E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Moshfegh Eileen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95438-083-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-95438-083-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ottessa Moshfegh wurde in Boston geboren und ist kroatisch-persischer Abstammung. Sie steht auf der Granta-Liste der zwanzig besten jungen Autoren aus den USA. Für ihre Novelle 'McGlue' erhielt sie den Believer Book Award sowie den Fence Modern Prize. Ihr Roman 'Eileen' stand auf der Shortlist des Man Booker Prize und wurde mit dem PEN/Hemingway Award ausgezeichnet. Ottessa Moshfegh lebt in Los Angeles.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ICH SAH WIE EIN MÄDCHEN AUS, das man sich im Bus vorstellen könnte, vielleicht mit einem Netz über den mausbraunen Haaren, in einem leinengebundenen, aus der Bücherei stammenden Band über Pflanzen oder Geografie lesend. Man könnte mich für eine Schwesternschülerin oder Stenotypistin halten, würde vielleicht die fahrigen Hände, den zuckenden Fuß, die zerkaute Lippe bemerken. Unscheinbar sah ich aus. Ich kann mir diese junge Frau leicht vorstellen, ein seltsam graues, jüngeres Ich, das eine unauffällige Lederhandtasche oder ein Tütchen Erdnüsse in der Hand hält. Jede Erdnuss wird einzeln zwischen den Handschuhfingern gerollt, die Wangen wölben sich nach innen, wenn sie in den Mund gesteckt wird. Dabei starrt die junge Frau sorgenvoll aus dem Fenster. Im Morgenlicht war der dünne Flaum auf meinem Gesicht zu sehen, den ich mit Kompaktpuder – einem Ton zu rosa für meinen bleichen Teint – abzudecken versuchte. Ich war dünn, meine Haltung steif, ich hatte eine kantige Figur, und meine Bewegungen waren zögerlich, eckig. Mein Gesicht war mit Aknenarben bedeckt, und ob sich Freude oder Wahnsinn unter meiner tödlich kalten neuenglischen Fassade verbargen, blieb unklar. Hätte ich eine Brille getragen, wäre ich vielleicht als Intellektuelle durchgegangen, aber ich war zu ungeduldig, um wirklich schlau zu sein. Man hätte sich vorstellen können, dass ich mich in der Stille abgeschlossener Räume wohlfühlte, stumpfsinniges Schweigen genoss, während ich den Blick langsam über das Papier, die Wände, die schweren Vorhänge wandern ließ und nie weiter dachte als bis zu dem, was ich vor Augen hatte – Buch, Tisch, Baum, Mensch. Aber ich hasste Stille. Ich hasste Bewegungslosigkeit. Ich war im Grunde gegen alles und permanent unglücklich oder aufgebracht. Ich versuchte, meinen Zorn zu kontrollieren, was mich nur noch unbeholfener, unglücklicher und wütender machte. Ich war wie Jeanne d’Arc oder Hamlet, nur ins falsche Leben geboren – das Leben eines Niemands, einer Heimatlosen, unsichtbar. Besser kann man es nicht ausdrücken: Ich war damals nicht ich selbst. Ich war jemand anders. Ich war Eileen.
Außerdem war ich damals – das war vor fünfzig Jahren – schrecklich prüde. Man brauchte mich nur anzusehen. Ich trug schwere Wollröcke, die bis übers Knie gingen, dazu dicke Strumpfhosen. Jacken und Blusen knöpfte ich bis oben hin zu. Nach mir drehte niemand den Kopf um. Dabei war nichts wirklich Schlimmes oder Abstoßendes an meinem Aussehen. Im Grunde genommen war ich jung und nicht unbedingt hässlich, eher normal, durchschnittlich, könnte man sagen. Aber damals fand ich mich das Allerletzte – widerlich, abstoßend, untauglich für die Welt. Da kam es mir idiotisch vor, irgendwie Aufmerksamkeit auf mich ziehen zu wollen. Ich trug nur selten Schmuck und nie Parfüm oder Nagellack. Eine Weile hatte ich einen Ring mit einem kleinen Rubin am Finger. Der hatte meiner Mutter gehört.
