E-Book, Deutsch, 105 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Müller / Hähnel Was ist, was kann, was soll KI?
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2024
ISBN: 978-3-7873-4674-5
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein philosophisches Gespräch
E-Book, Deutsch, 105 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-4674-5
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vincent C. Müller ist Alexander-von-Humboldt-Professor für »Philosophy and Ethics of AI« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Visiting Professor an der Technical University Eindhoven. Er zählt weltweit zu den führenden Ethikern im Bereich Künstliche Intelligenz.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Mathematik | Informatik EDV | Informatik Technische Informatik Computersicherheit Datensicherheit, Datenschutz
- Geisteswissenschaften Philosophie Moderne Philosophische Disziplinen Philosophie der Technik
- Mathematik | Informatik EDV | Informatik Informatik Künstliche Intelligenz
- Technische Wissenschaften Technik Allgemein Philosophie der Technik
- Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie: Allgemeines, Methoden
- Geisteswissenschaften Philosophie Ethik, Moralphilosophie
- Geisteswissenschaften Philosophie Sozialphilosophie, Politische Philosophie
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martin hähnel: Da wir hier ein dezidiert philosophisches Gespräch führen, bin ich natürlich daran interessiert zu erfahren, was Sie für einen Philosophiebegriff haben, das heißt was Sie allgemein unter Philosophie verstehen?
vincent c. müller: Da beginnen wir gleich mit einer notorisch schwierigen Frage. Denn die Frage, was die Philosophie ist und wie man philosophieren sollte, ist ja bekanntlich selbst eine philosophische Frage. Darin unterscheidet sich die Philosophie von anderen Wissenschaften, dass sie diese Arbeit selbst machen muss. Mein grober Begriff von Philosophie ist, dass philosophische Fragen immer dann auftauchen, wenn man eine beliebige Frage bis zum Grunde weiterverfolgt; also immer tiefer gräbt. Wenn man das tut, dann kommt man irgendwann zu Fragen, die sich darum drehen, was ein bestimmter Begriff bedeuten soll. Also man fragt sich zum Beispiel: Was ist Freiheit oder was ist Schönheit? Philosophische Fragen haben eigentlich alle diese Form: Was ist x? Und für dieses x kommt dann in der Regel ein relativ abstrakter Begriff ins Spiel. Diese Art von Fragen sind also eigentlich begriffliche Fragen, nach meiner Auffassung. Begriffliche Fragen sind in der Geschichte der Philosophie natürlich auf verschiedene Arten und Weisen beantwortet worden.
Meine Herangehensweise an solche Fragen ist, dass wir uns erstens darum kümmern müssen, wie diese Begriffe verwendet werden, also so, wie es die klassische Ordinary Language Philosophy vorschlägt – das wäre die Analyse. Zweitens müssen wir aber darauf schauen, wie es um die Referenten dieser Begriffe steht, wie die Welt beschaffen ist. Und das wird wiederum die Begriffe selbst beeinflussen. Das heißt, man muss die jeweils relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse einbauen, um den Begriff wirklich besser zu verstehen – das wäre die empirische Wissenschaft. So weit handelt es sich bei dieser Auffassung um genau das, was Quine in Two Dogmas of Empiricism gefordert hat.1 Drittens habe ich eine Sympathie dafür, die Begriffe so auszugestalten, wie wir sie brauchen – das wäre der pragmatische Aspekt. Man nennt das heutzutage »conceptual engineering«2, es ist aber eigentlich nichts Neues. Die Idee ist, dass man bei der Methode der Begriffsanalyse nicht erwarten kann, dass sich die richtige Analyse gewissermaßen vorgefertigt irgendwo finden lässt, sondern man muss die Begriffe in einem gewissen Maße erst für unsere Zwecke formen. Und man kann zum Beispiel zu dem Schluss kommen, dass es eigentlich verschiedene Begriffe gibt, die für verschiedene Zwecke nützlich sind. Ich habe zum Beispiel vorhin den Begriff der Freiheit erwähnt. Es ist relativ klar, dass es einen Begriff von politischer Freiheit gibt, der erhebliche Bedeutung hat. Und es gibt einen Begriff von Willensfreiheit, der eine andere Bedeutung in der Philosophie hat, und man sollte, glaube ich, bei solchen Gelegenheiten erkennen und anerkennen, dass es verschiedene Verwendungen bzw. Zwecke für diese Begriffe gibt, und die Begriffe dann dementsprechend ausformen. Schließlich bin ich der Meinung, dass diese grundlegende Arbeit an den Begriffen, die also analytische, empirische und pragmatische Aspekte hat, auch durch die philosophische Arbeit an der KI gemacht werden kann. Ich nenne das KI-Philosophie, weil auch die KI eine sehr nützliche Methode ist, mit der man diese philosophische Arbeit verrichten kann.
martin hähnel: Das bringt mich gleich zu einer Anschlussfrage, wenn Sie von KI-Philosophie sprechen. Diese scheint mir ja vielleicht so eine Art neue philosophische Subdisziplin, ja vielleicht sogar neues Paradigma zu sein, oder? Und da ist natürlich die Frage interessant, wie sich eine KI-Philosophie, die Sie vielleicht dann auch gar nicht so gern als Philosophie der KI bezeichnen würden, in den Kanon der anderen Disziplinen einordnet. Wie verhält sich ihre Vorstellung von KI-Philosophie zum Beispiel zu klassischen Fragen der theoretischen Philosophie? Sie hatten in Bezug auf den Freiheitsbegriff bereits erwähnt, dass eine KI-Philosophie sich mit solchen tradierten Konzepten auseinandersetzen muss, ohne diese übernehmen zu müssen. Und betrachten wir die Ethik, zu der Sie ja auch arbeiten: Wie positioniert sich da eine KI-Philosophie? Ist sie eine neue Form oder weitere Spielart der angewandten Ethik oder angewandten Philosophie?
