E-Book, Deutsch, 372 Seiten
Müller Best of Jürgen Müller
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7396-8369-0
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
SF-Erzählungen
E-Book, Deutsch, 372 Seiten
ISBN: 978-3-7396-8369-0
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
'Best of Jürgen Müller' - das sind die laut Lesermeinung besten SF-Storys und -Erzählungen des Autors aus folgenden Büchern: 'Gedanken sind frei' 'Das Bbk-P' 'Das erste Mal' 'Drei Augen im Hyperraum'
Autoren/Hrsg.
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Kollision
Vor 750 Millionen Jahren bricht der Superkontinent Rodinia auseinander. Nach 150 Millionen Jahren Drift über die Weltmeere treffen die Landmassen wieder aufeinander, formen Pannotia. Vor 500 Millionen Jahren bricht dessen Nordteil ab und versinkt. Aus dem Rest, Gondwana genannt, bilden sich die ersten Kontinente: Laurentia (Nordamerika), Baltica (Nordeuropa) und Avalonia (Großbritannien). Vor 300 Millionen Jahren vereinen sich diese drei Kontinente zum Superkontinent Pangäa. Vor 100 Millionen Jahren bricht auch dieser auseinander und spaltet sich in Eurasien, das bald in Asien und Europa zerbricht, in Nordamerika und Afrika, in Südamerika und Antarktika, in Australien und Indien. Vor 50 Millionen Jahren rammt Afrika Europa, und Indien prallt auf Asien, die heutige Welt entsteht, in der sich die Kontinente aufeinander zu bewegen. Das heißt: In 200 Millionen Jahren wird der nächste Superkontinent entstanden sein; alles Land findet wieder zusammen. Und so wird es bleiben – Zusammenprall und Zerbrechen – bis ans Ende der Welt, denn die Erde ist rund. Auf ihr gibt es kein Entkommen einzelner Teile. *** Peter Paul Prym verharrte mitten im Schritt, schnüffelte, zog die Nase kraus. Er schnäuzte sich, hustete, hielt den Atem an. Nichts half – es roch weiterhin durchdringend nach Parfüm. Fremdem Parfüm. Komisch, dachte er, den Duft kenne ich. Doch woher? Von Sandra stammte der ,Wohlgeruch‘ nicht, das war ihm klar – seine Frau setzte auf Dezenteres. Dann kam ihm die Erleuchtung. Carmen, seine Jugendliebe! Sie hatte immer diesen Duft aufgelegt, wenn sie ins Kino gingen oder zum Tanz. War sie etwa hier gewesen, kürzlich und ohne dass er etwas davon wusste? Wenn sie erneut vorbeischaute! Der Gedanke durchfuhr Prym wie ein Blitz. Was würde, was musste Sandra unausweichlich denken; wie sollte er ihr erklären ... Hastig öffnete er ein Fenster und die Tür, schaffte Durchzug, griff nach einer Zeitung, wedelte den Duft hinaus. Die Luft wurde wieder besser. Prym schloss die Tür, ließ aber das Fenster gekippt, spähte aus nach Carmen. Man wusste nie; vielleicht kam sie zurück? Ihr war alles zuzutrauen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Vielleicht wollte sie ihn nur besuchen, von alten Zeiten quatschen; vielleicht wollte sie seine Ehe zerstören, wollte ihn zurück. Sollte er Sandra von ihr erzählen oder abwarten, ob sich alles als harmlos herausstellte? Er konnte sich nicht entscheiden. Und harmlos war es schon jetzt nicht mehr: Wie nur war Carmen in seine Wohnung gelangt? Was war das? Trotz der frischen Luft fühlte er sich auf einmal beengt; es war, als hielte ihn ein Catcher fest im Schwitzkasten, presste ihm die Kehle zu. Sichtlich erschrocken rang Prym nach Atem. Was war nur los? War er krank, litt er gar an Platzangst? Noch nie hatte ihn ein derartiges Gefühl übermannt, stets hatte er nur über die Leute gespottet, die es betraf, und jetzt war ihm, als sei das ganze Wohnzimmer prall gefüllt, drängten sich unsichtbare Geister um ihn, schoben und drückten. Es wurde immer schlimmer – jetzt sah er die Geister bereits, durchscheinend und doch so schrecklich real! Und was das Allerschlimmste war – sie waren er! Dutzendfach, hundertfach, so stand und lief und saß und lag und schwebte er, Peter Paul Prym, im Raum! Und alle starrten ihn ebenso geschockt an wie er sie, so als seien sie normal und er wäre der Geist! Nun hörte er sie auch noch! So sehr er sich auch die Ohren rieb, mit den Fingern in den Gehörgängen bohrte – das vielfache gespenstige Murmeln um ihn blieb und ließ sich nicht verscheuchen. Oh – wie gern hätte er jetzt einen Hörsturz erfahren. Tinnitus konnte nicht schlimmer sein. Hatte ihm jemand Stoff ins Essen gemischt, oder was war los? Als ginge es um sein Leben, schaltete Prym die Kompaktanlage ein, nur um diese Geräusche in seinem Hirn zu übertönen. Sein Lieblingssender vermeldete soeben: „Sie haben noch nichts von Paralleluniversen gehört, lieber Zuhörer? Nun: Mit jeder Entscheidung, zu jeder Sekunde, spalten sich unzählige Parallelwelten von unserer Welt ab. Welten, in denen Sie einen anderen Beruf ergriffen haben, eine andere Frau geheiratet, im Lotto gewonnen, sich kürzlich nicht nur