E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Müller-Busch 80 Jahre
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-347-94262-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf dem Weg zum stimmigen Ende
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-347-94262-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Buch lädt Sie ein, die Summe der Erfahrungen, Gefühle und Geschichten eines besonderen Lebens zu erkunden, das 1943 beginnt und nach 80 Jahren autobiographisches Erinnern mit tiefgreifendem Assoziieren verwebt. Es ist nicht nur ein Rückblick, sondern eine Reise der Selbstreflexion und des Neuerfindens des eigenen Lebenswegs. Der Autor, ein Pionier der Palliativmedizin in Deutschland, öffnet die Türen zu seiner Lebensgeschichte und verbindet seinen Weg zur Medizin mit persönlichen und intimen Einblicken. Tauchen Sie ein in die Zeiten des Wandels, des Zeitgeschehens und der eigenen Entwicklung. Spüren Sie die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart und erfahren Sie, wie das Leben uns formt und prägt. »80 Jahre: Auf dem Weg zum stimmigen Ende« erinnert uns daran, dass jeder Moment eine wertvolle Chance ist, das eigene Leben zu verstehen und zu erfahren. Erforschen Sie die Vergänglichkeit und die Bedeutung unseres Daseins inmitten der großen Geschichte der Menschheit. Entdecken Sie den Weg zum stimmigen Ende. Dieses Buch lädt Sie ein, Ihr eigenes Leben zu betrachten, die Essenz des Lebens zu begreifen und den persönlichen Weg zu einem erfüllenden Ende zu finden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
0 bis 7 Jahre
Leben wollen (1942/1943–1950)
Für die ersten sieben Jahre meines Lebens gibt es schon sehr bald keine Zeitzeugen mehr, die diese für mich als Kleinkind heute noch unvorstellbare Zeit aus eigenem Erleben darstellen könnten. Auch für mich ist das meiste mehr durch Erzählungen sichtbar geworden als durch bewusstes Erleben. Und doch begleiten mich einige Szenen – wenn auch verschwommen – wie Schatten durch mein ganzes Leben. Das Ende des tausendjährigen nationalsozialistischen Reiches, in dessen Wahn die für mich immer noch unvorstellbarsten und grausamsten Verbrechen an Menschen begangen wurden, zeichnete sich schon in meinem Geburtsjahr ab: Es wurde von den einen als Kriegswende eines brutalen von Deutschland begonnenen Weltkrieges bezeichnet, von anderen galt es als Beginn der Befreiung, in dem der Zusammenbruch oder die Kapitulation der nationalsozialistischen Diktatur nicht mehr aufzuhalten war.
Die Wirklichkeit des verbrecherischen Krieges, in dem ich geboren wurde, war ein Tabu, das meine ersten Jahre begleitete. Die Jahre meiner frühen Kindheit sind vielfach beschrieben worden. Sie stehen im Zeichen der schlimmsten globalen Erschütterung, die die Menschheit bisher erlebt hatte, aber auch für den Neubeginn in eine Epoche der Menschheit, in der das Schicksal dieses Planeten wie niemals zuvor von den Menschen selbst bestimmt wird. Diese Zeit hat mich geprägt und dazu geführt, darauf achten zu müssen und zu wollen, dass die Fehler und Gefahren, die mein privilegiertes, modernes Leben begleiteten, unsere Nachfolgegenerationen nicht, zumindest aber weniger gefährden. Und in diesem Bewusstsein stecken ebenso Zweifel, ob allein das Wissen darüber ausreicht, dass wir auch für die Zukunft der Erde und nicht nur für die Gestaltung der Gegenwart Verantwortung tragen. Wissen wir denn immer noch zu wenig, um ins notwendige und nachhaltige Handeln zu wechseln? Welcher Impulse