E-Book, Deutsch, 445 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm
Müller Die Eigensinnige
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-6094-2
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marie von Ebner-Eschenbach und die Macht der Worte. Roman | Die berührende und inspirierende Geschichte einer Frau, die an ihrem Traum festhält
E-Book, Deutsch, 445 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm
ISBN: 978-3-7517-6094-2
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1847. Die Komtesse Marie Dubsky soll in enggeschnürten Kleidern Tänze für ihr Debut in der Wiener Gesellschaft einüben, doch sie galoppiert lieber mit ihrem Schimmel über die Ländereien der Familie. In einer Waldhütte hat sie Bücher und Schreibutensilien versteckt. Seit sie denken kann, will Marie Schriftstellerin werden. Ihre Schreibversuche stoßen in der Familie auf Ablehnung, aber auch auf Sorge. Denn Marie hat eine spitze Feder und beunruhigend fortschrittliche Gedanken. Einzig Cousin Moriz, den sie sich selbst zu ihrem zukünftigen Ehemann auserkoren hat, unterstützt sie zunächst. Doch dann bedroht ihr mutiger Drang, sich öffentlich zu Wort zu melden, auch ihr Liebesglück ...
Lucca Müller, geb. 1968 in Köln, hat dort sowie in Paris und Rom ihren Magister in Germanistik, Philosophie, Italienisch und Theater, Film- und Fernsehwissenschaften erworben. Nach einigen Jahren als Journalistin arbeitet sie nun seit über zwanzig Jahren als Drehbuchautorin.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Zurück im Herrensitz
1847 – fünfundzwanzig Jahre zuvor
Wohltuend blies ihr der frische Aprilwind die feinen Härchen aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. Wie zum Sprung geduckt, schwebte sie über dem Pferderücken. Ihre angewinkelten Knie federten das Hufgetrappel ab, ihr Kinn streifte die Mähne. Über den vorgereckten Pferdekopf hinweg sah sie das Hügelland auf sich zurasen. Jetzt ließ sie die Zügel vollends schießen und flog in gestrecktem Galopp über die saftigen Wiesen, die an die schlosseigenen Felder grenzten. Blätter und Zweige peitschten ihren Körper, als sie durch eine Lücke in der Holunderhecke setzte. Der ergrünende Wald kam schnell näher. Auf ihrer Stirn bildeten sich wenig damenhafte Schweißperlen. Sie wischte sie mit dem Unterarm ab, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln.
Wochenlang hatte sie der Rückkehr aufs heimatliche Gut entgegengefiebert. Hier auf dem mährischen Land galten die starren Regeln nicht, die in den Wiener Wintermonaten die Tage vom ersten Wecken bis zum Zubettgehen einem unerbittlichen Takt unterwarfen. Nun, da ihr Debüt bei Hofe bevorstand, beherrschten die Zwänge ihr Leben noch mehr als zuvor. »Wir sind uns doch sicherlich einig darin, dass es Zeit wird, gewisse kindliche Marotten abzulegen«, wiederholte Maman mindestens dreimal täglich. Selbst hier in Zdislawitz ließ die Gräfin nicht locker, obwohl Wien zwei Tagesreisen entfernt war.
Maman war eigentlich ihre Stiefmutter. Ihre richtige Mutter war tot, zwei Wochen nach ihrer Geburt war sie dem Kindbettfieber erlegen. Auch ihre erste Stiefmutter lebte nicht mehr, sie war gestorben, als Marie acht war. Freundlich und liebevoll war Maman Eugenie gewesen, der bestmögliche Ersatz für eine echte Mutter. Zwei jüngere Brüder hatte sie ihr geschenkt, doch beim dritten Kind hatte auch sie das Wochenbett nicht überlebt. Maries kleiner Halbschwester Sophie war es ergangen wie ihr selbst. Sie beide kannten ihre Mütter nur aus Erzählungen.
Maman Xaverine, die der Vater zwei Jahre darauf heimgeführt hatte, war von anderer Wesensart als ihre Vorgängerin, sie brachte Eleganz in die Familie, aber wenig Wärme. Nie erhob sie die Stimme, nie zeigte sie Ärger oder auch nur Ungeduld. Doch ebenso wenig äußerte sie je echte Freude, Zuneigung oder Begeisterung. Die gute Meinung der Gesellschaft ging ihr über alles. Vermutlich benahm sie sich sogar alleine in ihrem Zimmer so makellos und unangreifbar, als wären die Blicke der gesamten Crème auf sie gerichtet. Es war unvorstellbar, dass sie jemals morgens zerzaust dem Bett entstieg. Von ihren Schützlingen erwartete die Stiefmutter ein ähnlich tadelloses Benehmen, weshalb Maries Verhältnis zu ihr nicht das allerbeste war.
