23 und 40). Und auch in Österreich und Deutschland wurden schon früh eine ganze Reihe von – teilweise aufeinander abgestimmten – Entwürfen zur Einführung eines zweispuriges Sanktionensystems diskutiert. In der Schweiz wurden die Ansätze aus dem Stooss'schen Vorentwurf nach weiterer Diskussion und Bearbeitung schließlich durch das Schweizerische Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (Bundesblatt vom 29. Dezember 1937, Bd. III, S. 625) in Gesetzesrecht umgesetzt, das am 1. Januar 1942 in Kraft trat und damit zugleich die bis dahin bestehenden kantonalen Regelungen außer Kraft setzte. Seither sind die Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches, auch soweit sie das Maßnahmenrecht betreffen, zwar wiederholt überarbeitet und angepasst worden. An dem zweispurigen System von Strafen und Maßnahmen ist dabei aber festgehalten worden. Allerdings knüpft der Gesetzestext in seiner aktuellen Fassung (Stand 01. Juli 2024) für die Anordnung der stationären Behandlung von psychischen Störungen nicht mehr an die Feststellung der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit des Täters an. Vielmehr kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn »der Täter psychisch schwer gestört« ist und seine Tat und seine Gefährlichkeit mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang stehen (Art. 59 Abs. 1 StGB-CH). Auf dieser Grundlage können auch schuldunfähige und vermindert schuldfähige Täter weiterhin in einer stationären therapeutischen Einrichtung untergebracht werden (vgl. Art. 19 Abs. 3 StGB-CH). In Österreich wurden die Überlegungen zu einem zweispurigen Sanktionensystem letztlich erst im Zuge der großen Strafrechtsreform durch das Bundesgesetz vom 23. Jänner 1974 (Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich vom 29. Jänner 1974, S. 641) mit Wirkung zum 1. Januar 1975 umgesetzt, das als vorbeugende Maßnahmen nunmehr die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (§ 21 öStGB), in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher (§ 22 öStGB) sowie in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter (§ 23 öStGB) vorsah. Insbesondere die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher sollte danach – bei entsprechender Gefährlichkeit – sowohl gegen zurechnungsunfähige als auch gegen...


Prof. Dr. med. Jürgen L. Müller ist Professor für Forensische Psychiatrie an der Universitätsmedizin Göttingen und Chefarzt der Asklepios Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen.
Matthias Koller ist Vorsitzender Richter am Landgericht a.D. in Göttingen.

Mit Beiträgen von:
Jürgen L. Müller, Sabine Nowara, Margret Spaniol, Matthias Koller, Harald Dreßing, Elmar Habermeyer, Friederike Höfer, Tilmann Hollweg, Heinz Kammeier, Ramon Krüger, Hans-Joachim Salize, Thomas Stompe und Thierry Urwyler.



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