E-Book, Deutsch, 501 Seiten
Mühlhoff Immersive Macht
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-593-43859-7
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Affekttheorie nach Spinoza und Foucault
E-Book, Deutsch, 501 Seiten
ISBN: 978-3-593-43859-7
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Rainer Mühlhoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der FU Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung 11
Teil I: Theorie affektiver Resonanz
1 Affekt und Immanenz bei Spinoza 31
1.1 Spinozas Ontologie: Monismus, Parallelismus, Wirkungsimmanenz 35
Attribute versus Modi - und die zentrale Perspektivdifferenz 37
Das Prinzip der Wirkungsimmanenz, erste Fassung 41
"Posse existere potentia est": Zweite Fassung des Immanenzprinzips 43
Die Existenz des endlichen Modus 48
1.2 Affektenlehre und conatus 51
Der conatus-Satz 53
Conatus und Affekte 59
1.3 Die relationale Spezifität des Affizierungsvermögens 61
Immanenzdenken zwischen Physik und Metaphysik 64
Aktivität, Passivität; Varianz und Konstanz des Affizierungsvermögens 66
1.4 Ethologie, und: Was kann ein Körper? 74
Immanenzebene und Agencement 77
Das Problem der Gattungen und Arten 79
"Was kann ein Körper?" - Was kann ein Begriff? 82
2 Affektive Resonanz 87
2.1 Schwingung und Resonanz in der klassischen Physik 90
Stoß und Schwingungsanregung 91
Resonanz in der klassischen Physik 95
Orbit-Orbit-Resonanz der Jupitermonde 98
2.2 Resonanz als philosophischer Begriff 103
Phänomenalität des In-Resonanz-Seins 105
Das ontologische Primat der Kräfte 107
Resonanz und das Virtuelle 110
Virtualität versus Möglichkeit 114
Virtualität der Vergangenheit 117
›Resonanz‹: Zusammenfassung und Arbeitsdefinition 122
2.3 Dynamik des conatus: Resonanz versus Homöostase 124
Conatus als Trägheitsprinzip? 126
Conatus als Homöostase? 129
2.4 Resonanz als Individuierungsprozess 134
Resonanz und Ontogenese bei Gilbert Simondon 135
Affektive Individuierung 147
Teil II: Phänomene affektiver Resonanz
3 Affektive Resonanz als sozialtheoretischer Begriff 153
3.1 Affektive Resonanz: Begriffsbestimmung 153
Affektive Resonanz als Grundform dynamischer Reziprozität 153
Verwandte Begriffe im Umfeld der Affect Studies 156
Affektive Resonanz in Geschlechterkonstellationen: Der Fall "Familie Bauer" 162
Ambivalenz und kritische Diagnostik der affektiven Resonanz 166
3.2 Exkurs: Affektive Resonanz in der Psychoanalyse 168
Übertragung-Gegenübertragung als affektive Resonanz 175
3.3 Phänomene affektiver Resonanz in Gruppenkontexten 179
Resonanz, Revolution, Transformation 184
3.4 Affektive Resonanz und Massenpsychologie 188
Die Masse bei Gustave Le Bon 188
Ansteckung und Suggestion in der Masse 191
Die Masse bei Sigmund Freud 197
4 Affektive Resonanz und Ontogenese 207
4.1 Affektive Resonanz in der Eltern-Kind-Dyade: Daniel Stern und affect attunement 209
Vitality affects 210
Amodale Wahrnehmung 212
Affect attunement 214
Ontogenese und Subjektgenese 217
Ausblick: Affect attunement und Subjektivierung 219
4.2 Kontext: Der Interaktionismus in der Entwicklungspsychologie 222
Interaktionismus und affektive Relationalität 227
4.3 Zur kulturellen Situierung der Stern'schen Theorie 230
Das "Selbst" der westlichen Gesellschaften 230
Innerlichkeit der Gefühlszustände: Ontologischer Individualismus 232
Geschlechterbeziehungen und die Genealogie der Eltern-Kind-Dyade 234
Mutterbild bei Stern: Natur versus Kultur und der ›Atomismus der Dyade‹ 241
Fazit: Resonanz als Dispositiv 248
Kritik als Onto-Genealogie des eigenen Affizierungsvermögens 250
