E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Márai Himmel und Erde
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-96014-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Betrachtungen
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-492-96014-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Ich habe keine andere Waffe und Macht wider die Zeit und die Welt, nur das Schreiben. Länder werden zerstückelt und zusammengeflickt, Generationen zwingt man zur Fronarbeit, um dem Zeitgeist Pyramiden zu bauen, schändet Verträge und sprengt Brücken, die doch von Mensch zu Menschen führten …
Warum ertrag’ ich es dennoch? Was hält mich am Leben? Woran glaube ich? Allein der Glaube daran, daß der kühle, reine, der wahre, unbarmherzige und kompromißlose Geist Bestand hat – man kann ihn nicht verletzen, ungestraft leugnen oder erfolgreich verfälschen, er bleibt über allem bestehen – ist stärker als alles und jedes. Nur das glaube ich, nur das hält mich am Leben, nur deshalb mache ich nicht Schluß. So wahr mir Gott helfe.
DEDIKATION
Bei Wind bin ich geboren, abends um acht,
Habe Kaschau geliebt und Gedichte,
Frauen, Wein und die Ehre,
Wohl auch die Vernunft, wenn sie zum Herzen spricht –
Sonst liebt’ ich nichts. Den Rest kennt keiner.
Kein Bitten, kein Flehn, erbarmt euch nicht meiner.
DIE PRÜFUNG
Der Schriftsteller kann sich nicht damit abfinden, daß der Leser diese andere, unsichtbare höhere Schule nicht absolviert hat, deren ungeschriebenes Reifezeugnis ihn zum gefühlsmäßigen Verstehen einer Lektüre befähigt. Der Schriftsteller hat seine Leser zu achten; das verlangt seine Würde. Man muß schreiben, als würde man an Goethe schreiben. Es geht auch bescheidener; aber es lohnt sich nicht.
AUFLAGENZAHL
Der Redakteur einer kleinen, engagierten Zeitschrift mit hohem Anspruch hat mich gebeten, einen meiner Artikel, der schon in der Feiertagsnummer einer Tageszeitung erschienen ist, abdrucken zu dürfen. Die Feiertagsnummer wurde in hundertzwanzigtausend Exemplaren gedruckt; die Zeitschrift erscheint alles in allem mit dreihundert Stück. Der Redakteur will – klug und zu Recht – meinen Artikel an die Öffentlichkeit bringen, deshalb bat er um die Abdruckerlaubnis.
Der Anspruch ist nicht übertrieben. Die wahre Öffentlichkeit sind immer diese dreihundert Leser. Andere zählen nicht. Die meisten meiner Arbeiten erscheinen seit Jahrzehnten in Millionenauflage – unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
TAGEBUCH
Tagebücher mochte ich noch nie so recht, sie sind nicht mein Ausdrucksmittel. Wenn es der Sinn des Tagebuchs ist, »täglich« zu schreiben, und neben dieser Aufgabe, etwa hinkritzelnd auch den Sinn des Nebenprodukts zu notieren, Späne des Augenblicks aufzubewahren, so sind diese Notizen für mich das Tagebuch; doch ich kann nicht anders schreiben, nur für eine anonyme Öffentlichkeit, so wie ich diese Notizen hier zu Papier bringe, also mit Überschrift, einer Absicht und mit gestaltetem Inhalt … Ist das Eitelkeit? Oder eine Art Zwang des Metiers? Und werden Tagebücher, diese »großen Beichten«, mit weniger Eitelkeit und Absicht, weniger für die Öffentlichkeit geschrieben? Ich habe meine Zweifel. Der Schriftsteller schielt immer mit einem Auge auf das Publikum, auch wenn er in seinem vertraulichen Heft notiert: »Heute nichts Nennenswertes passiert.« Oder: »Am Nachmittag geraucht.« Auch das betrachtet er als eine öffentliche Angelegenheit, weil er ja Schriftsteller ist. Das Tagebuch, selbst das vertraulichste, ist immer für die Öffentlichkeit geschrieben, und so ist es vielleicht ehrlicher, wenn wir zugeben, daß wir Schriftsteller ganz ehrlich doch nicht sein können, nicht in unseren Werken, nicht in unseren Briefen und auch nicht in den Tagebuchaufzeichnungen. Übrigens, Tagebuchschreiber, ich halte nicht viel von dieser einsamen Aufrichtigkeit. Behalt deine Geheimnisse für dich – schreib geheimnisvoll und ehrlich, mit Überschrift, Struktur und einer Absicht, so wie es einzig möglich ist und sich auch ziemt.
DER ALTE DICHTER
Auf der windigen Ausfallstraße kam mir der alte Dichter entgegen. Er trug eine gestreifte schwarze Hose, einen verschlissenen Mantel und einen schäbigen Hut. Seine schlohweißen Haare hat er sich seitlich kurz schneiden lassen. Er kam langsam, wie einer, der alle Ziele kennt und längst weiß, daß es sich nicht lohnt zu eilen.
Er wich Straßenbahnen und Autos aus, ging im rötlich leuchtenden Neonlicht an Auslagen und Agenten, an Litfaßsäulen und Frauen vorbei, überquerte die Ausfallstraße, so als hätte er die Vernunft und die Traurigkeit mit sich genommen in den Wirrwarr der Welt. Und in seinem Gesicht, das kindlich war und alt zugleich, in seinen Augen, die stumpf ins künstliche Licht starrten, spiegelte sich die Erinnerung an das Entsetzen. Als habe er irgendwann einmal etwas Grauenhaftes gesehen und könne es nicht vergessen; das möchte er verstehen. Dieses Entsetzliche war die Welt.