bedarf es? Der Beginn meines Lebens liegt in einer Zeit, in der es in Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes ums Überleben ging. Ich bin dankbar, dass ich diese Zeit erleben konnte. Erinnerung und Vorstellung verschwimmen. Die wichtigsten Bilder sind zunächst die Fahrzeuge, mit denen mein Vater unterwegs war, um lebenswichtige Sachen zu besorgen, zu hamstern oder etwas zu organisieren: ein klappriger Leiterwagen aus Holz, ein altes Fahrrad und später ein knatterndes Moped. Er war eigentlich immer auf Reisen. Die verschwommenen Bilder erinnern an eine Zeit, die heute unvorstellbar ist, von Nöten und Trümmern geprägt, die der Krieg hinterlassen hatte, und von denen ich als Kind zwar berührt, aber doch wenig geschädigt wurde. Im Vergleich zu vielen anderen ging es uns in der Idylle Neustadts wahrscheinlich sogar gut, wir waren ja trotz allem eine erhaltene kleine Kriegsfamilie: Vater und Mutter lebten, wir hatten ein Dach über dem Kopf und einen Keller voll mit Kohlen – trotzdem war es manchmal kalt, das weiß ich noch … Vater hatte durch seine Verbindungen zu französischen Besatzern auch viele nützliche Beziehungen, die uns merklich geholfen haben. Wie er das schaffte, erzählte er uns nicht, und ich war zu klein, um mich für seine Geschicklichkeit im Organisieren und Hamstern zu interessieren. Ich kann mich nicht erinnern, irgendwann als Kind gehungert oder gefroren zu haben, wie das von vielen anderen meines Jahrgangs berichtet wird. Genauso wenig erinnere ich, dass mir etwas »geschmeckt« hat: Essen war Nahrung. Es gibt ein Foto von mir, dass mich als pausbäckigen, heulenden kleinen Knirps zeigt. Zunächst scheint es, dass dies ein von Hungerödemen gezeichnetes Kind darstellt, aber es war »nur« mein geschwollenes Gesicht, das nach der Verschickung in ein Kinderheim durch eine dort erworbene Mumpsinfektion entstellt wurde: »Fast hätte ich dich nicht mehr erkannt«, erzählte mir meine Mutter, als sie mich im Kinderheim endlich abholte. Sie war entsetzt und wütend, dass man mich in der Verschickung so krank werden ließ, ohne sie zu benachrichtigen. Während Vater sich um das Überleben kümmerte, richtete Mutter ihren Blick darauf, dass wir nicht zu Schaden kamen. Sie achtete auf Moral und Wahrheit, er auf die Sicherheit.
Geboren wurde ich 1943, im Jahr der Schlacht um Stalingrad, der Judendeportationen aus dem Warschauer Ghetto und der Ermordung von Zehntausenden in den Konzentrationslagern. Die meiste Zeit meines vorgeburtlichen Lebens verbrachte ich in Berlin, in der sicheren Gebärmutterhütte. Ursprünglich bin ich also ein Berliner. Zumindest habe ich die ersten sechs oder sieben Monate meiner Existenz in dieser Stadt verbracht. Voller mütterlichem Stolz und mit meinem Strampeln im Bauch hatte Mutter sich von der Brandrede Joseph Goebbels im Sportpalast zum »totalen Krieg« hinreißen lassen, wenige Wochen bevor sie im März 1943 Berlin verließ – sicherlich ein hormoneller Irrtum. Ich habe mich immer – wie viele meiner Generation – geschämt, in der Nazizeit geboren zu sein. Auch wenn die vor aller Öffentlichkeit begangenen grausamen und unvorstellbaren Verbrechen uns Nachgeborenen nicht angelastet werden können, waren und blieben sie prägend für mich. Vater und Mutter waren stille Dulder gewesen. Nein, Nazis waren die Eltern nicht und doch …
