E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Schneiderbuch
Müller Das Rätsel des Pferdeamuletts - Godivas Geschenk
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-505-14324-3
Verlag: Schneiderbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Schneiderbuch
ISBN: 978-3-505-14324-3
Verlag: Schneiderbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach der Ankunft bei ihrer Schwester Cora und ihrem Mann Aides leben sich Godje und Arion schnell auf dem entlegenen Biohof ein. Der Hengst noch schneller als seine Reiterin? Kunststück, sind die endlosen Weiden doch ein wahres Paradies für Pferde. Godjes Gedanken sind viel zu aufgewühlt, um die Harmonie fernab von jeglichem Handyempfang genießen zu können. Tausende Fragen haben sich in ihr angestaut, aber jedes Gespräch mit ihrer Familie bringt nicht nur neue Erkenntnissein Bezug auf ihre Gabe ans Licht, sondern auch weitere Ungereimtheiten. Vor was oder wem will sie eigentlich jeder beschützen und wie groß ist die Gefahr, die scheinbar all ihre Verwandten bedroht?
Karin Müller ist mit 'Nordlicht' bei Schneiderbuch ein großer Bestseller gelungen. Darüber hinaus schreibt sie Tierratgeber, Kinder- und Jugendbücher. Sie wurde in Kitzingen am Main geboren, studierte an der Leuphana Universität Lüneburg und arbeitete viele Jahre als Radio- und Zeitungsredakteurin im Kulturressort. Heute lebt sie auf dem Land bei Hannover. Die besten Ideen hat sie am Gartenteich, auf Reisen oder wenn sie einem Pferd beim Grasen zuhört.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Willkommen im Paradies
3000 Jahre später
Zum Frühstück gab es dampfende Pfannkuchen mit Ahornsirup, einen Berg Rührei mit frischen Kräutern, dazu getoastetes Brot und Tomaten. Ich aß, als hätte ich seit drei Tagen nichts bekommen, und trank dazu gierig mein Lieblingsgetränk: heiße Schokolade mit einer Zimtsahnehaube. Die geblümte Jumbotasse hätte ich mir wie bei Astrid Lindgrens Geschichte »Michel in der Suppenschüssel« über den Kopf stülpen können, so groß war sie, und so lecker der Kakao – beinahe noch besser als bei Nana, meiner Großmutter.
Es war ein ziemlich seltsames Gefühl, in dieser fremden Küche zu sitzen, mir den Magen vollzuschlagen und dabei angestarrt zu werden wie ein dreiköpfiges Fohlen, von dem man noch nicht weiß, ob man es behalten soll oder ob man sich damit nur Ärger einhandelt.
Zu meinen Füßen unterm Tisch hatte sich ein kalbsgroßer Hund zusammengerollt. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Rasse das sein mochte, aber seine Stimme war genauso beeindruckend wie seine Körpergröße. Waldo hatte mich laut bellend begrüßt und sich dann direkt vor mir auf den Rücken geworfen, damit ich ihm den grau-braun-weißen Bauch kraulen sollte, was ich natürlich sofort ausgiebig tat.
An der Wand hing eine Uhr, die fast genauso aussah wie die alte Küchenuhr bei uns zu Hause. Zu Hause. Ich schluckte trocken bei dem Gedanken, dass ich so schnell nicht zu Nana zurückkehren konnte. Und wollte. Wie es jetzt nach meiner überstürzten Flucht weitergehen sollte, wusste ich allerdings auch nicht. Ich war die ganze Nacht durchgeritten, natürlich mit ausgiebigen Pausen, in denen Arion trinken und grasen durfte, aber immer in der Angst, doch noch entdeckt und aufgehalten zu werden. Rückblickend war mir beinahe so, als hätte Oleg das Pferd und mich mit den immer länger werdenden Ritten auf diese unglaubliche Distanz vorbereiten wollen. Was man sich so alles einbilden konnte …
Streng genommen hatte ich den Grauen geklaut. Es war noch nicht mal sechs Uhr morgens. Ich wollte lieber nicht wissen, was meine Großmutter und Anyta Kuret sich alles am Telefon um die Ohren hauen würden, sobald sie mitbekamen, was ich getan hatte. Sie würden sich gegenseitig Vorwürfe machen und die Schuld dafür geben, dass Arion und ich nicht mehr da waren, dessen war ich mir sicher. Wahrscheinlich hetzten sie sich gegenseitig die Polizei auf den Hals. Oder das Vormundschaftsgericht. Oder beides.