vincent c. müller: Ich sollte zugeben, dass der Begriff der KI-Philosophie gerade erst erfunden worden ist und wir noch nicht so richtig wissen, wie eine gute Theorie dazu aussehen soll.3 Aber jedenfalls ist die Idee, die wir haben, dass sich die Philosophie durch die Beschäftigung mit der KI selbst verändert. Ich erwarte nicht, dass wir mit KI-Methoden Philosophie machen (das scheint mir ziemlich hoffnungslos), sondern dass wir durch die philosophische Beschäftigung mit dieser speziellen Technologie die Philosophie verändern werden. Es ist ja zunächst nichts Ungewöhnliches, dass die Philosophie durch solche äußeren Einflüsse verändert wird: Marx wurde von den Umwälzungen der Ökonomie verändert, der Wiener Kreis wurde sicherlich stark durch die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und der Mathematik verändert und die Hermeneutiker wurden durch die Bibelinterpretation verändert. Es gibt also Einflüsse von außen, die in der Philosophie eine große Rolle spielen, und mir scheint, dass es sehr naheliegend ist, dass das auch in der KI der Fall sein wird. Das ist eben die Zukunft oder ein Teil der Zukunft. Aber wie genau das stattfinden wird, ist noch nicht klar, wie mir scheint. Wir arbeiten daran.
Was klar ist, ist, dass die KI, weil sie eben das Projekt verfolgt, ein allgemein intelligentes System zu schaffen, in diesem Projekt eine ganze Menge Aspekte einbauen will, die für intelligente Systeme notwendig sind. Und da spielen Erkenntnis und Wahrnehmung eine Rolle und Wille und Werte und Entscheidungen – also Fragen, die in der Philosophie traditionell eine große Rolle spielen. Ich erwarte also, dass man in diesen Fragen auch auf die KI zurückgreifen wird. Eine Methode, diese Idee zu erklären, ist, dass wir in der Philosophie ja eigentlich allgemeine begriffliche Fragen behandeln. Also nicht: Wie ist die Entscheidungsfindung bei Homo sapiens konstruiert? (das wäre eine Frage der Kognitionswissenschaften), sondern: Was heißt es überhaupt, eine Entscheidung zu fällen? Und wenn man diese begriffliche Arbeit macht, dann ist es eigentlich merkwürdig, dass man sich immer nur auf einen einzigen Fall kapriziert, nämlich den menschlichen Fall. Die traditionelle Methode in der Philosophie ist, dass wir uns sehr auf die Menschen konzentrieren, obwohl wir natürlich eigentlich allgemein begriffliche Fragen erforschen und daher eigentlich alle möglichen Systeme in der Welt in Betracht ziehen müssten. Das tun wir in einem gewissen Maße schon in Form von Gedankenexperimenten, die ja in der Philosophie eine große Rolle spielen, so fragen wir uns zum Beispiel, was die Bedingungen dafür wären, dass der liebe Gott eine solche Eigenschaft hat oder Engel oder gelegentlich auch Tiere, je nachdem, um welches Problem es geht.
Aber mir scheint, dass die Beschäftigung mit künstlichen Systemen, auch zum Teil fiktionalen oder noch nicht realisierten künstlichen Systemen, einen interessanten Beitrag zur Begriffsanalyse und Begriffsformung leisten könnte. Ich sollte noch einmal betonen, dass diese Auffassung wirklich eine relativ neue und noch ungeprüfte Auffassung ist. Also die Hauptbeschäftigung der Philosophie mit der KI ist tatsächlich Philosophie der KI und Ethik der KI, was in einem gewissen Sinne angewandte Philosophie ist. Man sollte sich aber jedenfalls dabei vor Augen führen, dass angewandte Philosophie, wie eigentlich jede angewandte Wissenschaft, nicht bedeutet, dass man eine philosophische Lösung quasi in der Tasche hat und dann herauszieht, um sie auf irgendein Problem anzuwenden. Vielmehr resultiert der Versuch dieser Anwendung einer philosophischen Auffassung eigentlich immer in einer Veränderung dieser philosophischen Auffassung selbst. Das ist sogar in der angewandten Mathematik ähnlich, die auch nicht nur bereits vorhandene Mathematik anwendet. Nur deswegen ist Anwendung ja auch philosophisch interessant: Wenn man einfach sagen könnte, wir haben jetzt philosophisch schon das und das herausgefunden und das gilt jetzt auch in diesem Bereich, dann wäre das ja eigentlich furchtbar langweilig.
martin hähnel: Ja, vielen Dank. Also ich glaube, dass das ein ganz spannender Punkt ist. Auch dass man sozusagen eine sogenannte KI-Ethik nicht einfach als so eine Art Bereichsethik neben anderen angewandten Ethiken begreifen sollte, sondern dass sie eben als etwas zu verstehen ist, das sozusagen grundlegenden Einfluss auf unser Denken und Handeln hat, während wir sie praktizieren. Dies hat dann sicherlich...