Teil III: Macht, Subjekt und Normalisierung
5 Subjekt und Macht bei Michel Foucault 255
5.1 Macht, Struktur, Strategie bei Spinoza und Foucault 256
Spinoza mit Foucault 256
Ein dynamischer Strukturbegriff 257
Relationale, strategische, produktive Macht 259
5.2 Historische Macht- und Subjektivierungsformationen 262
Disziplinarmacht 263
Biomacht 266
Gouvernementalität und Selbstführung 268
5.3 Die Doppelfigur der Subjektivierung 272
Das Subjekt als "Machteffekt" 275
5.4 Immanenz der Subjektivität 281
Wahrheitsspiele und immanente Kausalität 282
Kritik als mikrokollektive Praxis 286
6 Die normalisierende Spielart der Macht 291
6.1 Die Macht der Norm: Sichtbarkeit, Vergleichbarkeit, Kommunikation 292
Ökonomie der Sichtbarkeit und Benennbarkeit 296
6.2 Produktivität der Norm in der Lacan'schen Psychoanalyse 300
6.3 Normalisierung und die Immanenz der Norm 308
Normalisierung und das Spiel der Affekte 312
7 Judith Butler: Die Verkörperung der Norm 317
7.1 Die Norm wird performiert 318
Begriff der Performativität in der Sprechakttheorie 319
Performativität bei Butler 321
7.2 Diskurs und Verkörperung 324
Die Macht des Diskurses: Erzwungene Verkörperungen 327
Psyche der Macht - Butler als Denkerin ontogenetischer Alterität 329
Normalisierung versus Normierung: Zwei Formen der Gewalt 336
7.3 Beruht Normalisierung wirklich auf Zitatförmigkeit? 339
7.4 Ereignis, Szene, Situation: Die Macht im Affektgeschehen 346
Ausblick: Modulation und Immersion 350
Teil IV: Immersive Macht
8 Von der Normalisierung zur Kontrolle: Immersive Macht 355
8.1 Kontrollgesellschaften und Immersionsgefüge 359
Macht der Modulation: Kontrollgesellschaften 359
Affektanalytik: Dispositiv - Agencement - affektives Arrangement 365
Von Inklusion zu Immersion 371
8.2 Fallstudie Arbeitsplatz I: Der "Kult des Teams" 374
Das Team als betriebliche Organisationsform 375
Das Team als Regierungstechnik 379
"Affective Labor" und immersive Macht 386
8.3 Fallstudie Arbeitsplatz II: Immersion des Selbst 390
Immersion als Lebensform: "Life at Google" 392
Autoritäre Psychologie von unten: Der "Noogler-Komplex" 401
Führerkult des 21 Jahrhunderts: "emergent leadership" 406
8.4 Immersion als Regierungskunst: Affective Exploits 414
9 Das Subjekt der Immersion 419
9.1 Was heißt Subjektivierung in der immersiven Macht? 421
Vom Diskurs zur Resonanzsphäre: Die Normen werden unsichtbar 426
Selbstbezug und Zugehörigkeit: Sich als Teil eines Wir empfinden 431
Immersion als Vereinnahmung und die Praxis der Freiheit 434
9.2 Immersive Macht jenseits der Produktionssphäre 437
Für eine politische Theorie der Subjektivität (contra Massumi) 442
10 Schluss: Kritik der Immersion 451
10.1 Relative Immanenzsphären und ›Realitätsblasen‹ 452
10.2 Modulierte "Weltbeziehungen" 459
10.3 Die Macht der Selbstkritik 466
Strategisch-politische Ontologie: Verhältnisse benennen 469
Onto-Genealogie seiner selbst: Gewordenheit explizieren 471
Unter Freund_innen: Sich nicht derart affizieren lassen 473
Siglen und Zitierweise 477
Literatur 479
Dank 501
Einleitung
Der Dokumentarfilm "Work Hard Play Hard" von Carmen Losmann (2011) zeigt direkt zu Beginn den Neubau eines Bürogebäudes der Firma Unilever in der Hamburger HafenCity. Ein Architekt des Stuttgarter Architekturbüros Behnisch erläutert das Projekt folgendermaßen:
"Ich lese einmal ganz kurz [die] Auslobung vor:
