Márai | Ein Hund mit Charakter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Márai Ein Hund mit Charakter

Roman
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-492-95389-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-492-95389-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es wird weiße Weihnachten geben. Seufzend beschließt der Herr, das Fichtenbäumchen mit den schon etwas zerschlissenen Sternen zu schmücken. Aber schenken wollten sie sich dieses Jahr wirklich nichts ... Entgegen der Abmachung begibt sich der Herr dann doch noch mit seinen letzten hundert Pengö in die Stadt, geradewegs zum Zoo. Und am Hundezwinger springt ihm ein hinreißendes schwarzes Stück Fell auf vier Beinen entgegen, das fortan sein Leben und das der Dame von Grund auf verändern wird. Der charmante, hintersinnige Hunderoman des großen ungarischen Erzählers Sándor Márai.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

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Es schneit Also, wenn er nun schon einmal angefangen hat, so wird er jetzt auch nicht weiter nachsinnen, sondern ist entschlossen, dieses Unterfangen nach allen Regeln des Metiers und in epischer Gemächlichkeit, ja sogar in der Art eines Romans und mit Zwischenüberschriften, ganz so wie es sich eben ziemt, hinter sich zu bringen. Es schneit also, wir haben Weihnachten, zehn Jahre nach dem großen Krieg, und es ist kein Geld im Haus. Die Dame und der Herr, die besagtes Haus bewohnen, verlassen nach Tisch das Speisezimmer und begeben sich in den Nachbarraum, wo den Schreibtisch des Herrn – es ist Heiliger Abend – bereits ein hageres und ein wenig zerzaustes Fichtenbäumchen mit Beschlag belegt hat, das mit seinem armseligen Schmuck samt dem kaum wahrnehmbaren Waldgeruch dazu bestimmt ist, festliche Stimmung zu verbreiten. Die Maße des Baums sind so bescheiden, die über Jahre angefallenen Sternchen und Kugeln so angeschlagen und abgegriffen, daß dieser seiner Aufgabe nur bedingt gerecht zu werden vermag. Der Herr stellt sich davor und betrachtet das Bäumchen nicht ohne Mitleid. Im Zimmer ist es leicht dämmrig, denn am Morgen hat sich milderes Wetter eingestellt, und es schneit. In diesem Halbdunkel funkelt der Christbaumschmuck des rachitischen Gehölzes etwas verschämt; dazu hat der ganze Aufbau auch noch eine Schieflage, steht nach vorn geneigt, wie alle Weihnachtsbäume, die kinderlose Ehepaare ungeschickt, weil wissentlich unberechtigt, für sich aufstellen. Die Wohnung ist übrigens gegen Feuer versichert. Doch die unmoralische Hoffnung auf letztere Möglichkeit verscheucht der Herr sogleich wieder. Er geht um den Baum herum und zuckt die Achseln. Das aufgeputzte Gewächs wirkt für ihn lächerlich, erinnert an Tante Gisella, die ein glitzerndes Kleid besaß, das wahrscheinlich aus Engelhaar gewebt und mit glimmernden Schuppen besetzt war und in dem sie zu allen großen Familienfesten zu erscheinen pflegte: blutarm, rachitisch, aber zurechtgemacht und eben wie ein Weihnachtsbaum funkelnd und behängt. Genau wie Tante Gisella, denkt er mißvergnügt. Voller Unbehagen blickt er auf das festliche Requisit, und dabei wird ihm klar, daß die Verachtung gar nicht dem Bäumchen und den naiven Accessoires des Festes gilt, sondern seiner eigenen Feigheit, die ihn davon abhält, sich auf die feierliche Stimmung der Festtage einzulassen. Dem Baum fehlt irgend etwas, denkt er noch, wagt aber nicht, sich dies laut einzugestehen.Wie er sich auch schon seit Jahren nicht mehr traut, vorzuschlagen, daß sie am Heiligen Abend statt dem Klingeling mit Kerzenlicht, dem üppigen Abendschmaus und den bescheidenen Geschenken doch vielleicht lieber in eines der wenigen Kaffeehäuser gehen sollten, die aus