E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Müller Die Drei-Uhr-Maschine
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7431-7049-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-7431-7049-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Durch einen Zufall - oder Schicksal? - landet Conrad Conradi in einer Flugmaschine mit Fallschirmspringern. Obwohl das Ganze einem Hasardspiel gleichkommt, ist er von nun an infiziert. Nach erfolgreich absolviertem Trainingsunterricht ist es so weit: Der erste freie Fall steht bevor. Während Conrad am Flugplatz darauf wartet, das Go für die Drei-Uhr-Maschine zu erhalten, folgt ihm der Leser durch seine Gedanken und Tagträume an fremde Orte, lernt die verschiedensten Menschen sowie Schicksale kennen, und wagt schließlich den Schritt ins Unbekannte. »Die Drei-Uhr-Maschine« regt dazu an, auf sich selbst zu vertrauen, Neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein und seine eigenen Grenzen zu hinterfragen. Der Roman zeigt, wie Neugier, Humor und Fantasie das Leben bereichern.
Helmut Müller ist in Lüneburg aufgewachsen, er lebt seit einigen Jahren in Schleswig-Holstein. Bereits als Jugendlicher versuchte er, das rätselhafte Weltgeschehen zu begreifen, wozu ein einziges Menschenleben keineswegs reicht. Er fühlt sich dem Freundeskreis der Sokratiker zugehörig: »Warum ist ...?« »Ich weiß, dass ich nichts weiß ...« Eher zufällig absolvierte er eine Ausbildung als Berufstaucher mit Meisterabschluss. Fünf Jahre war er als Bergungstaucher in der Welt unterwegs, bis er in Hamburg Bauingenieurwesen studierte. In dieser Berufskombination war er rund 25 Jahre als Experte für maritime Bauwerksprüfung und Schiffs-Havarieschäden tätig und verfasste um die 1500 Gutachten. Zwölf Jahre war er begeisterter Privatpilot (PPL). Nach »Nine Eleven« unternahm er in den USA mit gecharterten »Cessna 172« mehrere Cross-Country-Flüge. Per Fahrrad, Luftmatratze und Zelt tourte er von Hamburg nach Bregenz oder quer durch Skandinavien. Einige komisch-verwickelte und explosive Reisenotizen warten darauf, als Geschichten aufgeschrieben zu werden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Schreiner
11:50 Uhr. Westseitig am Vorfeldrand hatte ich »Platte« gemacht, Walter war etwas später dazugekommen: Badetuch ausbreiten, Sachen drumherum verteilen – fertig. Von hier aus war alles Geschehen gut zu überblicken. Die verstreuten Tageslager gab’s alle paar Meter, die besten waren schnell besetzt. Zuerst war jede Menge Platz, dann rückten einem die Nachzügler immer näher auf die Pelle. Walter war vor einer Weile zum Duschen gegangen und bislang nicht zurückgekehrt. Hing er in der Warteschlange fest? In den Duschkabinen waren auch die Toiletten untergebracht oder umgekehrt. Eine, auch zwei der vier Kabinen waren meist defekt, weshalb die intakten auch in Grüppchen blockiert wurden. Dann kam es draußen zu gereizten Belagerungszuständen. Vielleicht hatte Walter das Pech gehabt. Indessen kniete ich auf dem Gras und suchte vergeblich eine saubere Stelle auf meinem Badetuch. Kurzerhand zog ich mir den am wenigsten dreckigen Zipfel lichtabweisend über das Gesicht. So auf dem Rücken liegend, ließ ich mich in den Schlummermodus fallen. Walter würde jeden Moment auftauchen und, wie es seine Art war, mich mit dem neuesten Tratsch versorgen. Wenn ich so dalag und döste, schlief ich keineswegs. Stattdessen war ich hellwach für alles, was um mich herum vorging. Dösen war gut zum Akkuaufladen; erholsam wie Meditation. Augen schließen, Klappe halten und das Denken abschalten, das funktionierte fast überall. Während mein Akku neue Energie speicherte, schaute ich gelassen Kopfkino. Beim Kopfkinoschauen