E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Márai Die jungen Rebellen
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96004-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-492-96004-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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Die Stadt, sie schlummert zwischen den Bergen, in Watte gepackt, ihre drei Türme weisen gleichgültig zum Himmel, die Häuser haben Elektrizität und fließend Wasser, am Bahnhof rangiert eine Lokomotive, schickt einen langgezogenen Pfiff in den Äther. Drei Berge rahmen das Städtchen ein, sie bergen ein wenig Kupfer und etwas Magnesit. Ein Fluß durcheilt die Stadt, ein flinkes Bergflüßchen, die Luft ist scharf und klar und durch nichts verunreinigt, der Wald kriecht als dichter Bewuchs die Hänge hoch. Auf dem Gipfel des höchsten Berges hält sich lange im Jahr der Schnee, das erfüllt die Bürger mit Stolz, verleiht es ihrer Stadt doch ein alpenländisches Flair. Vom Bahnhof führt eine schmächtige Trambahnlinie zum Hauptplatz hinein. Die Häuser sind schmal und kleben eng aneinander, denn die Stadt war einstmals eine Burganlage, schon seit Urzeiten leben Menschen hier. Das Ordenshaus ist gelb getüncht, am Abend und am Morgen sieht man die Mönche, wie sie in Sandalen, die braunen Kapuzen tief ins Gesicht gezogen und den Rosenkranz an der mit einem Strick umgürteten Taille, zur Andacht in ihre Kirche hinübereilen. Die Fassade des Bischofspalais beherrscht ein schmiedeeiserner breiter Erker mit spätbarocken Schnörkeln und einer Fahnenstange darüber. Der Bischof macht mit seinem Sekretär den obligaten Spaziergang, sein steifer Hut hat seidigen Glanz, und vom hinteren Rand der Krempe baumelt eine Troddel. Exzellenz dankt nachdrücklich jedem, der grüßt. Der Bischof wacht früh auf, denn er ist ein betagter Herr, der schlecht schläft, schon im Morgengrauen steht er über das Pult gebeugt und schreibt in seiner winzigen Perlschrift. Im Ratskeller wird Wein ausgeschenkt, kalt wie das Mauerwerk. Das Gewölbe wurde aus Bruchsteinen zusammengefügt, hier tranken schon vor hundert Jahren die Polen. An den Wänden sind noch die Rauchspuren der Fackeln zu sehen. Die Luft ist erfüllt vom Geruch der feuchten Fässer, dem dichten, feinen Duft vergorenen Rebensafts und der Stearinkerzen.
Brotmarken. Sperrstunde. Endlos lange Züge rattern durch die Stadt, unentwegt, Garnituren von zweihundert oder dreihundert Meter Länge, der Diensthabende blickt gar nicht mehr auf, es sind Verwundetentransporte und Fronturlauberzüge; dieser Bahnhof ist als Erholungsstation eingerichtet, die Türen der Waggons werden für eine Stunde geöffnet, Karbol- und Jodoformgeruch strömt aus dem Innern, und große Stille. Der Geruch dringt bis in die Stadt ein und ist in Bahnhofsnähe besonders beißend. In großen Kübeln steht Kalk auf dem Bahnhofsgelände, nicht selten müssen die Reisenden aus einzelnen Waggons herausgehoben und mit Kalk bestäubt werden. Das dauert schon vier Jahre an – die Stadt hat sich daran gewöhnt, ebenso die Reisenden in diesen langen Zügen, besonders diejenigen, welche man mit Kalk bestreuen muß, weil sie so still sind. Die freiwilligen Damen der Stadt in ihren schneeweißen Umhängen mit dem roten Kreuz an Arm und Häubchen stehen längst nicht mehr am Bahnsteig der Erholung, adrett uniformiert wie die weißen Wachs puppen in den Hygieneauslagen der Kaufhäuser; bestenfalls sind noch zwei Sanitäter da, weniger adrett, und wenn sie eine Bahre herauszuheben haben, tun sie’s mit Schwung und einem »Hauruck«. Der Krieg ist weit weg von hier. Nur wie Flugasche eines fernen Großbrands fällt etwas vom Unrat des Krieges auf die Stadt. Das Kriegsgeschehen selbst hat nie bis hier heruntergereicht.
