E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Mühldorfer Tagsüber dieses strahlende Blau
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-423-40656-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-423-40656-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Mühldorfer wurde 1962 geboren. Nach seinem Studium der Neueren Deutschen Literatur und einem Aufbaustudium in Public Relations war er als Redakteur für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie freiberuflich als Filmredakteur und in der PR-Beratung tätig. Stefan Mühldorfer lebt in München.
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Eins
Ich heiße Robert Ames und bin siebenunddreißig. Meine Frau sagt, ich sehe jünger aus. Ich weiß nicht, ob das überhaupt eine Rolle spielt. Früher war mir mein Alter egal, jedenfalls war es nicht mehr als eine einfache Antwort auf eine einfache Frage. Erst im Lauf der Jahre ist mir bewusst geworden, dass die Frage nach dem Alter tiefer geht, als einem im ersten Moment selber lieb ist: Sie ist im Grunde die Frage danach, wo man im Augenblick steht. Dabei ist das Gefährliche an der Frage, dass man nicht sagen kann, wann sie einen zum ersten Mal überrascht (nämlich dann, wenn man erkennt, dass es diesen Zusammenhang gibt); ab diesem Moment jedenfalls – ob man es sich nun eingestehen will oder nicht – hat sich ziemlich viel verändert.
Letzten Endes, so denke ich heute, geht es doch immer um das, was man erreicht hat. Das Gefühl des eigenen Erfolgs verleiht dir eine gewisse Befriedigung und Sicherheit, und über die Jahre habe ich ein ziemlich gutes Gespür dafür entwickelt, ob die Leute, mit denen ich zu tun habe, bereit sind, die Geschichte, die ich ihnen präsentiere zu akzeptieren. Ich merke das an der Art, wie mein Gegenüber auf meine Antwort – ich bin siebenunddreißig und Versicherungsmakler – beiläufig nickt und zusätzlich das eine oder andere wissen will, zum Beispiel, ob man Kinder hat und welche Schule die Kinder besuchen. Ein paar klare, einfache Antworten können dir hier viel Sympathie einbringen. Dabei heißt das für sich allein streng genommen noch rein gar nichts.
Ich weiß nicht, warum, aber das laue Gefühl möglichen Scheiterns steckt bei mir immer mit im Gepäck (vielleicht eine Folge meiner zu hohen Ansprüche). Nicht dass ich davor Angst hätte – meistens redet man sich ja ohnehin etwas ein in Momenten, in denen die Dinge nicht so laufen, wie man es gerne hätte. Auch ich neige dann manchmal dazu, zu pessimistisch zu sein, alles ein wenig , wie man so schön sagt, und das bekommt mir in der Regel überhaupt nicht.
Vor elf Jahren, kurz nachdem ich Kala geheiratet hatte und mit ihr nach Hamilton in dieses kleine Haus gezogen bin, in dem wir auch heute noch wohnen (ihr Vater hatte uns eine beträchtliche Summe zugeschossen, um uns einen guten Start zu verschaffen), hatte ich gerade meinen ersten Job nach dem Studium ergattert, verdiente ganz ordentlich und richtete mich auf ein ziemlich normales Leben ein. Ein normal , muss ich sagen, denn natürlich dachte ich damals nicht im Geringsten daran, dass meine Vorstellung und die Realität zwei verschiedene Dinge waren, die miteinander kollidieren konnten, und dass Entscheidungen einem auch manchmal in dem einen oder anderen Punkt aus der Hand genommen werden können.
Ich kann mir nichts vorwerfen – meine damalige Naivität hatte auch ihr Gutes. Ich glaube, ein gewisser, manchmal völlig unbegründeter Optimismus war für mich einfach Teil des Programms, auch wenn ich es selber niemals so ausgedrückt hätte. Man könnte es auch so sagen: Ich hatte eine ziemlich gute Nase dafür, wann ein Wechsel oder eine Veränderung anstand – und meist habe ich dann ohne allzu großes Nachdenken die Konsequenzen gezogen.
Heute bin ich in vielerlei Hinsicht dickhäutiger geworden. Den Druck zur Veränderung spüre ich immer noch, trotzdem behalte ich lieb gewordene Gewohnheiten noch eine Weile bei, fast so, als wäre Konstanz ein Charakterzug, der sich lohnt, oder ein Wert an sich oder etwas, worauf man zumindest stolz sein kann. Nehmen wir unser Haus: Ich finde, Kala und ich haben hier eine gute Zeit miteinander verbracht. Wir könnten uns ein neues zulegen, ein größeres. Kala spricht schon länger davon. Und ich? Ich merke nur, dass in diesen vier Wänden eine Menge passiert ist, was sie mir ans Herz hat wachsen lassen.
Ich versuche, mein Kopfkissen so zusammenzuknüllen, dass es bequem unter meinen Nacken passt (eine Marotte von mir, die Kala beim Einschlafen verrückt macht). Aus irgendeinem Grund bin ich heute Nacht mehrmals aufgewacht und einmal habe ich mich sogar ins Wohnzimmer gesetzt und ziellos im Hamilton Observer geblättert, als würde ich nach etwas suchen, von dem ich selber nicht weiß, was es ist. Schließlich bin ich bei einem Artikel über eine Krankenschwester aus Bratislava hängen geblieben, die seit 1975 im Hospital oben an der James Street arbeitet und erzählt, warum es ihr schwergefallen ist, hier Fuß zu fassen, und dass die Patienten sie auch heute noch fragen würden, woher sie käme, dann aber mit der Slowakei überhaupt nichts anfangen könnten, eine Tatsache, die sie sehr bedrückend fand (was ich gut verstehen kann) – wer wohnt schon gern in einem Land, in dem sich niemand ein Bild von der Gegend machen kann, aus der du kommst? Diese Krankenschwester jedenfalls bewegt sich – so gestand sie – privat fast ausschließlich in einem Kreis von Exiltschechen oder Exilslowaken, eine Konsequenz, die ich zwar folgerichtig, aber nicht unbedingt vielversprechend finde. Sonst kann ich mich an nichts weiter erinnern.