Ich wurde an einem Donnerstag, dem 17. Juni 1943 geboren, ein historisch nicht erwähnenswerter Tag, aber derselbe Tag, an dem auch Fritz Teufel zur Welt kam, ein in den 70er Jahren bekannter linker Kommunarde, mit dem ich tatsächlich gelegentlich verwechselt wurde. Da er unter besonderer Beobachtung des Staats- und Verfassungsschutzes stand, führte das an der »innerdeutschen« Grenze einige Male zu längeren Ausweiskontrollen und Wartezeiten. Damals wurden noch Geburtsdaten verglichen. Natürlich kann ich mich an die Geburt im Neustädter Krankenhaus Hetzelstift nicht erinnern, aber meine Mutter erzählte gerne, dass sie beim Anblick ihres ersten Kindes ziemlich erschrak – um nicht zu sagen bestürzt war: Ich war kein süßes, hübsches, wunderschönes Baby, wie von ihr erwartet, kein Kind, das sie spontan als Mutter begeisterte. Das Monstrum mit dem breiten Mund, einer wulstig heraushängenden Zunge, einer riesigen Kopfgeschwulst, welches ihr in den Arm gelegt wurde, trug alle Zeichen einer unerwarteten Geburtsdramatik, die den Geburtshelfer energisch zu Geburtslöffeln greifen ließ, um mich mit Gewalt aus der dunklen Gebärmutter zu befreien. Aber letztlich war Mutter doch glücklich. Schließlich hatte sie mit mir im Bauch – wie so viele Frauen damals – schon einiges erlebt. Pränatale Stressprogrammierung war damals noch kein Thema, aber ich habe den Krieg und die Berliner Bombennächte in ihr ja miterlebt (wenngleich unbewusst und ahnungslos) und auf die mir mögliche Art und Weise verarbeitet. Meine Eltern hatten am 10. September 1942 auf dem Standesamt in Ludwigshafen geheiratet. Wie alle Hochzeitspaare damals bekamen sie Hitlers »Mein Kampf« als Hochzeitsgeschenk, mit einer Widmung von Erich Stolleis, dem damaligen Oberbürgermeister, einem ambivalenten Nazi, mit dem die Eltern im späteren Leben gut befreundet waren. Nach dem Krieg pflegten sie Freundschaften eher mit Menschen, die nicht im Herzen überzeugt auf Parteilinie waren, allerdings auch nicht im Widerstand.
Mein Geburtstermin am 17. Juni 1943 lässt sich ziemlich genau auf die Zeugung in der Hochzeitsnacht im Hotel Europäischer Hof in Heidelberg am 11. September oder im Bayerischen Hof in München am nächsten Tag – 40 Wochen oder 10 Mondmonate oder 280 Tage danach – zurückverfolgen. Die Frage, ob ich ein Produkt der Hochzeitsnacht bzw. der wenigen Flittertage nach der Hochzeit geworden bin, hat mich schon als aufgeklärter Schüler Jahre später beschäftigt. War es Zufall oder Absicht? Heiratsurlaub von der Front war eigentlich nicht erlaubt. Auf jeden Fall haben meine Berechnungen und Recherchen dazu geführt, dass es eine Premiere war, in der ich entstand. Da Gespräche mit den Eltern über ihre Sexualität in den 50er und 60er Jahren noch ein viel größeres Tabu waren als heute, konnte ich erst sehr spät – als ich Mutter in den letzten Monaten ihres Lebens wieder in Berlin auf Ihre Hochzeitsnacht anzusprechen wagte – eine mimische Bestätigung für meine Zeugung am 11. September 1942 bekommen, zumindest war kein Dementi zu erkennen. Es gab wohl nur eine Nacht! So bin ich wohl ein »nine-eleven-Kind«!
Es passt ein wenig ins Klischee, dass meine Zeugung im Rahmen der vaterländischen Pflicht erfolgte, die damals viele Eheschließungen begleitete. Trotzdem war die Hochzeit meiner Eltern keine »Stahlhelmtrauung«, wie es der Regimentskommandeur meines Vaters gewünscht hatte, d. h., nur ein Stahlhelm sollte anstelle des Bräutigams vor dem Standesamt erscheinen. Der Bräutigam, der als Soldat bzw. Feldjäger gegen die Partisanen in Slowenien, Kroatien und Bosnien kämpfte, hatte den Mut, sich einige Tage Urlaub zum Heiraten zu »erschleichen«, was ihm viel Ärger beim Kommandeur seines...