Anfangs kamen nur Telegramme, dann rollten Züge durch den Bahnhof, eine Volksschule wurde zum Spital umfunktioniert, auch das Ordenshaus hat man teilweise als Krankenstation eingerichtet, und mehrere Bürger der Stadt erhielten Orden für patriotisches Verhalten. Der Schreibwarenhändler hat im Schaufenster noch die Landkarten Rußlands und Frankreichs ausgehängt, doch der rührige, etwas dickliche alte Herr drückt nicht mehr jeden Morgen eigenhändig die Stecknadelfähnchen siegreicher Armeen der Zentralmächte in die Karten, er steckt sie überhaupt nicht mehr um, ein wenig ist er auch schon abgemagert, und um die Landkarten kümmert sich niemand. Die Stadt hat sich an den Krieg gewöhnt, man spricht nicht mehr darüber, reißt sich die Extrablätter der Lokalzeitung nicht aus den Händen, niemand rennt mehr zum Bahnhof, den ankommenden frischen Zeitungen aus der Hauptstadt entgegen. Die Stadt hat sich an diesen Krieg gewöhnt, wie man sich ans Alter gewöhnen muß oder an das Sterben und an alles in der Welt. Die Straßen sind nicht ganz sauber, viele Menschen tragen Trauer, bekannte Gesichter sind verschwunden, doch es ist nicht zu übersehen, daß auch ein gewisser Wohlstand auf den Trümmern blüht. Andernorts ist der Krieg ein Trichter mit wirbelndem Sand, vermengt mit Extremitäten, doch hier kann man am Vormittag im gepflegten Park dem Rechnungsrat im grauen Cutaway und in braunen Zugstiefeln begegnen oder, später am Tag, Mädchen, die vor vier Jahren noch Kinder waren und die heute als aufgeschossene junge Fräulein auf dem Korso flanieren und trotz des Krieges die Phantasie der Männer beschäftigen. Die Stadt war zu allen Zeiten klein, sauber und bunt, wie die Spielzeugstadt in einer Schachtel. Jetzt liegt viel Abfall in den Straßen, und die Fassaden der Häuser bröckeln. In den Schaufenstern der Kolonialwarenläden hängen Zettel, die die Ankunft von eingesalzenem Fisch ankündigen, aber das ist auch schon alles. An Litfaßsäulen blaue und gelbe Kundmachungen. Wem es gutgeht, der kann sich’s richten, auch jetzt. Nachmittags am Johannesplatz schlendert der Magistratsnotar mit seinem reinrassigen Vizsla zur Hühnerjagd am Fluß. Abends sitzen viele im Kino, und das Theater ist meist bis zum letzten Platz besetzt, wenn eine Operette auf dem Programm steht, in der Amadé Volpay seine Späße reißt.
Ábel wird eines Tages in irgendeiner Großstadt leben und das Wort »Weltkrieg« aussprechen, sich dabei jedoch an nichts anderes erinnern als an Tibor oder an Amadé, an eine gewisse Beklommenheit und Neugier. Und die Vaterstadt ist nicht ein Kirchturm und auch kein Platz mit Springbrunnen, sie ist kein Ort des blühenden Handels und der Industrie, sondern vielmehr ein Torgang, in dem man zum ersten Mal einen bestimmten Gedanken verfolgte, sie ist eine Bank, auf der man gesessen und etwas nicht verstanden hat, der Augenblick im Fluß, unter Wasser, als man in die Erinnerung an eine frühere Existenz zurückzutauchen meinte, ein schöngeschliffener Kieselstein, den man in der Schublade entdeckt, ohne noch zu wissen, warum man ihn aufgehoben hat, der Hut des Religionslehrers, der von einem braunen Fleck verunziert war, die Beklemmung vor einer Geschichtsstunde, ein ungewöhnliches Spiel, das keiner versteht und das man sich zu erklären geniert, eine Lüge, von deren Folgen man ein Leben lang träumt, der Gegenstand in der Hand eines Menschen, ein Laut, den man nachts durchs offene Fenster gehört hat und nicht vergessen kann, die Beleuchtung eines Zimmers, eine Troddel am Saum eines Vorhangs. Auch der Krieg ist nicht ganz so, wie man ihn sich vorgestellt hat.