›Zielsetzung für das Gebäude: Die Wahl für die Errichtung eines Neubaus in der HafenCity, dem Platz in Hamburg, der für Modernität und Dynamik steht, passt voll und ganz zu den Zielen Unilevers. Denn diese Attribute - modern und dynamisch - sollen konsequenterweise in dem zu errichtenden Neubau mit den Mitteln der architektonischen und innenarchitektonischen Gestaltung fortgeführt werden, als Zeichen des Aufbruchs in eine moderne und dynamische Zukunft. Das neue Gebäude soll […] den neuen Geist der vitality company und den Team-Gedanken des One Unilever verkörpern. Lichtdurchflutete, transparente Büros sollen nicht durch Luxus, sondern durch eine vitalisierende und funktionale Anmutung, Farben, Materialien, Natur-Erlebniswelten Spaß am Arbeiten vermitteln.‹ -
Es ist also unsere Aufgabe, […] ein Gebäude zu entwickeln, das in jedem Quadratmeter das spürbar hält, was hier [beschrieben wird]. Flexibilität ist das eine, aber das andere ist die Arbeitsatmosphäre. Das erlebt man ganz selten, dass in einer Auslobung ein Abschnitt über Arbeitsatmosphäre [enthalten ist]. Also dass die schon eine Gefühlswelt beschreiben, die sie dort generiert sehen wollen. [… Unilever] ist es wichtig, dass ein solches Gebäude vermittelt, dass Arbeiten keinen Zwang darstellen muss. Es sollte auf keinen Fall ein Ort sein, an dem ich erinnert werde, zu arbeiten. [… Das neue Gebäude ist ein Raum], den man gar nicht richtig programmieren kann, sondern dort wird Leben generiert werden. Dort wird eine Kommunikation entstehen […], die einen Wandel in der Art des Arbeitens miteinander forcieren kann."
Was ich in der vorliegenden Untersuchung als immersive Macht beschreibe, manifestiert sich bereits in dieser Fallstudie. Ein multinationaler Konzern des produzierenden Gewerbes zielt mit dem Neubau eines Bürokomplexes auf die Schaffung einer "Gefühlswelt" ab. Er imaginiert das Gebäude als einen Raum der spontanen und ungeplanten Begegnungen, als einen Ort, an dem das Arbeiten nicht als Arbeiten empfunden wird. "Wir stellen uns vor […] dass wir auch in der Möblierung völlig frei werden von jeder Auflage, es soll keinen Bürocharakter haben. Da sollen eher Möbel stehen, die wir aus dem Wohnbereich kennen, aus der Küche." (Ebd.)
Nicht bestimmte technische Ausstattungsmerkmale, die für das Gewerbe des Unternehmens spezifisch wären, bilden die ersten Anforderungen dieses Gebäudes. Auch nicht die klassischen Insignien von Geld, Luxus, Repräsentation gilt es zu reproduzieren. Im Mittelpunkt des Konzepts steht ganz schlicht, so erläutert es der Film, "eine neue Kommunikation zu entwickeln" (ebd.). In den früheren Arbeitswelten sei der Anlass gewesen, ins Büro zu gehen, dass sich dort die Mitarbeitenden, die Unterlagen und die Bürotechnik befanden. Doch im Zuge der elektronisch vernetzten und informatisierten Arbeitswelten sei die Bürotechnik heute mobil, genauso die Unterlagen und prinzipiell auch der eigene Arbeitsplatz. "Das heißt, Sie gehen eigentlich nur noch ins Büro, um zu kommunizieren, weil Sie dort Menschen treffen." (Ebd.)
In einer fast paradox erscheinenden Wendung gegen den Hype des Home Office, der entgrenzenden Mobilität, der Verfügbarkeit und Erreichbarkeit aller Personen und Informationen an jedem Ort und zu jeder Zeit erfährt ein ›analoges‹ und immaterielles Gut eine überraschende Renaissance: die persönliche Präsenz und die kommunikative Interaktion in der Nahwelt. "Für ein Unternehmen wie Unilever, das jeden Tag neue Produkte erfinden muss," rücke diese Nahweltinteraktion gerade deshalb in das Zentrum des Interesses, "weil nämlich die informelle Kommunikation die Quelle für Innovation ist - für Innovation und Kreativität. […] 80% aller Innovationen entstehen durch die zufällige, ungeplante Kommunikation." (Ebd.)
