Márai | Die Möwe | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Márai Die Möwe

Roman
2. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96005-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-492-96005-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die dramatische Begegnung zwischen einem Ministerialbeamten und einer geheimnisvollen jungen Frau: Warum sucht sie ihn gerade jetzt auf, da er eine schicksalhafte Entscheidung für sein Land getroffen hat? Und weshalb kommt sie ihm so seltsam vertraut vor? - Mit diesem Roman gelang dem großen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai ein Meisterwerk über Sehnsucht und Vergänglichkeit.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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»Vielleicht ist es wirklich die Nacht«, murmelt er. »Du hast gesagt, Einzige Welle, es gibt eine Nacht, die man sich nicht vorstellen kann, die nur der kennt, der sie erlebt hat. Eine Nacht, wie es sie nur einmal im Leben gibt, in der man spürt, dass schreckliche Mächte sich regen und sich gegen einen verbünden, dass einen sogar die Himmelskörper ins Visier genommen haben, einen selbst und sein Leben. Du hast in dem Haus, in dem dein Vater gestorben ist, in dem deine Vorfahren gelebt haben und gestorben sind, eine solche Nacht erlebt. Ich glaube, es stimmt: Es gibt solche Nächte … Nach deiner Nacht kam meine, die heutige, in der du wieder zu mir gekommen bist und ich dich geküsst habe, wie man jemanden küsst, den man gleichzeitig verabschiedet und begrüßt. Du kamst von fern und warst mir immer sehr nah. Wusstest du das?«

»Wovon redest du?«, sagt die Frau mit geschlossenen Augen. »Man ist immer auf dem Weg zu dem anderen, der einen küssen wird.«

»So empfindest du es?«, sagt der Mann lebhafter. »Ist das alles, was du spürst? Als du bei mir eingetreten bist, hätte ich lachen mögen. Ich hatte das Gefühl, die Mächte der Unterwelt erlaubten sich einen dummen Scherz mit uns, mit dir und mit mir. Du musst wissen, dass du schon bei mir gewesen bist.«

»Du träumst«, sagt die Frau. »Ich komme aus dem Norden und war noch nie bei dir.«

»Aus dem Norden oder von weiter her«, sagt der Mann ernst. »Aber wenn ich träume, dann ist es ein Traum, der das Leben und die Wirklichkeit formt. Es gibt solche Träume, und sie haben beängstigende Kraft. Die Urväter träumten solche Träume, nahe bei Gott, in der Mitte der Welt: Träume, durch die die Wirklichkeit auf die Welt gelangte, die Stämme, Städte und die menschlichen Situationen. Ich verstehe nicht, warum gerade ich diesen Traum träume – ich, der ich ganz gewiss kein Urvater bin. Ich bin ein Mensch, der ein Schicksal hat und ein Amt und außerdem sehr gewöhnliche Fähigkeiten und Voraussetzungen dafür, dass er lebt und dass auch ihm Träume geschehen. Aber es muss so sein, dass das Leben auch das Wunderbare aus ganz gewöhnlichen Stoffen zusammenrührt – besteht doch schon der Körper eines Menschen aus lauter gewöhnlichen Stoffen, nicht wahr? – Du und ich sind heute Nacht nur Bestandteile eines Spiels oder einer Schöpfung, deren eigentlichen Sinn wir vielleicht nie verstehen werden. Zwei Bestandteile wundern sich heute Nacht … Lass uns, Einzige Welle, ordentlich wundern, dass das Leben gerade uns zu etwas Außerordentlichem ausgewählt hat: Wir wollen also nicht rührselig werden, aber auch nicht über das Wunderbare spotten.«

»Was ist das Wunderbare?«, fragt die Frau ruhig.

