E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten
Reihe: Der Sturz des Doppeladlers
Mosser Kinder einer neuen Zeit
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-903217-21-8
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten
Reihe: Der Sturz des Doppeladlers
ISBN: 978-3-903217-21-8
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wien, 1927. Der Erste Weltkrieg wirft einen langen Schatten. Wütende Demonstranten setzen den Justizpalast in Brand, die Polizei erschießt Dutzende Menschen. In diesem Inferno treffen zwei zehnjährige Buben aufeinander: der Arbeitersohn Viktor Obernosterer und das Heimkind Ernst Belohlavek. Im gleichen Jahr soll Max, unehelicher Spross der angesehenen Beamtenfamilie Webern, am traditionsreichen Wiener Schottengymnasium aufgenommen werden. In Südtirol besucht sein Cousin Siegfried, Sohn des ehemaligen Kaiserjägers Julius Holzer, eine Volksschule, in der seine Muttersprache verboten ist.
Die jungen Menschen müssen bald folgenschwere Entscheidungen treffen: zwischen politischen Loyalitäten und der Liebe zur eigenen Familie ...
Vier Familien, die das Schicksal immer wieder zusammenführt. Eine neue Generation, die für die Fehler ihrer Eltern büßen muss: Ihrer aller Leben ist untrennbar mit dem Schicksal Österreichs verbunden, das immer tiefer in eine Spirale aus Hass und Gewalt gerät und unaufhaltsam auf einen blutigen Bürgerkrieg zutreibt.
'Kinder einer neuen Zeit' ist der mit Spannung erwartete zweite Band der großen österreichischen Familiensaga.
Birgit Mosser, Dr. iur., geboren 1972 in Wien, ist Juristin, Journalistin und Autorin und ist seit 2008 für den ORF tätig. Ihr Spezialgebiet sind zeitgeschichtliche TV-Dokumentationen (Drehbuch, Regie). Sie veröffentlichte mehrere Sachbücher zur österreichischen Geschichte. Zuletzt bei Amalthea erschienen: 'Die letzten Zeugen. Vom Kaiserreich zum ?Anschluss?' (mit Gerhard Jelinek, 2014), 'Leopold Figl. Der Glaube an Österreich' (2015) sowie der Roman 'Der Sturz des Doppeladlers' (2016).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2.
Wien, 19. September 1927
Die steile Holztreppe knarrt unter der Last der beiden Männer. Lois Obernosterer umklammert das Geländer mit der rechten Hand, so fest, dass die Handknöcheln weiß werden. Heut’ spürt er ihn wieder besonders arg, den linken Haxen. Das Wetter ist in den letzten Tagen kühl und feucht geworden, und da macht sich die alte Kriegsverletzung wieder bemerkbar. Gerade heute will sich Lois aber nichts von den Schmerzen anmerken lassen, denn auch der Freund, den er heute besucht, leidet oft unter Beschwerden – nur ohne dazugehöriges Bein. Albert Nusser, ein Kriegskamerad, ist Invalide und erzählt hin und wieder vom Phantomschmerz, der ihn quält. Sein geschundener Körper hat nicht vergessen, dass auch der Kriegsversehrte einmal ein gesunder Mensch mit zwei Beinen war, und lässt Bertls Nerven immer wieder verrücktspielen. Lois hält kurz inne, um das schmerzende Bein zu entlasten. Die Verwundung ist jetzt schon elf Jahre her, macht ihm aber immer wieder zu schaffen. Eine Stufe und noch eine. Wenn die Treppe doch nicht gar so steil wäre. Wie das wohl Albert mit seiner Prothese schafft? Endlich ist das Obergeschoß erreicht. »Schau Lois, des is’ die Küche. Setz’ ma uns da her, auf die Bank«, sagt Bertl. Dem ehemaligen Pionier ist es nicht entgangen, dass auch sein Freund Schwierigkeiten mit dem Stiegensteigen hat. »Was sagst, a eigene Küch’ haben wir jetzt! Mit fließendem Wasser und allem, was dazug’hört. Und unten ein Häusel, innen und mit Wasserspülung. Wie die feinen Leut’!