Hier auf dem Land fiel es Marie jedoch leichter, die eigenen Wünsche durchzusetzen. Die Rituale, mit denen sie Frühjahr für Frühjahr ihre Ankunft zelebrierte, ließ sie sich nicht nehmen, wenn es auch Kämpfe kostete.
Wie meistens waren sie am Vorabend erst kurz vor Mitternacht eingetroffen. Das Schloss schlief bereits. Lediglich Zuzana, die Köchin, und Tomas, der Majordomus, waren noch wach, um sie zu empfangen. Seit Marie denken konnte, drückte Zuzana sie und ihre Geschwister jedes Jahr mit der gleichen Herzlichkeit an die Brust, in der man versank und die auf vertraute Weise ein wenig nach Schweiß roch. Bei ihrer älteren Schwester Fritzi getraute sich die Köchin das neuerdings nicht mehr, und gestern Abend hatte sie auch bei ihr gezögert. Doch Marie hatte sich ihr so stürmisch entgegengeworfen, dass der Köchin trotz der indignierten Blicke von Maman keine Wahl geblieben war.
Nach einem nächtlichen Kakao war Marie sofort ins Bett gefallen. Hier auf dem Land schlief sie immer wie ein Stein. Kaum hatte der vertraute Hahnenschrei sie am Morgen geweckt, war sie in ihr Reitkleid geschlüpft und in die Küche geeilt, wo sie die zum Frühstück versammelten Bediensteten begrüßte. Mit einer kleinen Wegzehrung machte sie sich anschließend auf den Weg zu den Stallungen.
Als sie unter den Säulen des Portals hervor auf die Auffahrt trat, lief sie Maman Xaverine in die Arme, die gemeinsam mit Tante Helene das Entladen der beiden Gepäckkutschen überwachte.
»Ein Ausritt? Um diese Zeit? Gewiss ist dir entfallen, dass wir vormittags empfangen«, ermahnte Maman sie.
»Wer soll uns denn besuchen? Wir sind doch gerade erst angekommen.«
»Vergangenes Jahr hat Gräfin Kinsky uns gleich am ersten Tag die Ehre erwiesen.«
»Dann richte ihr meine Hochachtung aus.«
Marie wollte sich abwenden, doch Maman blieb beharrlich. »Das lassen wir gar nicht erst einreißen. Als junge Dame, die du nun bist, solltest du dir ein entsprechendes Benehmen angewöhnen.«
Zaghaft, wie es ihre Art war, mischte Tante Helene sich ein. »Heute könnte man sie doch vielleicht entschuldigen, meinst du nicht?«
Tante Helene war die verwitwete und verarmte Schwester des Vaters, die bei der Familie lebte. Marie mochte sie gern, sie war stets freundlich und zugewandt. Leider hatte sie wenig zu sagen, wie Maman umgehend deutlich machte.
»Es wäre hilfreich, wenn du mich unterstützen würdest. Nur weil wir hier sind, sollten wir uns nicht gehen lassen.«
»Natürlich nicht. Aber …«, versuchte es Tante Helene erneut.
»Die Mädchen müssen lernen, sich comme il faut zu verhalten«, unterbrach Maman sie. »Wie du weißt, neige auch ich zur Nachsicht. Aber wir dürfen sie nicht verziehen.«
Die Gräfin hielt sich fälschlicherweise für zu milde, und um diesen vorgeblichen Fehler auszugleichen, ›zwang‹ sie sich stets zur Strenge.
»Sie sind ja alle wohlgeraten. Und es ist so ein schöner Frühlingstag«, gab Tante Helene zu bedenken. »Gönn ihr doch den Ausritt.«
»Dann will ich auch nicht zur Besuchsstunde. Die ist immer so langweilig«, quengelte die fünfjährige Julie, die einzige leibliche Tochter der Gräfin. Sie war mit Fritzi und der neunjährigen Sophie während der Auseinandersetzung hinzugekommen.