Draußen fährt ein Auto durch die Straße. Ein tiefes, sonores Blubbern schwappt in die Vorgärten, fängt sich zwischen den eng stehenden Häusern und verliert sich weiter vorn an der nächsten Kreuzung. Die Tragina Ave ist eine unauffällige kleine Straße in einem ziemlich unscheinbaren Viertel von Hamilton. Wer hier wohnt, hat sich etwas aufgebaut oder ist gerade dabei, das merkt man der Gegend an. Alte Paare, bei denen die Kinder längst aus dem Haus sind. Junge Familien, die im Sommer bis tief in die Nacht im Garten sitzen und um die Wette grillen. Blumenbeete in Reih und Glied rund um militärisch getrimmte Rasenflächen. Manchmal, wenn ich spätabends vor dem Zubettgehen eine kleine Runde um den Block drehe, überkommt mich das Gefühl, dass die Welt an diesem Ort zu einem sehr überschaubaren Platz geronnen ist.
Kala und mir ist die Eingewöhnung damals alles andere als leichtgefallen. Dabei hat uns niemand einen Stein in den Weg gelegt, ganz im Gegenteil. Man grüßte uns höflich, aber zurückhaltend, so, als wolle man erst einmal abwarten, in welche Richtung sich die Sache mit uns entwickeln könnte. Ich glaube, unsere eigentliche Eintrittskarte in diese Gegend war, dass wir geblieben sind – wie alle anderen um uns herum auch. Diese Beharrlichkeit hat jede anfängliche Skepsis uns gegenüber zum Erliegen gebracht. Es war, als sähen die Leute darin eine Bestätigung ihrer Art zu leben, so etwas wie die unausgesprochene Versicherung, dass ihr Entwurf und unserer scheinbar gar nicht so weit auseinanderliegen (auch wenn in Wirklichkeit natürlich Welten dazwischenliegen können, was ich in dem Fall sogar annehme).
Seitdem gehören wir dazu (was immer das heißen mag) und könnten hier genauso gut alt werden wie all die anderen, was Kala unerträglich findet. Ich weiß nicht, was genau sie daran stört, vielleicht ist es am ehesten das Gefühl, dass in der Tragina Ave der Puls des Lebens so langsam, unbeirrt und alltäglich schlägt, dass du ihn manchmal gar nicht mehr wahrnimmst. Hier kannst du dich in eine Vertrautheit mit den Dingen um dich herum einspinnen lassen, und wenn du irgendwann wieder herausmöchtest, stellst du fest, dass es dafür vielleicht schon längst zu spät ist.
Im Süden endet die Tragina Ave in Bartonville als Sackstraße direkt unterhalb der presbyterianischen und der katholischen Kirche, die man über einen kurzen Fußweg und eine Treppe erreichen kann. In der anderen Richtung kreuzt sie die Main Street (auf der man direkt ins Zentrum kommt und die ich benutze, wenn ich zur Arbeit fahre) und führt dann hinunter zur Barton Street, an der die Centre Mall liegt, wo Kala und ich alle Einkäufe erledigen. Unser Haus liegt im südlichen Teil, also zwischen der Main Street und den beiden Kirchen und nur ein paar Fußminuten vom Montgomery Park entfernt, wo ich mit Jonathan, unserem Sohn, ab und an ein bisschen Baseball spiele (leider bin ich kein besonders begnadeter Werfer, also schlägt er ein Luftloch nach dem anderen, und das Ganze endet damit, dass er ziemlich schnell die Lust verliert, nur um sich später zuhause bitter über mich zu beklagen).
Es ist kurz vor sechs. Kala atmet ruhig und gleichmäßig. Sie dreht mir den Rücken zu, die Decke hoch bis zu den Schultern gezogen, so, dass ich nicht einmal ihren Nacken mit den kurz rasierten schwarzen Haaren sehe. (Wenn ich hinter ihr stehe, bin ich immer versucht, sie dort zu küssen.) Dass ich vor ihr wach bin, ist nicht ungewöhnlich. Meist liege ich dann noch ein paar Minuten im Bett und spiele in Gedanken meinen Tag durch: welche Termine anstehen, welche Gespräche ich führen muss und ob sie glatt verlaufen werden oder kompliziert.
Lebensversicherungen zu verkaufen ist ein Geschäft, das ziemlich viel Fingerspitzengefühl erfordert, schließlich zaubere ich keine weißen Kaninchen aus dem Hut, bevor ich wieder hinter irgendeinem Vorhang verschwinde, sondern nehme die Leute an der Hand und entwickle zusammen mit ihnen den schlüssigsten Weg, wie sie aus dem, was sie mitbringen, das eine oder andere machen können. Die meisten sind sich darüber wohl nicht ganz im Klaren, sonst würden sie kein so langes Gesicht ziehen, wenn sie hören, dass eine Versicherung, für die sie monatlich fünfzig Dollar abzweigen wollen, in zwanzig Jahren höchstens zwanzigtausend abwerfen wird. In der Regel versuche ich gleich von Anfang an, die hohen Erwartungen zu dämpfen: Je früher die Realität ins Spiel kommt, desto besser. Mittlerweile kann ich sehr gut einschätzen, wie ich vorgehen muss, aber wenn mich Kunden ins offene Messer laufen lassen wollen, dann tun sie das auch. Aus irgendeinem idiotischen Grund nehmen sie meine Berechnungen persönlich, so, als hätte ich ihnen gerade gesagt, welche...