eine Schramme geholt, sondern das Bein gebrochen haben und so weiter. Wenn Sie jetzt zum Beispiel ein Buch zuschlagen, erschaffen Sie damit eine Welt mit einer Kopie von Ihnen, die es weiterliest, eine Parallelwelt. Und das geht so: Das Universum, unser Universum, besteht aus zahllosen schwingenden Strings, die eine kosmische Symphonie spielen. Die Strings jedes Paralleluniversums aber spielen eine Variation dieser Symphonie; jedes Paralleluniversum kommt einem Instrument im kosmischen Orchester des Multiversums gleich. Sekündlich trifften Millionen und Abermillionen dieser Parallelwelten durch den Hyperraum davon, den Raum, in dem unser Universum samt allen Paralleluniversen, Multiversum genannt, existiert –“ „So ein Scheiß“, knurrte Prym gereizt, „was geht das mich an, und wer zum Teufel glaubt so was? Wissenschaftler ... Und dafür bekommen die auch noch Geld, ein Schweinegeld. Es ist zum –“ Bis ins Innerste erschrocken brach er ab. Lag da drüben nicht seine Jugendliebe Carmen auf der Couch, als durchscheinender Geist zwar, aber doch nicht zu übersehen? Und wurde sie nicht von Sekunde zu Sekunde realer, so real und entsprechend gealtert, dass er jetzt tatsächlich glaubte, mit ihr verheiratet zu sein statt mit Sandra? Auch ihr durchdringendes Parfüm schwebte wieder im Raum. Allerdings mischte es sich mit einem anderen Duft. Und auch diesen kannte Prym nur allzu gut – so roch seine Kollegin Antonia, mit der er einmal ein Verhältnis gehabt hatte. Und saß Antonia nicht plötzlich als durchscheinender Geist in seinem Fernsehsessel, starrte verdutzt auf ihn und Carmen? Halluzinationen, dachte er, ich muss sie bekämpfen, sie nicht ernst nehmen, mich ablenken. Mit zittrigen Händen stellte er einen anderen Sender ein, einen mit Musik. Erleichtert atmete er auf, als der neuste Hit ertönte, und summte leise mit. Es klang alles andere als fröhlich oder beschwingt. Doch zwei Lieder später waren fast alle Geister samt Antonia verschwunden, nur noch Carmen ruhte auf der Couch, und die sah völlig ungewohnt aus, irgendwie verformt. Aber wenigstens war das Engegefühl weg. Dafür aber war sein Körper unsagbar schwer geworden und noch schwerer zu handhaben. Er schaffte es kaum, einen Arm zu heben, so starr und fühllos war dieser. Auch die Beine schienen wie eingeschlafen. Es war, als gehörten die Gliedmaßen nicht zu ihm. Als wäre er ein Golem, so stelzte Prym die paar Schritte zur Kompaktanlage und drehte mit Mühe das Multi-Jog-Rad die zwei Teilstriche zurück auf seinen Lieblingssender. „Der Physiker Dr. Gutzeit nun“, sagte der Sprecher eben, „behauptet allen Ernstes, der Hyperraum sei endlich und wahrscheinlich rund und, obwohl Hort unseres Universums und unzähliger Paralleluniversen, seinerseits nur ein Teil eines übergeordneten Ganzen ...“ Hört das Gefasel denn niemals auf!, dachte Prym und suchte im nächsten Moment verzweifelt nach einem Halt. Denn sein Körper vollführte nunmehr in einer Tour Bewegungen, die er sich so nicht vorgenommen hatte, unkoordiniert und abrupt. Konnte man von einem Moment zum andern Spastiker werden? Und erst die Bilder in seinem Kopf, die Bilder ...! Es war nicht zum Aushalten: Frauenantlitze huschten durch seinen Geist, Hunderte, Tausende, sehr gut oder nur flüchtig bekannte, und doch wusste er von allen die Namen – Sandra Prym, Carmen Prym, Antonia Prym, Richarda Prym, Wibke Prym – ausnahmslos alle waren sie in dieser seiner Vorstellung seine Ehefrau. Nun – bei Sandra stimmte das. Oder etwa bei wirklich allen? Es kam ihm jedenfalls so vor. Und wie viele Kinder hatte er? Zwei? Oder Vier? Zweihundert mal vier? Oder vierhundert mal zwei? Er wusste es nicht. Es wurden nur immer mehr, an die er sich erinnerte; an ihre Geburt, ihren ersten Zahn, das erste Wort, als wäre er erst gestern dabei gewesen. Verdammt noch mal: War er denn Vater von allen Kindern auf der Welt? Er verlor den Verstand! Nein! Nein! Nein! So leicht gab ein Peter Paul Prym nicht auf! Er rekapitulierte noch einmal in Gedanken das Wichtigste, das er über sich und die Frauen und über seine Kinder wusste: Sandra war seine Frau! Nur sie! Und ihre Kinder hießen Maximilian und Marie und waren jetzt in der Schule. Carmen aber war seine Jugendliebe (und ihr Abbild auf der Couch nicht real). Und Antonia war eine Kollegin, mit der er vor Jahren ein flüchtiges Verhältnis gehabt hatte. Sie wohnte in Bonn – wie sollte sie hierher zu ihm in den Sessel kommen? Weiter: Weder mit Carmen noch mit Antonia hatte er irgendwelche Kinder, auch wenn ihm dieser Wahnsinnsanfall jetzt etwas anderes vorgaukelte. Den Tausenden anderen Frauen aber war er niemals näher gekommen, mehr als ein Gruß im Vorbeigehen war da nicht gewesen – im realen Leben. In seiner Erinnerung jedoch hatte er sie alle geehelicht,...