Meine letzten Tage als die kleine, zornige Eileen spielten sich Ende Dezember in der grimmigen Kälte jener Kleinstadt ab, in der ich geboren und aufgewachsen war. Mehr als ein Meter Schnee war bereits gefallen und schmolz auch nicht mehr weg. Unerschütterlich lag er in allen Vorgärten und drängte wie eine Flutwelle an die Brüstung jedes Erdgeschossfensters. Tagsüber taute die oberste Schneeschicht ein wenig an, etwas Matsch floss in die Gullys und man erinnerte sich, dass es Freude und Sonnenschein im Leben geben konnte. Aber im Laufe des Nachmittags verschwand die Sonne, alles fror wieder zu und bildete nachts eine Eisschicht, die so dick war, dass sie das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes tragen konnte. Jeden Morgen streute ich Salz aus dem Eimer, der neben der Haustür stand, auf den schmalen Gartenweg von unserer Veranda zur Straße. Vom Dachsparren über der Tür hingen Eiszapfen, und wenn ich darunter stand, stellte ich mir vor, sie würden abbrechen und meine Brüste durchbohren, den dicken Knorpel an meiner Schulter durchtrennen oder sich wie eine Gewehrkugel in mein Gehirn bohren. Der Schnee auf dem Bürgersteig war von den Nachbarn weggeschippt worden, denen mein Vater zutiefst misstraute, weil sie Protestanten waren und er Katholik. Allerdings misstraute er allen und jedem. Wie die meisten alten Säufer war er voller Wahn- und Angstvorstellungen. Dieselben protestantischen Nachbarn hatten uns als Weihnachtsgeschenk einen weißen Weidenkorb mit gewachsten, in Zellophan verpackten Äpfeln, einer Schachtel Pralinen und einer Flasche Sherry vor die Tür gestellt. Auf der beiliegenden Karte stand: »Gott segne Sie beide.«
Wer wusste schon, was in unserem Haus vor sich ging, während ich bei der Arbeit war? Es war ein altes, braunes Holzhaus im Kolonialstil mit roten Fensterrahmen. Ich stelle mir vor, wie mein Vater in Weihnachtsstimmung an der Sherryflasche nuckelt und sich einen alten Zigarrenstummel am Gasherd anzündet. Das ist ein lustiger Gedanke. Normalerweise trank er Gin. Manchmal Bier. Wie ich bereits sagte, war er ein Säufer. In der Hinsicht war er unkompliziert. Wenn etwas nicht stimmte, ließ er sich leicht ablenken und beruhigen: Ich drückte ihm einfach eine Flasche in die Hand und ging aus dem Zimmer. Natürlich war seine Trinkerei für mich als junge Frau belastend. Es machte mich unruhig und gereizt. Das ist normal, wenn man mit einem Alkoholiker zusammenlebt. In diesem Punkt ist meine Geschichte nichts Besonderes. Ich habe im Laufe der Jahre mit vielen Alkoholikern zusammengelebt, und bei jedem habe ich immer wieder von Neuem gelernt, wie sinnlos es ist, sich Sorgen um ihn zu machen, wie müßig, nach dem Warum zu fragen, dass es reiner Selbstmord ist zu versuchen, ihm zu helfen. Trinker sind Trinker und bleiben Trinker. Jetzt lebe ich allein. Glücklich. Und sehr zufrieden. Ich bin zu alt, um mir den Kopf über die Probleme anderer Leute zu zerbrechen. Ich vergeude keine Zeit mehr damit, an die Zukunft zu denken oder über ungelegte Eier nachzugrübeln. Aber als ich jung war, beschäftigte ich mich ständig mit der Zukunft, was meistens mit meinem Vater zu tun hatte – wie lang er noch leben würde, was er heute wieder anstellen würde, welches Chaos ich vorfinden würde, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause kam.
Wir hatten kein schönes Zuhause. Nach dem Tod meiner Mutter gingen wir ihre Sachen nicht durch, wir gaben nichts weg und räumten auch nicht um, und da sie nun nicht mehr zum Putzen da war, war das Haus staubig und schmutzig und voll mit nutzlosem Plunder. Überall lag Zeug und noch mehr Zeug herum. Zugleich wirkte es völlig leer. Es kam einem vor wie ein verlassenes Haus, dessen Bewohner mitten in der Nacht fliehen mussten, Juden oder Zigeuner vielleicht. Wohnzimmer, Esszimmer und die Schlafzimmer benutzten wir kaum. Alles stand einfach da und staubte ein; jahrelang lag eine Zeitschrift aufgeklappt auf der Sofalehne, in einer Bonbonschale sammelten sich tote Ameisen. Es erinnerte an Fotos von verlassenen Häusern in der Wüste, nachdem dort Atombomben getestet worden waren, zumindest habe ich es so in Erinnerung. Die Einzelheiten können Sie sich selbst ausmalen.
Ich schlief auf dem Dachboden in einem Feldbett, zehn Jahre zuvor für einen Campingurlaub gekauft, den mein Vater dann nie antrat. Der Dachboden war nicht ausgebaut und sehr kalt und staubig. Hier hatte ich Zuflucht gesucht, als meine Mutter krank wurde. In meinem Kinderzimmer, das direkt neben ihrem Zimmer lag, hatte ich keinen Schlaf finden können. Die ganze Nacht lang weinte sie, klagte und rief nach mir. Auf dem Dachboden war es ruhig. Nur wenige Geräusche drangen aus dem Rest des Hauses nach oben. Mein Vater hatte einen Lieblingssessel, den er aus dem Wohnzimmer in die Küche geschleppt hatte. Auf dem schlief er. Es war ein Fernsehsessel, den man mit einem Hebel nach hinten klappen konnte, was der letzte Schrei gewesen war, als er ihn damals kaufte. Der Hebel war mittlerweile kaputt und der Sessel in der Liegestellung festgerostet. Alles im Haus war wie der Sessel – verdreckt, kaputt und erstarrt.
Ich weiß noch, dass es mich in jenem Winter freute, dass die Sonne so früh unterging. Im Schutz der Dunkelheit fühlte ich mich wohler. Mein Vater fürchtete sich allerdings im Dunkeln. Das mag sich nach einer liebenswerten kleinen Marotte anhören, war es aber nicht. Nachts zündete er den Gasherd und den Ofen an, schaute unter der schwachen Deckenbeleuchtung den blauen Flämmchen zu und trank. Er behauptete, ständig zu frieren. Allerdings zog er sich auch nie richtig an. An diesem Abend – ich werde meine Geschichte an dieser Stelle beginnen – saß er barfuß auf der Treppe, einen Zigarrenstummel zwischen den Fingern, und trank den Sherry. »Arme Eileen«, sagte er sarkastisch, als ich zur Tür hereintrat. Er behandelte mich meist herablassend, immer hatte er etwas an meinem bedauernswerten Anblick auszusetzen und auch keinerlei Skrupel, mir das mitzuteilen. Hätten sich meine damaligen Träume bewahrheitet, hätte ich ihn eines Tages am Fuß der Treppe vorgefunden, mit gebrochenem Genick, aber noch atmend. »Das wurde auch langsam Zeit«, hätte ich dann so gelangweilt wie möglich vorgebracht und ihn gemustert, während er sterbend am Boden lag. Ja, ich verabscheute ihn, aber ich war trotzdem...