NACHLASS
Im Nachlaß des Dichters fanden sich auch Spott- und Schüttelreime, sich ringelnde Späne, aufgemascherlter Plunder. Dieses traurige Allerlei ist Nebenprodukt vieler »Werke« und Stoff für diesen gewissen Ergänzungsband, in dem der Leser später nachsichtig blättert und ausruft: »Welcher Reichtum!«
Gewiß, auch das ist der Schriftsteller, es gehört auch zu ihm, ist all das, womit er herumspielt, was er fortwirft, an dem er »wirklich« schnitzt und formt mit Stichel, spitzer Feder, zerstreut und dennoch spitzfindig. Dieses »Nebenprodukt« verrät manchmal mehr als das »Werk«. In seinem Werk erscheint der Verfasser mit Frack und mit Orden an der Brust, die zwar manchmal nur Sport- oder Tanzabzeichen sind, Ehrennadeln eines anderen Ruhms. Doch auch der Abfall ist er, ebenso wie das unabsichtlich Entschlüpfte oder die Träume. Appetitlich ist es nicht, darin zu wühlen – aber der Auswurf kann manchmal das Krankheitsbild zeigen und das Unbeabsichtigte, die eigentliche Aussage, dieser Nachlaß, das Nebenprodukt, liefert ein Zeichen, verrät viel über das Werk, über den Menschen, über alles.
ANFANGEN
Umsonst weißt du, was du sagen willst: Der literarische Beginn ist eine Art Urhandlung, von Absicht und Verstand beinah unabhängig. Du vernimmst einen Ton, siehst irgendein Licht, plötzlich beginnt der Satz zu klingen. Zufrieden fühlst du: »Etwas ist geschehen, so, jetzt stimmt alles.«
Doch manchmal hörst du diesen Ton nicht, siehst keinerlei Licht; bestürzt fügst du Wort an Wort, suchst diesen geheimnisvollen Takt, der alles in Gang setzt, dem Satz Strom einflößt. Du mühst dich, verzierst und verschachtelst ihn, doch der Satz bleibt taub. Man kann nicht willkürlich etwas zu schreiben beginnen. Es braucht etwas dazu, wie zu jedem Schöpfungsakt. Was das ist? … Vermutlich der Heilige Geist.
GEFAHREN
Das Schreiben fängt in unseren Tagen an, eine lebensgefährliche Beschäftigung zu werden. Tendenziöses Schreiben war immer schon bedrohlich; doch heutzutage ist es bereits gefährlich, wenn jemand über den Herbst schreibt oder Gefühle in Worte faßt, die ihn beim Anblick einer Primel überkamen, oder wenn er über Käfer schreibt – jede Art des Schreibens ist gefährlich, weil es Meuterei gegen die Gesetze und den Gusto der Massen bedeutet, weil eine Persönlichkeit hinter dem geschriebenen Wort steht, sich hinter dem Text also Widerstand verbirgt. Geschriebenes ist verdächtig, als ob es eine Art Geheimsprache, ein Zeichengeben wäre. Und die Mißtrauenden haben recht: Es ist geheime Sprache, es sind Zeichen, Signale.
FREUDE
Es stimmt nicht, daß das Schreiben nur ein Ringen und Kampf, nur verzweifeltes Wandern in der Wüste und den Schneefeldern der Manuskriptblätter ist – es gibt Tage und Wochen, in denen das Schreiben Freude bereitet, in denen die unheimlichen Kräfte, mit denen du ringst, dir zu Diensten sind, Leben und Arbeit herausheben, sie dem Gesetz der Schwerkraft entziehen, es gibt Tage, in denen es ein Glücksgefühl ist, zu schreiben, in denen du dich in diesem geheimnisvollen Element beflügelt, leicht voranbewegst, im Element der Form und des Gedankens! Wie selten aber sind solche Tage, die knappe Zeit: Und unbestritten ist dies auch nicht die geeignetste Arbeitszeit! Die Tage, da Arbeit Freude ist, sind voller Bescheidenheit. Da schreibst du nicht heroisch. In solchen Zeiten arbeitet der Schriftsteller nur demutsvoll, bei Tagesanbruch über das Manuskriptpapier gebeugt, gleichsam dankend für irgendeine unbegreifliche Gunst und göttliche Gnade, die ihm nicht ganz verständlich ist und die er insgeheim sogar ein wenig verachtet.
FLEGELJAHRE
Die Zeit, da der Mensch für eine Gedichtzeile seinen Großvater verkauft, diese wilde, literarische Zeit, in der der Schriftsteller die Welt und das Leben lediglich als fadenscheinigen Vorwand sieht, um Menschliches und Unmenschliches ausdrücken zu können: diese Zeit sind die Flegeljahre des Schriftstellers. Bei manchen dauern sie lang; bei Flaubert zum Beispiel bis zu seinem Tod.
Der Schriftsteller wird dann ein Mann, wenn er nicht mehr bereit ist, den Großvater und auch nicht das allerkläglichste, unbedeutendste menschliche Schicksal geringer zu schätzen als die vollkommenste Gedichtzeile; und diese dann auch schreibt.
DIE SCHWIERIGKEIT
Die eigentliche Aufgabe und Schwierigkeit des Schreibens beginnt dann, wenn der Schriftsteller nicht mehr den Satz polieren, verbessern und vervollkommnen will, sondern den...