»Das Wunderbare?« Der Mann denkt nach. »Dass du aus dem Dunkel und der Welt den Weg gefunden hast und noch einmal zu mir gekommen bist.«

»Ich bin gekommen«, sagt die Frau, »das ist sicher. Leicht war es nicht, denn ich brauchte Reisepass, Visum und Eisenbahn, und all das ist heute eine komplizierte Angelegenheit … Aber ich bin nicht aus der Unterwelt gekommen, und es ist ganz und gar nicht sicher, dass ich zu dir kommen wollte. Nein, mein Lieber – lieber Fremder oder lieber Freund, das weiß ich noch nicht genau –, daran ist nichts Wunderbares. Vielleicht wird es das einmal sein, wenn …«

»Jetzt schweig«, sagt der Mann leidenschaftlich. »Jetzt schweig, wenn die Nacht schon gekommen ist. Diese Situation ist so, als würden sich dein Körper und mein Körper gegen unseren Willen ein Stelldichein geben – aber wir beide, die wir in unserem Bewusstsein unabhängig von unseren Körpern sind und sogar von der Seele, haben das Stelldichein nicht vereinbart. Verstehst du das? Du musst es verstehen, weil es der Sinn dieser Nacht ist, und vielleicht der Sinn unseres ganzen Lebens sein wird, wenn wir einst verstehen … Glaube nicht, dass irgendeine zufällige Leidenschaft, eine dumme Erregung mir den Verstand geraubt hat. Ich spreche von der Wirklichkeit. Wer bist du? Vielleicht auch die andere, die diese Wirklichkeit trug wie ein Zauberkleid, aber die einmal in diesem Zimmer fragte: Tell me, my Heart, if this be Love? … – kennst du dieses Gedicht?«

»Nein«, sagt die Frau abweisend. »Wie geht es weiter?«

»Das ist unwichtig«, erwidert der Mann. »Ein Engländer hat es geschrieben, ein Lord, der auch Gedichte schrieb … Dann hast du eines Tages gesagt: ›Mögen Sie die Sanftheit?‹ Und all das warst du, aber nur so weit, wie deine Nägel oder dein Haar, die du abschneidest und die nachwachsen; und du bist deine Nägel und dein Haar und bist es doch nicht ganz … Offenbar können wir auf verschiedene Weisen existieren, wir Menschen. Aber all das betrachten wir nur und leben es. Ich habe es auch nicht verstanden, bis zum heutigen Tag: Erst heute habe ich es verstanden, als du in mein Zimmer getreten bist und etwas zurückgebracht hast, was in mir lebte wie ein altes Feuer in einem Stollen, an den sich nur noch die Alten erinnern.«

»Du willst sagen«, fragt die Frau neugierig, »dass ich nicht ganz ich bin? Was für eine Idee, mein Freund!«

»Eine schlimme Idee«, sagt der Mann. »Mich hat sie auch entsetzt. Aber ich kann nichts anderes sagen.«

»Und du?«, fragt die Frau, »Woher kommst du, und wer bist du, für dich und für mich? Wir verirren uns, wenn wir so umherschweifen. Fürchtest du dich nicht davor?«

»Ein wenig fürchte ich mich«, sagt der Mann ernst. »Ich glaube, nur davor fürchte ich mich, sonst vor nichts. Und es musste diese Nacht kommen, damit ich das erfahre. Jetzt weiß ich es. Ich habe noch mehr erfahren in den vergangenen Stunden: Die Menschen fürchten sich vor nichts so sehr wie vor dieser Erkenntnis: vor dem Augenblick, in dem das Leben ihnen die Maske abnimmt und sie erfahren müssen, dass das, was sie unter der Maske so krampfhaft bewahrt haben, das ›Ich‹, kein so unbedingt persönliches Etwas ist, wie sie in ihrer Überheblichkeit geglaubt haben. Das ›Ich‹ ist etwas Gemeinsames, Aino Laine, etwas sich Wiederholendes, oft Kopiertes, immerwährend sich Vermischendes und Erneuerndes und nicht ganz unbedingt Persönliches. Als ich dich geküsst habe, das musst du wissen, habe ich nicht nur dich geküsst, eine Frau, die durch die Labyrinthe der Welt zu mir zurückgekehrt ist, sondern auch eine andere Frau, deren Teil du warst und die – auch tot und zu Asche geworden – noch Bestandteil der Erscheinung ist, die du so nennst: ›Ich.‹«