« Sein hageres Gesicht leuchtet vor Glück. »Es kommt mir immer noch wie ein Traum vor. Die Erna ist selig, und die Gschrappen natürlich auch. Jetzt haben die Großen sogar a eigenes Zimmer, gleich neben dem Schlafzimmer. Die Klane schlaft ja eh bei uns. Unten hab’ ich mir eine kleine Werkstatt eingerichtet.« Lois lässt seinen Blick über die Küche wandern. Ein Kohleherd, daneben die Abwasch, eine Kredenz für Geschirr, die schmale weiße Eckbank, auf der sie sich niedergelassen haben, davor ein kleiner Tisch und zwei Sessel. Kochen, essen, Aufgabe machen, spielen, Zeitung lesen – sicherlich ist der kleine Raum der Mittelpunkt des Familienlebens. In der alten, düsteren Mietwohnung, in der Lois den Freund einmal besucht hat, gab es nur eine enge Kochnische im Wohnzimmer und eine feuchte Schlafkammer für die ganze Familie. »Wie wir da hergekommen sind, in die Hermesstraße, im 21er-Jahr, hätt’ i mir nie dacht, dass da amal richtige Häuser stehen werden. Kannst dich erinnern an die Hütte, die wir g’habt haben? Aus rohen Brettern hab’ ich sie z’sammg’nagelt. Es ist einfach nimmer g’angen in dem feuchten Loch, die Kinder waren dauernd krank, und a bessere haben wir uns nicht leisten können. Und dann hab’ ich gehört, dass sich hier beim Lainzer Tiergarten Leut’ ansiedeln.« »Wie ich damals mit der Berta und dem Viki aus Kärnten gekommen bin, hab’ ich auch davon gelesen. Ehrlich gesagt, ich hab’ nicht glauben können, dass die Stadt Wien es zulasst, dass Menschen hier einfach das Land zubauen.« »Erstens haben s’ nix machen können, und zweitens waren s’ froh, dass die Leut’ wo unterkommen sind. Und wenn’s nur Holzhütten waren. Hätten wir vielleicht unter der Brücke schlafen sollen mit drei kleinen Kindern? Dafür, dass ich ein Bein geopfert habe?« Ein aggressiver Zug liegt um seinen schmalen Mund und lässt Bertl älter wirken, als er ist. »Natürlich nicht«, sagt Lois beschwichtigend. »Es ist ja auch alles gut ausgegangen. Die Stadt Wien hat sich doch sehr bemüht, net wahr? Sogar den Loos, den berühmten Architekten, haben s’ eingesetzt.« »Ja, und andere auch noch. Sogar a Frau war da beteiligt. Lihotzky hat’s g’heißen, die hat uns viel g’holfen. Wie ma’ die Küch’ einrichten sollen und solche Sachen. Die war a Zeit lang im Siedlungsamt. Und der Loos hat sogar auf der Siedlerschule Kurse abg’halten.« »Siedlerschule? Was soll denn das sein?« »Das ist ganz praktisch«, ertönt plötzlich eine helle Frauenstimme. Erna, Alberts Ehefrau, schleppt eine abgewetzte braune Tasche die Stiege herauf. Am Ende der Treppe bleibt sie stehen und stellt den Einkauf sichtlich erleichtert ab. »Da lernt ma’, was man im Garten am besten anbauen kann. Wie ma die Viecher halten soll und solche Sachen«, erklärt sie etwas außer Atem. »Servus Lois! Schön, dass dich wieder a’mal anschauen lasst.« »Grüß dich, Erna.« Lois steht auf und gibt der jungen Frau die Hand. Auch die ihre ist rau und rissig vom Waschen, Putzen und der Gartenarbeit. Aber Erna Nusser wirkt stämmig und gesund, das eigene Haus scheint ihr gutzutun. »Der alte Loos halt Vorträge über Viecher? Komisch. Dass der nix Besseres zu tun hat.« »Welche Kurse er genau g’macht hat, das weiß ich nimmer. Aber Vorträge hat er gehalten. Er war eben überzeugt von der Idee, der »Friedensstadt«, wie wir jetzt heißen«, sagt Erna stolz. »Aber dann hat er eh’ wieder aufg’hört. Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich anbauen soll und was ich den Hasen füttern darf. So, und jetzt muss ich ausräumen.« Sie wuchtet die Einkaufstasche auf einen Sessel und öffnet sie. »Alles haben s’ im Konsum eh’ nimmer g’habt.« Zum Vorschein kommt eine verbeulte Milchkanne, zwei Flaschen Bier, ein halbes Schwarzbrot, Kartoffeln, Kohlrabi und ein kleiner Ziegel Margarine. »Willst mitessen, Lois? Gemüseeintopf gibt’s und Erdäpfeln dazu. Fleisch is a im Konsum zu teuer für uns, nur am Sonntag leist’ ma uns ein Stückl. Die Rent’n vom Bertl is ja net viel. Weißt ja eh, wie’s is bei uns.« Lois lächelt die junge Hausfrau an. »Gern bleib’ ich bei euch. Zu Haus’ geh’ ich eh nur im Weg um. Die Kleine ist krank, Scharlach. Zum zweiten Mal schon. Und Waschtag hat’s auch noch, die Berta.« »Scharlach?«, Erna schaut den Besucher erschrocken an. »Das kann bös’ ausgehen. Wie geht’s ihr denn?« »Schon besser, zum Glück. Das Fieber ist gesunken, aber schwach is’ halt noch. Auf 41 Grad hat’s raufgefiebert.« Fünf Tage ist es jetzt her. Emma schaute winzig aus im großen Ehebett, in das sie Berta gebettet hatte. Sie glühte förmlich, die Wangen hochrot, das weiße Nachthemd klebte verschwitzt an ihrem mageren Körper. Sie versuchten, dem Kind fiebersenkende Medizin einzuflößen, aber die bittere, dunkle Flüssigkeit lief ihr immer wieder aus dem Mund. »Mein Hals tut so weh!«, murmelte die Kleine, wenn sie für kurze Zeit aus ihrem unruhigen Schlaf aufschreckte. Berta machte ihr kühle Umschläge, aber das Fieber stieg und stieg. Er holte Dr. Stern, obwohl er das Honorar eigentlich nicht bezahlen konnte. Der Arzt gab Emma eine Spritze. Mittlerweile war das Kind völlig apathisch. »Sie können nur beten. Wenn das Fieber weiter steigt …«, der Hausarzt sprach nicht weiter. Sie wussten auch so, wie es um ihr Kind stand. In dieser Nacht betete Lois zum ersten Mal seit langer Zeit. »Hoffentlich habt’s ihr euch nicht ang’steckt«, reißt ihn Erna aus den Gedanken. »Bei einer Herrschaft von mir ist die Mutter an Scharlach g’storben. Sieben Kinder, stell dir vor. Sie hat sich von einer Tochter ang’steckt und ist nimmer g’sund worden. Da hat dem Kapitän, ihrem Mann, sein ganzes Geld nix g’nutzt. Die haben in einem richtigen kleinen Schloss gewohnt, dem Martinschlössel in Klosterneuburg. Von Trapp haben s’ g’heißen, er war U-Boot Kapitän im Krieg. Noble Leut’, sehr nobel. Und so musikalisch, die Mutter hat den Kindern oft vorgesungen. Und dann …« Erna schüttelt gedankenverloren den Kopf. »1922 war das. Der Trapp ist dann mit den Kindern nach Salzburg gezogen. Kein Wunder, dass er nimmer dort wohnen wollt.« »Geh, Erna, lass doch den Lois mit deinen Geschichten in Ruh’! Koch lieber was G’scheites«, knurrt Albert, der noch kein Wort gesprochen hat, seit seine Frau vom Einkaufen zurück ist. »Ja, ja, schon recht. Kochen, waschen, putzen, des is’ alles, was ich machen darf. Und möglichst den Mund halten. Und der Herr schafft an!« »Hast wieder zu viel in deinem Weiberblattl g’lesen, was? Die Unzufriedene, wenn a Zeitung schon so heißt!« »Mein Gott, was du wieder z’samm’red’st, Bertl!« Ernas Ton ist scharf. »Das ist eine Wochenzeitschrift für Genossinnen, das weißt du ganz genau. Und das ›Unzufrieden‹ bezieht sich auf den Staat, nicht auf die Männer.« »Hört’s...