erschienen mir Erinnerungsfilme, ohne Vor- und Nachspann, Überraschung pur. Die virtuelle Leinwand tat sich in der Stirnmitte auf, direkt über der Nasenwurzel. Ajna-Chakra nennen die Hindus die Stelle über der Nasenwurzel. Das Ajna-Chakra ist für sexuelle Triebe zuständig, die es zu beherrschen gilt, heißt es. Hindufrauen und -männer punktierten sich mit einem farbigen Mal, meist tiefrot bis orange. Das rituelle Mal zwischen den Augenbrauen konnte im Hinduismus alles Mögliche bedeuten. Placeboeffekt? Wer wusste das schon genau. Das Badetuch störte meinen Geruchssinn empfindlich, es hätte längst in die Wäsche gehört. Die von den Flugzeugen emissierte Lärmkulisse musste ich eh ignorieren, ebenso meinen Durst. Walter würde gleich mit Eistee zurückkommen, suggerierte ich mir. Kaum hatte ich die Gesichtsmuskeln entspannt, ging es los, mein privates Kopfkino. Mein verstorbener Opa erschien – wie immer quicklebendig. Er arbeitete im Garten und lief in seinen schiefgelaufenen Clogs herum. Auf dem Kopf thronte der hoffnungslos zerknautschte Lederhut. Vor sich her balancierte er die Blechschubkarre, die mit frisch gesägtem Brennholz beladen war. Die Radnabe quietschte und jaulte nach ein paar Tropfen Öl. Ich kannte diese Gartenszenerie zur Genüge. Heute nicht so mein Ding, ich wollte abschalten. Aber ich wartete eine Sekunde, wie es diesmal weitergehen würde, weil kein Movie wie das vorherige war. Das Kopfkino kam jedes Mal anders daher, in immer neuen Varianten. Die Zeit spielte keine Rolle. Ganze Episoden konnten in Sekunden durchlaufen sein. Die Movies endeten abrupt, sobald sich die Augen öffneten oder wenn die Hauptmuskulatur bewusst bewegt wurde. Im Kopfkino war es Sommer. Ich war etwa zwölf und verbrachte einen Teil der Ferien bei meinen Großeltern. Mein Opa und ich saßen auf umgedrehten Blecheimern unter dem Kirschbaum. Wir futterten kiloweise knackige Knubberkirschen. Die Kerne spuckten wir in die Blechschubkarre; so wurden die Treffer akustisch mit »bang« bestätigt. Mein Opa erzählte gern seine alten Geschichten, manchmal auf Plattdeutsch, was ich so halbwegs zu sprechen lernte. Seinen Geschichten gingen oft Sprüche wie dieser voran: »Wenn du das Ziel erreicht hast, geh weiter, weil das Beste erst noch kommt.« Nein, einen tieferen Sinn konnte ich damals nicht begreifen, aber einige seiner Sprüche sind bis heute hängen geblieben. Das Kopfkino schien spannend zu werden, es gab keinen Grund, es vorzeitig abzuschalten. Also, mein Opa war gelernter Möbelschreiner mit Meisterbrief. Er arbeitete in einer Fabrik, die altdeutsche Wohnmöbel herstellte. Leider waren diese nicht mehr in Mode, sodass er seine Brötchen anderswo verdienen musste. Nur halbherzig bewarb er sich um die freie Stelle am Theater zu Lübeck, als Kulissenbauer, der das Schreinerhandwerk können sollte. Prompt bekam er den Job und bestand auch die dreimonatige Probezeit. Doch so richtig wohl fühlte er sich dort zunächst nicht. Die Arbeitszeit war an die aktuellen Spielpläne gebunden, sodass er an den Wochenenden und Feiertagen Bühnendienst machen und oft bis nachts bleiben musste. Doch aus Vorbehalten wurde bald Begeisterung. Immerhin hatte ausgerechnet er, mein Super-Opa, die von 30 Mitbewerbern begehrte Anstellung bekommen. Und diese sollte sein bisher beschauliches Leben dramatisch verändern. Irgendwann war der Intendant zu ihm in die Kulisse gehuscht und hatte ihn bekniet, für einen erkrankten Darsteller einzuspringen. Nur eine simple Nebenrolle sei das. Er stünde doch schon lange genug hinterm Vorhang und wisse, wie so was gehe. Er persönlich wie auch die Regie trauten ihm das locker zu – mehr noch, genau er sei der Richtige. Billiger Köder, leicht durchschaubar, doch