Gründen profaner Zweckmäßigkeit auch am Abend dieses Familienfestes offenhalten. Er wagt es nicht, dies zu empfehlen, traut sich auch nicht, etwas gegen das Bäumchen und den ganzen Klimbim zu äußern, weil die Dame und sogar das Dienstmädchen, das eben den Mokka hereingebracht hat, so ganz von freudiger Erregung durchdrungen sind; auch bereden sie gerade letzte Details zum abendlichen Programm, zum Festessen, es geht um die traditionellen Zutaten für den Mohnstrudel und den Nußstrudel, um die Sauce zum Fisch. Das alles vermittelt den Eindruck, als ginge es aufs Ganze, denkt der Herr mit aufrichtiger Verwunderung. Er stellt sich ans Fenster, betrachtet die tänzelnden Schneeflocken und hört den geflüsterten Verhandlungen der Dame mit dem Dienstmädchen zu. Auch eine Erinnerung, daß vor Weihnachten alles als Überraschung gehandelt wird – sogar vor sich selbst handhabt man alles und jedes irgendwie geheimnisvoller, etwa die Frage, wie viele Eier das Mädchen für die Mayonnaise einkaufen soll –, weil sie die Wiederkehr des Wunders und Mysteriums erwarten, das längst Vergangenheit ist. Als wäre tatsächlich und allen Ernstes Weihnachten, sinnt der Herr verblüfft, als handele es sich hier um eine ernstzunehmende Wohnung und eine ernstzunehmende Familie, ein ernsthaftes Weihnachtsfest mit feierlichen Gefühlen und tannenduftender Erwartung des Mysteriums … Über dergleichen muß er sich seit jeher wundern. Er steht, betrachtet die fallenden Schneeflocken, hört aber nicht das Singen und Klingen von einst. Vom Mysterium keine Spur. Das ganze Fest ist eher unangenehm, als gäbe jemand in besserer Gesellschaft peinlich sentimentale Gemeinplätze von sich. Aber reden darf man darüber natürlich nicht. Seit Tagen ist die ganze Wohnung von Geheimnissen erfüllt, die Schubladen des Sekretärs sind verschlossen; am Tag zuvor kam um die Mittagszeit ein näselnder Mensch mit einem großen Paket und stiftete diskrete Verwirrung im Haus, indem er trotz energischer Beschwichtigungen des Mädchens in der Diele mit unangenehmer Stimme mehrmals wiederholte, daß er nur gegen sofortige Begleichung der Rechnung … Die Dame, die die Wohnung schon in den frühen Morgenstunden verlassen hatte, seither in der Stadt herumrannte und erst zum Mittagessen müde und nervös heimkam, will die historische These nicht akzeptieren: daß sich nämlich, sobald eine überholte Gesellschaftsordnung von einer anderen, neuen abgelöst wird, bei jenen, die von diesem historischen Prozeß betroffen sind, die passende Gemütsverfassung für dieses gnadenreiche Fest einfach nicht einstellen will. Dem Herrn will scheinen, er verfüge über nichts, das für ein Fest geeignet sein könnte, und er denkt dabei nicht nur an seine Taschen, die leer sind. Überhaupt ist alles leer. Doch wo findet sich ein Scharfrichter, der es wagen würde, der Dame das zu sagen? Sie besteht auf einem Fest – einem Fest mit Baum und Engelhaar, mit dem Duft brennender Wachskerzen und frischer Tannenzweige, einem mit kleinen Opfern und allerlei Geheimnissen behangenen Christbaum, einem richtigen, runden Fest. Wer wagt es, ihr zu sagen, daß das Fest keinerlei Geheimnis birgt, wenn nicht einmal er sich dies einzugestehen traut? Dem Herrn fehlt die Kraft dazu. »Es schneit«, sagt er lieber. Und fügt stereotyp hinzu, was er schon tausendmal gehört hat. »Wir werden weiße Weihnachten haben.