Natürlich ist hiermit nicht impliziert, dass in einer technisch vereinnahmten und durchweg mediatisierten Arbeitswelt eine Rückzugszone ›menschlich-unmittelbarer Ungeplantheit‹ entstehen würde. Der Kapitalismus der Diversität setzt zur Erfindung immer neuer Produkte und Märkte auf die gute Idee des zufälligen Augenblicks, doch er überlässt diesen Augenblick keineswegs dem Zufall. Ganz im Gegenteil, dieser Kapitalismus wird alles daran setzen, die Dichte und Intensität der Begegnungen zu "forcieren". Er eignet sich das Design der Arbeitswelt als eine Technologie des Life Styles an. Er holt die Menschen bei ihren affektiven Eigenschaften ab, um sie von dort her in seine Abläufe einzubinden. Er geht planerisch und strategisch darin vor, die vitalen Kräften der "Ressource Mensch" als randomisierende, bisweilen irrende und dabei doch innovative Bewegungen unter idealen Bedingungen wachsen zu lassen und stimulieren zu können.
Es soll "Leben generiert werden". Die "vitality company" macht ihren Mitarbeitenden keine Vorschriften, ihr Einsatz ist nicht die Bestimmung von Pflichten und Solls in der Umschließung eines genormten Arbeitsablaufs. "Der neue Geist des Kapitalismus", so die These der vorliegenden Untersuchung, regiert seine Subjekte durch Anregung und Steigerung der affektiven Lebenskräfte in immersiven Sphären. Mehrwert zieht dieser Geist nicht aus Disziplin, sondern aus der "freien" Selbstentfaltung jedes/r Mitarbeitenden, für die er ein Biotop stimulierender Potenziale organisiert. Das Abwegige, Spleenige, Ungehorsame hat er nicht zu fürchten, wenn er die Individuen in selbstregulierende Sozialgefüge immersiviert. Die Diversität der Lebensmodelle, Geschmäcker und Hintergründe ist Garant für Innovation - unter der einen Bedingung, dass die Individuen verfügbar sind, sich in Relationen des Affizierens und Affiziertwerdens anregen und modulieren zu lassen. Ich werde die These vertreten, dass die Macht dieses Kapitalismus im Arrangement von affektiven Relationen liegt - in einer immersivierenden und vereinnahmenden Form der Einbindung, die jedes Individuum bei seiner spezifischen affektiven Disposition abholt und zugleich moduliert.
Es ist ein Ziel dieser Untersuchung, Beispiele wie dieses als Indizien für eine gegenwärtig neu hervorkommende Strategie der Gouvernementalität auszuwerten. Es wird gezeigt, dass es sich hierbei um eine Form der Regierung von Menschen handelt, die auf Ebene der Affizierungsverhältnisse operiert und sich die spezifische personale und emotionale Konstitution jedes Individuums zunutze macht - als abschöpfbare und zugleich formbare Quelle intrinsischer Kräfte. Eine Personalführung, die um das Design von "Gefühlswelten " bemüht ist, tut dies nicht zum Wohlgefallen. Als ›Human Resource Management‹ kapitalisiert sie die affektiven und charakterlichen Dispositionen von Menschen: ihre Eigentümlichkeiten und Schwächen, Lüste und Traumata, die Spieltriebe, Flausen, Unsicherheiten und spezifischen Bindungsbedürfnisse. Indem sie diese Dispositionen gezielt in mikrosoziale Zusammenhänge stellt, erschließt sie ein elementares Register, Anreize zum Handeln aus intrinsischer Motivation zu schaffen. Hiermit wird ein Apparat beschrieben, der sich im Ganzen aus den Kräften personaler und emotionaler Bezugnahme der Individuen zusammensetzt - auf Grundlage einer affektpsychologischen Auslegung eines Prinzips der Regierung zur Selbst-Regierung.