»Was redest du da?«, sagt die Frau heiser, abwehrend. »Das alles stört mich. Ich bin ganz sicher Ich, und ich weiß, wo ich anfange und wo ich aufhöre. Wir leben nicht mehr in den Sagen. Wir leben auf der Erde und haben ein Schicksal, das nur das unsrige ist.«

»Das ist es«, erwidert der Mann, »woran ich seit einer Weile zweifle.«

»Wenn es so ist«, fährt die Frau fort, »dann zweifelst nicht du, sondern die Nacht durch dich. Es gibt solche Nächte, in denen die Menschen auf den Maskenball gehen. Die Nacht hat dich angesprochen, und du antwortest verwirrt. Wach auf, mein Freund.«

»Die Nacht hat mich angesprochen«, sagt der Mann, »und ich muss antworten. Aber das Wunderbare ist gerade das Realistische. Es ist wunderbar, dass das Wunder aus Fleisch und Blut ist, dass das Schicksal, da es in so wirklichkeitsnahen Varianten erscheint, ein Visum und einen Reisepass besitzt. Das ist beinahe wunderbarer, als wenn Schicksal und Erscheinung in Schwefeldampf zum Vorschein kämen, begleitet von Donner und Erdbeben. Wunderbar und erstaunlich ist es, wie gewöhnlich und wirklichkeitsnah das Wunder ist. Das wusste ich nicht. So, wie ich vieles nicht wusste … Die Bücher, Einzige Welle, die hier in den Regalen stehen, haben nicht davon gesprochen. Und ich habe diese Bücher gelesen und geglaubt, die Buchstaben und das Leben hätten mich die Kenntnis der irdischen und himmlischen Geheimnisse gelehrt, soweit das einem Menschen in meinem Alter und meinen Lebensverhältnissen gegeben ist. Denn wunderbar ist auch, Aino Laine, dass das Wunder gerade mir geschehen ist, der ich kein Auserwählter bin, also keiner von denen, die durch ihre Werke oder Taten mit den Göttern und den Unterweltmächten sprechen. Ich bin ein Mann, dessen Name im Telefonbuch steht und der offizielle Schriftstücke leidlich formulieren kann, so sagt man … Das ist alles. Woran ich geglaubt habe, ein wenig – weil wir graue Menschen nicht ohne Rolle leben können, weil wir ein wenig Pathos zum Leben brauchen –, ist, dass ich die Wirklichkeit unvoreingenommen und scharf beobachten und aus den Elementen dieser Beobachtung auf die Absicht schließen kann, die die Erscheinungen hervorruft … Das war meine Rolle, wenn auch nicht geradezu meine Aufgabe in der Welt. Aber jetzt glaube ich auch daran nicht mehr bedingungslos. Ich gestehe, meine Liebe, die Welt ist vor meinen Augen durcheinandergeraten … Vor ein paar Stunden erst. In dem Augenblick, in dem du heute Morgen in mein Zimmer getreten bist.«

»Ich verstehe nicht«, sagt die Frau müde. Die Anspannung, das Erschrecken und die Ablehnung, mit denen sie bislang auf die Worte des Mannes reagiert hat, scheinen nachgelassen zu haben. »An alledem ist wirklich nichts Wunderbares. Ich bin zu dir gekommen, weil man mir gesagt hat, dass du mir in meinen weltlichen Angelegenheiten vielleicht helfen kannst. Und jetzt hast du mich geküsst. All das habe ich mir nicht so vorgestellt, aber jetzt, da es geschehen ist, gestehe ich, dass ich weder verärgert noch enttäuscht bin. Mehr kann ich dazu nicht sagen, und das ist kein Geständnis. Das ist alles.«

»Das ist alles«, wiederholt der Mann. »Und noch etwas mehr. Du bist nicht von selbst zu mir gekommen, meine liebe Einzige oder liebe Welle – verzeih mir, dass ich in diesem Augenblick noch nicht sagen kann, wie ich...


Kunze, Christina
Christina Kunze, geboren 1971, studierte in Hungarologie und Klassische Philologie in Berlin und Budapest. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören Sándor Márai, Agnes Heller, Edina Szvoren und Lorinc Szabó. Sie lebt in Berlin. Webseite: www.revesz.de

Márai, Sándor
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.



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