der so Geschmeichelte biss an. Insgeheim hoffte er, dass man ihn in Ruhe lassen würde, sobald sein Antitalent offenbar wurde. Im Nu wurde eine perfekt sitzende Butlerrobe aufgetrieben, und bereits in der Abendvorstellung agierte mein Opa das erste Mal in seinem Leben nicht hinter, sondern auf der Bühne, inmitten der von ihm kreierten Kulissen. Er sollte den umtriebigen Butler Gottfried mimen, welcher mit der nymphomanischen Beatrice Gräfin von Brunn ein heimliches Tête-à-Tête pflegte. Die Schrittfolgen, Gesten und Dialoge kannte er als Backstage längst auswendig: »Zu Diensten, Herr Graf! Schlafen Sie wohl, Gnädigste! Gute Nacht, edler Herr, werde die Hunde zur Nacht noch einmal ausführen.« Drei Mal musste er auf der Bühne erscheinen. Im ersten Akt sollte er im Jagdsalon die gläserne Vasenattrappe von der Kommode nehmen und sie ungelenk fallen lassen, sodass sie zerbrach. Dann sollte er sich im Rückwärtsgang drei Mal vor der Gräfin von Brunn verneigen, ganz tief runter, bis es in den Knien wehtat. Im zweiten Akt sollte Gottfried forsch ans Salonfenster schreiten und ratlos um sich blicken. Er sollte die Vorhänge zuziehen und dabei den Fensterriegel demonstrativ öffnen, damit derselbe Hallodri zu Mitternacht hurtig ins Bettchen der schmachtenden Gräfin steigen konnte. Für den leidenschaftlichen Background sorgte ein Stöhn-Tonband, das die Requisite im Sexshop erworben hatte. Als der infame Lump im dritten und letzten Akt der Komödie durch das manipulierte Fenster zurückstieg, wo er mit den Hosenträgern hängen bleiben sollte, musste er sich vom gehörnten Grafen mit der Hundeleine jagen und prügeln lassen, bevor er stolpernd – aber ohne zu fallen – durch die offene Salontür fliehen sollte; verfolgt von zwei abgerichteten, echten Beagles. »Fantastisch! Herrlich! Großartig! Genial, einfach great!« »Besser hätte man den Butler nicht spielen können, Herr Conradi! Wir müssen das feiern, unbedingt, mein lieber Conradi! Mein guter Conradi, mein bester, mein allerbester Conradi!« Die maßlose Euphorie des Intendanten war meinem Opa höchst peinlich. Aber den lauwarmen Sekt irgendeiner Billigmarke musste er wohl oder übel trinken. »Prost, mein guter Conradi! Sie haben soeben mit Bravour die Abendvorstellung gerettet. Das Theater ist Ihnen allerhöchsten Dank schuldig!« »Prost unserem edlen Retter!« Das Gefolge hob die Gläser und rühmte ihn, den Helden des Tages. Ja, auch das Ensemble sei von seinem Debüt begeistert gewesen. Endlose Schmeicheleien, nur einige schienen neidisch. Der überfallartige Rummel war meinem Opa unheimlich und suspekt. Er glaubte erst, man wollte ihn veräppeln. Aber auch die Hauptrollen lobten sein Talent. Also hat Großvater sich feiern lassen, schließlich war es ja nur eine einmalige Ausnahme. Doch am Folgetag rückte der »Herr Direktor«, wie die Bühnenarbeiter den Intendanten anzusprechen hatten, damit heraus, dass er den Gottfried doch bitte, bitte auch noch über die verbleibende Spielzeit mimen solle. Neubesetzung sei so schnell nicht möglich, das könne er sich doch denken. Im Übrigen sei er, Philip Conradi, ein Geschenk des Himmels. Er würde dem Theater einen bombastischen Dienst erweisen, was man ihm nie vergessen werde … und was den Kulissenbau betreffe, dafür habe man bereits eine Lösung gefunden. »Das war wie ein Asteroideneinschlag!«, sagte Großvater später. »Mir war schwindlig, ich hätte mich in Luft auflösen mögen.« Mit letzter Courage hatte er das Angebot dann abgelehnt und dem Herrn Direktor mit weichen Knien erklärt: »In der Kulisse kann ich tausend Illusionen generieren. Nebel, Regen, Schnee, alles kein Problem, Herr Direktor, wirklich nicht! Aber als Schauspieler, Herr Direktor, auf der Bühne...