« Sie trinken den Mokka und versichern sich gegenseitig noch einmal, sicher das zehnte Mal, mit Ehrenwort, daß es in diesem Jahr keine Geschenke gibt. Letztes Jahr haben sie es sich ebenso versichert, auch im vorletzten, vor acht und neun Jahren, es gibt keinen Grund, es in diesem Jahr nicht genauso zu halten. Dieses Ehrenwort, das nicht zu brechen eine Schmach wäre, geben sie sich also. Der Herr weiß, daß die Dame, die sich in den letzten Wochen, übrigens nach neun Jahren zum ersten Mal, mit ungewöhnlicher Neugier nach seiner neuen Kragenweite erkundigt hat, ihre Vormittage in der Innenstadt verbringt, gelegentlich auch nachmittags mit gedämpfter Stimme telephoniert und sich nach dem Schnittmuster der für eine wildfremde Person in Auftrag gegebenen Hemden erkundigt. Die Dame weiß, daß der Herr kein Geld hat, er also Schulden machen wird, denn ohne Grund kann er nicht gefragt haben, übrigens seit neun Jahren zum ersten Mal, welches Parfum die Dame in letzter Zeit verwendet. Wie jedes Jahr versichern sie sich auch jetzt wieder, »es wäre doch lächerlich, wenn man sich in völlig überflüssige Unkosten stürzen würde«. Der Herr, der noch vor kurzem, und zwar in einfacheren und weniger verantwortungsvollen Zeiten, gern betont hat, es lohne nicht, sich in überflüssige Kosten zu stürzen, neigt in den letzten Monaten viel seltener zu aphoristischen Äußerungen und zieht zustimmendes Schweigen vor. Das Gelübde des »diesmal gar nichts, für niemand«, das jetzt wirklich nicht schwer mit triftigen Gründen zu untermauern wäre, haben sie ohnehin schon gebrochen, weil es im letzten Augenblick ja doch ganz unmöglich schien, daß der brave und bescheidene Josef, der den Prozeß gegen das verantwortungslose Wochenblatt so uneigennützig und erfolgreich geführt hat, das lederne Zigarrenetui mit Silbermonogramm nicht bekommt – soll es doch eher als bescheidener Ehrenlohn denn als bloße Aufmerksamkeit dienen. Und ein feiner Herr, ein Leser aus der Provinz, dieser echte literary gentleman und Vertreter einer im Aussterben begriffenen Rasse, hat am Vormittag per Postpaket sechs Flaschen alten Tokajer geschickt: Zum Glück trinkt der Hausarzt, dieser Intimfreund, der die seelischen Unpäßlichkeiten der Familie mit größerer Hingabe und Neugier als die körperlichen Wehwehchen aufspürt und kuriert, nur Süßwein; so kann die Sendung, mit einigen Tannenzweiglein aufgewertet, gleich an ihn weitergereicht werden. Bleiben noch ein paar Cousinen, die von einem kleinen Flakon französischen Parfums vermutlich auch angenehm berührt sein werden, dank der weisen Voraussicht der Dame sind von der letzten Parisreise noch einige vorrätig, und Theres, das Dienstmädchen. Aber Theres bekommt Geld, sie schätzt eher das Materielle. »Also diesmal gar nichts für niemand«, sagt die Dame und steckt sich die einzige Zigarette an, die sie tagsüber zu rauchen pflegt. »Ehrenwort. Nicht daß ich dann am Abend mit nichts dastehe und mich schämen muß.« Der Herr gibt ihr die Hand darauf. »Und jetzt sag einen Wunsch«, fährt die Dame ohne Übergang fort. So geht es jedes Mal. Der Herr denkt nach und stellt verblüfft fest, daß er gänzlich wunschlos ist. Weder an einem silbernen Feuerzeug noch an einem Seidentuch ist er interessiert, ja nicht einmal an einem neuen Automobil oder einem Urlaub an der Riviera, selbst die sechzehnbändige Kunstgeschichte, die ihn vor einigen Monaten noch so brennend interessiert hat, wünscht er sich gar nicht. Umgehend beendet er auch die Aufzählung von nicht erwünschten Geschenken, es führt doch zu nichts. Tatsache ist, daß er keine Wünsche hat. Und dies gibt er auch zu. Verkündet ohne Genugtuung oder Anmaßung, daß er damit niemanden...


Márai, Sándor
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

Zeltner, Ernö
Ernö Zeltner, Jahrgang 1935, studierte in Budapest ungarische Literatur- und Sprachwissenschaft, später in Wien Germanistik und Theaterwissenschaft. Nach einer erfolgreichen Verlagslaufbahn lebt er seit einigen Jahren als freier Lektor, Übersetzer und Autor in Tirol.



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