»Na, wunderbar.« Maman warf Marie einen tadelnden Blick zu. »Du schämst dich hoffentlich für deinen schlechten Einfluss.«
Während Marie sich eine freche Antwort verkniff, ging Fritzi, die ein Jahr älter war als sie, vor Julie in die Hocke. »Die Köchin hat frische Rahmzipferln gebacken, für den Fall, dass Besucher kommen«, versuchte sie, das Kind umzustimmen. »Und solange wir unter uns sind, spiele ich mit dir, was du möchtest.«
Fritzi war immer um Ausgleich bemüht. Sie war die einzige Schwester, mit der Marie auch die Mutter gemeinsam hatte, dennoch unterschieden sie sich in ihrem Wesen sehr. Fritzi war fügsam und sanft und stets bemüht, allen alles recht zu machen. Nie war sie vorlaut, nie war sie eigenwillig, und schon gar nicht sorgte sie jemals für Unfrieden. Doch obwohl sie ihr ständig als Vorbild vorgehalten wurde, liebte Marie ihre ältere Schwester sehr. Fritzi war liebevoll und klug und teilte unzählige Erinnerungen mit ihr.
»Na gut«, lenkte Julie ein und schmiegte sich an Fritzis Rock.
»Doch nicht alle verzogen«, bemerkte Marie.
»Eine junge Dame sollte vor allem lernen zu schweigen«, sagte die Gräfin. »Bis auf Weiteres möchte ich von dir kein Wort mehr hören.«
»Also bist du froh, wenn ich verschwinde? Ich weiß es zu schätzen. Danke, Maman!« Bevor die Gräfin ihre Sprache wiedergefunden hatte, eilte Marie schon auf die Pferdeställe zu, die hinter dem lang gezogenen Schlossgebäude in einem frei stehenden Schuppen untergebracht waren. Noch ehe sie die quietschende Stalltür aufgezogen hatte, begrüßte Nepomuk sie wiehernd. Sie hatte den Apfelschimmel als Fohlen zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt bekommen. Zehn Jahre war das nun her. Sie umarmte ihn wie einen alten Freund und genoss das feine Kitzeln seines samtigen Mauls auf ihrer Handfläche, als sie ihm zur Feier des Wiedersehens einige Möhrenstücke verfütterte.
Inzwischen hatten sie den Waldrand beinahe erreicht. Unbekümmert flogen sie im Sonnenlicht dahin, und mit gleicher Geschwindigkeit kamen und gingen Maries Gedanken. Lautes Hundegebell ließ sie plötzlich aufmerken. Zwei Jagdhunde stürmten aus dem Unterholz auf sie zu und sprangen wild kläffend an ihrem Pferd hoch. Erschrocken bäumte es sich auf. Instinktiv krallte Marie sich an der Mähne fest. Die Beine um Nepomuks Bauch geklammert, gelang es ihr, sich im Sattel zu halten. Beschwichtigend flüsterte sie auf den scheuenden Schimmel ein. Er setzte die Vorderhufe wieder auf den Boden, wich aber nervös tänzelnd weiter zurück, sichtlich verängstigt von dem unerwarteten Angriff.
Ein scharfer Pfiff brachte die Hunde dazu, von ihnen abzulassen. Marie umschlang den zitternden Pferdehals und tätschelte ihn lobend, bis das Tier sich wieder beruhigt hatte.
Zwischen den Bäumen war mittlerweile der Besitzer der Hunde aufgetaucht, Marie kannte ihn. Er beaufsichtigte im Dienste ihres Vaters die Fronarbeit der erbuntertänigen Bauern, die im Dorf jenseits des Laubwaldes wohnten. Tatsächlich erschienen hinter ihm nun einige ärmliche Gestalten, das Ackerwerkzeug geschultert. Sie zogen vor Marie die Mützen und grüßten respektvoll.
Auch Stepan, der Aufseher oder Fronvogt, wie man ihn hier nannte, nickte ihr zu, nachdem er seinen Hunden einen Tritt verpasst hatte. Sparsam neigte sie den Kopf. Sie konnte den Mann nicht ausstehen, auch wenn ihr Vater große Stücke auf ihn hielt. Dieser Stepan war brutal und genoss seine Macht. Während Marie die verrutschten Satteltaschen richtete, drehte er sich zu den Feldarbeitern um und brüllte: »Was steht ihr noch da rum? Vorwärts, ihr Drückeberger!...