Ábel wird einst seine Enkel nicht auf den Knien reiten lassen, wenn er ihnen vom Krieg erzählt, weil auch er in seinen Nerven Angst und Beklommenheit aus dem Krieg bewahrt hat, aber diese Angst bedeutet Tibor, diese Beklemmung bedeutet Amadé.
Sechzigtausend Seelen leben in der Stadt, und es gibt sogar einen Tennisplatz. Jetzt schläft die Stadt, der Bürgermeister ist herzkrank, liegt auf dem Rücken in seinem Bett, ein Wasserglas auf dem Nachtkästchen, im Glas das Gebiß, die Väter in ihren muffigen Schlafzimmern liegen in Nachthemden an der Seite der Mütter, und sie haben Gewalt über alles. Im Wald oberhalb der Stadt erwachen die Tiere.
Der Schauspieler sagt: »Leider kennt ihr den Wodka nicht mehr. Vom reinen, echten Wodka sah der Mensch alles in Blau.«
Mit dem Klauen fingen sie erst im November an.
Es gab im Leben der Clique eine kurze Zeit, in der sie sich auch ohne Geld ausgezeichnet amüsierten. Ort ihrer Zusammenkünfte war meist Tibors, manchmal Ábels elterliche Wohnung. Bei Ábel konnten sie, wenn sie sich einigermaßen ruhig verhielten und abwarteten, bis die Tante eingeschlummert war, auch nachts bleiben. Geld wurde erst unverzichtbar, als die Realisierung ihrer Experimente und Unternehmungen schon komplizierter war.
Béla hat als erster gestohlen.
Er war es auch, der Ausreden und Erklärungen suchte und sich bemühte, seine Taten zu entschuldigen. Niemand hatte ihn zum Stehlen überredet, doch als er anfing, sich dafür zu rechtfertigen, schmähten ihn alle, ohne sich abgesprochen zu haben. Béla nahm aus der Kasse des Vaters dreißig Kronen, um sich ein Paar handgearbeitete dunkelbraune Halbschuhe mit Doppelsohle zu kaufen, die ihn in der Auslage eines neueröffneten Schuhladens so sehr in Versuchung geführt hatten. Er erstand die Schuhe und nahm sie mit zu Tibor, wo er sie anprobierte und damit eine halbe Stunde im Zimmer umherhumpelte. Auf die Straße traute er sich mit den Schuhen nicht, schon der Gedanke, sein Vater könnte ihm begegnen und dann vielleicht der Herkunft dieser Neuerwerbung auf den Grund gehen, versetzte ihn in Panik.
Gegen Ende des Krieges, als die Handlungsgehilfen schon eingezogen waren und die Lehrlinge deren Stellen einnahmen, machte es die Personalsituation möglich, daß Béla, ohne aufzufallen, kleinere, später größere Summen aus der Geschäftskasse abzweigte. Am Nachmittag, wenn der Vater sein halbstündiges Schläfchen hielt, konnte Béla im Halbdunkel des Geschäfts unbemerkt ins gläserne Büro eindringen, wo der Vater in seiner Schreibtischlade die Tageskasse verwahrte. Die Tageseinnahmen waren zu beträchtlich, als daß die entwendeten zehn oder zwanzig Kronen aufgefallen wären.
Béla arbeitete schnell. Er kaufte sich ausgefallene Kleidungsstücke. Es gab damals auch...