Cora und Aides tauschten Blicke. »Godje, dir fallen ja die Augen zu«, sagte die Frau, die mir so unglaublich ähnlich sah. Es war, als ob ich mich im Spiegel einer dieser Apps betrachtete, die einem sein zukünftiges, älteres Ich zeigen. Ihre Haare waren nicht ganz so straßenköterblond wie meine, sondern eine Nuance heller, aber ebenso widerspenstig. Sie hatten sich gleich an mehreren Stellen aus dem Zopfgummi herausgewuselt, mit dem sie im Nacken zusammengehalten werden sollten. Um Coras Augen rankten sich zahlreiche Fältchen. Aber die Farbe war die gleiche wie bei meinen: ein kräftiges Blau mit einem helleren, mehrfarbig schimmernden Kranz um die Pupille. Nicht, dass ich mir etwas darauf einbildete, aber meine Freundin Tessa hatte mal gesagt, sie würde niemanden sonst mit solchen Augen kennen. Nun, ich jetzt schon. Das war also tatsächlich meine Schwester? Warum hatte mir nie jemand von ihr erzählt? Ich hatte tausend Fragen an sie, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Fürs Erste schüttelte ich heftig den Kopf, obwohl ich tatsächlich auf der Stelle, mit dem Gesicht in meinem vierten Pfannkuchen, hätte einschlafen können. Ich musste nur fertig kauen und runterschlucken, dann musste ich erst einmal nach Arion sehen …
»Ich gehe nach draußen und kümmere mich um dein Pferd. Er hat sicher Durst, und er kann ja schlecht im Vorgarten bleiben«, sagte der Mann mit dem Räuberbart, der mir gegenübersaß und mich die ganze Zeit neugierig mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete: Aides, mein Schwager, von dessen Existenz ich bis vor fünf Minuten ebenso wenig geahnt hatte wie davon, dass ich eine Schwester namens Cora hatte. Ich fragte mich, welche Familiengeheimnisse Nana und Anyta mir außerdem noch verschwiegen hatten. Seit ich vierzehn Jahre alt geworden war und dieses seltsame anonyme Päckchen mit dem Pferdeamulett bekommen hatte, stand mein Leben komplett auf dem Kopf. Der vorläufige Höhepunkt war, mit einem teuren Hengst auf einen Hof zu fliehen, dessen Flyer mir anonym zugespielt worden war, nur weil mir die Frau auf dem Prospekt ähnlich sah.
Ob es wirklich so schlau gewesen war, ausgerechnet hier hereinzuplatzen? Lieber Himmel, ich kannte die beiden doch gar nicht! Vielleicht hatte Nana ja einen Grund gehabt …? Aides nahm seine Jacke von der Stuhllehne und ging mit federnden Schritten zur Tür.
Waldo regte sich kurz. Ich hörte, wie seine Rute auf den Boden klopfte, aber dann rollte er sich mit einem zufriedenen Seufzen ein und schlief weiter.
»Warte, das ist keine so gute Idee«, widersprach ich mit vollem Mund und wollte aufspringen, aber Cora zog mich wieder hinunter auf die Küchenbank. »Lass ihn nur machen. Iss du erst einmal in Ruhe auf und –«
»Arion hat schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht«, unterbrach ich sie.
Cora lächelte nur. »Dein Arion wäre der Erste, der Aides nicht innerhalb von zwei Minuten nachliefe wie ein Hündchen. Du kannst ihm vertrauen.«
»Das ist es nicht.« Ich schüttelte den Kopf, wischte mir den Mund ab und zog mich an der Tischkante hoch. Himmel, diese Holzbank war nicht die beste Medizin für meinen schmerzenden Po. »Ich komme mit. Hier ist doch alles fremd für ihn.«
In Wahrheit glaubte ich nicht, dass irgendjemand außer mir Arion in einen fremden Stall bringen konnte. Nicht nach dem, was er veranstaltet hatte, als die sogenannten Profis versuchten, ihn nach Gut Hardenberg zu verladen. So weit waren wir noch lange nicht. Selbst sediert war dieser Hengst in der Lage, alles kurz und klein zu schlagen.
»Natürlich, ganz, wie du magst.« Cora hob gleichmütig die Schultern und lehnte sich zurück. »Dann weißt du auch gleich, wo du ihn und alles andere später findest. Ihr beiden bleibt doch ein bisschen, oder?«
Ich wurde rot. In meinem Kopf ging alles durcheinander. Aber wo sollten wir sonst hin? »Wenn wir dürfen?«, sprach ich meine Gedanken aus.
Aides und Cora tauschten wieder Blicke, dann lächelte sie mich flüchtig an, nickte und verbarg das Gesicht gleich darauf hinter ihrer Teetasse. Ich hätte gern gewusst, was sie dachte. Immerhin stellte sie keine Fragen, das fand ich großartig.
Aides wartete. Er hielt mir die Tür auf, und ich huschte unter seinem Arm hindurch, so schnell ich konnte. Eine Achtzigjährige wäre vermutlich flinker gewesen. Meine Beine schmerzten von dem langen Ritt. Sitzen tat weh, aber Gehen war auch nicht viel besser. Ich ging wie auf Eiern die wenigen Stufen hinunter und hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, als wir den Hof überquerten. Verstohlen musterte ich den Mann meiner Schwester. Er war schlank und sehnig und trug die typischen Stallalltagsklamotten der meisten Pferdeleute: knöchelhohe Boots, Jeans und ein Sweatshirt, an dem ein paar kleine Strohhälmchen hingen. Er hatte dunkle, kinnlange Haare und tiefe Falten im sonnengebräunten Gesicht. Sie verschwanden teils unter einem wilden Bart. Der ließ ihn älter aussehen, aber vermutlich war er im gleichen Alter wie Cora, die ich zwischen Mitte und Ende zwanzig schätzte.
Arion stand noch immer unter den Apfelbäumen in dem eingezäunten Vorgartenbereich, wo ich ihn vor einer halben Stunde zurückgelassen hatte. Erleichtert beschleunigte ich meine Schritte. Arion graste, doch als er uns kommen sah, hob er den Kopf und brummelte leise. Seine Begrüßung klang ein bisschen wie: Hast du etwa schon fertig gegessen? Ich noch lange nicht! Mein Herz ging auf, und ich musste breit grinsen. Mein großes silbernes Wunderpferd!
»Du darfst gleich weiterfrühstücken, Großer«, erwiderte Aides ebenso sanft, wie er mich die ganze Zeit vorher skeptisch begutachtet hatte und so, als ob er den Hengst genau verstanden hätte. Er überholte mich, und ich sah fassungslos zu, während Arion den Kopf an seiner ausgestreckten Hand rieb, noch bevor ich ganz bei ihm war.
Aides bemerkte meinen Blick. »Was?«, fragte er gut gelaunt und tätschelte dem Hengst den Hals – als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt sei. Dabei war Arion als gefährlich verschrien, nicht einmal Anyta und Oleg waren mit ihm zurechtgekommen – bis ich in ihr Hippobalance Pferdetherapiezentrum gestolpert war. Gemeinsam mit dem alten Stallmeister und meinem Schulfreund Fynn war mir das Unmögliche gelungen: Arion hatte endlich Vertrauen gefasst. Zu mir allein! So viel Vertrauen, dass Anyta ihn nun hinter meinem Rücken verkaufen wollte, um ihn ausbilden zu lassen und als Deckhengst einzusetzen. Aber das hätte alles wieder kaputt gemacht, was wir uns erarbeitet hatten, davon waren Oleg, Fynn und ich überzeugt. Denn genau das war schon einmal mit ihm geschehen, vor langer Zeit hatte Arion Schlimmes erlebt.
Anyta hatte uns verraten. Also waren wir geflohen – und Fynn und Oleg hatten mir heimlich dabei geholfen.
Fynn. Flüchtig dachte ich an unseren Kuss beim Abschied. Meine Lippen kribbelten bei der Erinnerung und lenkten mich von dem leisen Stich in meinem Herzen ab. Arion ließ es sich gefallen, dass Aides ihn unterm Kinn streichelte, und schob genüsslich die mit grünem Sabber beschmierte Lippe vor.
In meinem Bauch grummelte es. War ich etwa eifersüchtig? »Das hat er noch nie gemacht«, brabbelte ich und tat, als würde ich seinen Rücken auf...