Moser Wenn auch nur für einen Tag
2. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7320-0104-0
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-7320-0104-0
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lukas steht vor dem Nichts. Unter Zeugenschutz muss er alles verleugnen: seine Herkunft, seine Familie, sogar seinen richtigen Namen. Erst als er Jana kennen lernt, kann er sein neues Leben langsam akzeptieren.
Jana trauert um ihren Bruder Florian. Um den Schmerz zu lindern, verdrängt sie seinen Tod und verstrickt sich dadurch immer mehr in ein Gewirr aus Lügen.
Keiner von beiden ahnt, dass ihre Schicksale ausgerechnet durch Florians Tod verknüpft sind. Die Lügen drohen ihre Liebe zu zerstören. Dennoch wünschen sich Lukas und Jana nichts sehnlicher, als einmal ungetrübt glücklich sein zu dürfen - wenn auch nur für einen Tag.
Annette Moser wurde 1978 in Hamburg geboren und arbeitete nach ihrem Studium mehrere Jahre als Lektorin in einem Kinder- und Jugendbuchverlag. Heute lebt sie mit ihrem Freund in Nürnberg und schreibt leidenschaftlich gern Kinderbücher.
Autoren/Hrsg.
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PROLOG Zwei Monate vorher Der junge Mann lief in der Menge der anderen Fluggäste den endlosen Gang hinunter. Ohne stehen zu bleiben, passierte er die Gepäckausgabebänder – er hatte nichts aufgegeben. Sein Blick konzentrierte sich auf die Ausgangsschilder des Hamburger Flughafens. Hinter der riesigen Glasfront tummelten sich unzählige Wartende, die die Hälse nach ankommenden Bekannten und Familienmitgliedern reckten. Es wurde sich umarmt, geküsst und überschwänglich begrüßt. Der Junge entdeckte den Kaffeekiosk und lief darauf zu. Hier war ihr Treffpunkt. Während seine Finger seinen Personalausweis umklammerten, blickte er sich suchend um. Er hatte keine Ahnung, auf wen er wartete. Kein Foto, keine Altersangabe, keine sonstige Beschreibung. Den Namen hatte sein Vater zwar ein- oder zweimal erwähnt, aber er hatte ihn in der ganzen Aufregung wieder vergessen. Es war etwas Banales, Klangloses gewesen. Ein unauffälliger Name, was in diesem Fall wahrscheinlich von Vorteil war. Egal, es hatte geheißen, er brauche sich um nichts zu kümmern, man würde ihn finden. Als sein Blick erneut die Glasscheibe streifte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Vage zeichnete sich dort sein eigenes Spiegelbild ab. Am deutlichsten stachen die blonden Strähnen hervor, die ihm in die Stirn fielen. Sie umrahmten sein ebenmäßiges Gesicht wie selbstverständlich, aber in seinen Augen ließen sie jedes Detail fremd erscheinen: die gerade Nase, die schmalen Lippen, die Augen, die unter dichten Brauen lagen und deren ungewohnte grüne Farbe er glücklicherweise nicht erkennen konnte. Er ließ seinen Blick an sich hinabwandern. Wenigstens seine Statur erinnerte ihn noch an sich selbst. Zwar hatte sein Körper in den vergangenen Wochen ein wenig an Muskelmasse verloren und wirkte insgesamt etwas schmaler, aber seine Schultern waren nach wie vor kräftig, und mit ein bisschen Training würde er auch den Rest schnell wieder in Form bringen. Er schluckte. Je länger er hier herumstand und sich anstarrte, desto stärker wurde dieses beklemmende Gefühl in ihm. Nach den Vorbereitungen, der Hektik und der Flut an Informationen, die man ihm in der kurzen Zeit eingeimpft hatte, hatte er keine Ruhe gehabt, über das Geschehene, geschweige denn über das, was noch auf ihn zukommen konnte, nachzudenken. Erst jetzt, bei seinem eigenen Anblick, wurde ihm langsam wieder bewusst, weshalb er eigentlich hier war. Jemand fasste ihn von hinten an der Schulter, exakt dort, wo sich seine Narbe befand. Erschrocken fuhr er herum. »Lukas Richter?« Er nickte zögerlich und musterte den Mann, der vor ihm stand, mit skeptischem Blick. Er trug einen schwarzen Mantel, hatte grau durchsträhntes dunkles Haar, eine schmale Nase und eine hohe furchige Stirn. Auch der Mann betrachtete sein Gegenüber einen Moment lang kritisch, dann lächelte er zufrieden, zog den Jungen an sich und umarmte ihn. »He, scusi, was –« »Willkommen in Hamburg, Lukas. Ich bin dein Onkel Fred.« »Mein – was?« Der Junge machte sich los und wich mit Unbehagen einen Schritt zurück. Der Fremde zog seine linke Augenbraue hoch. »Was denn, so zimperlich? Ich dachte, ihr Italiener umarmt euch ständig«, bemerkte er leise und mit einer nicht zu überhörenden Ironie in der Stimme. »Gewöhn dich lieber gleich an unser inniges Verhältnis, ab heute sind wir verwandt.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Sporttasche, die der Junge über der Schulter trug. »Mehr hast du nicht dabei?« »Nein … ich durfte nicht.« Den Jungen überkam ein leichtes Schwindelgefühl und obwohl er fließend Deutsch sprach, fiel es ihm plötzlich schwer, dieser Flut an Worten, die auf ihn einströmte, zu folgen. Es war alles so schnell gegangen, man hatte ihn noch nicht einmal für eine Stunde nach Hause gelassen, damit er seine wichtigsten Sachen zusammenpacken konnte. Noch im Krankenhaus war er notdürftig mit Klamotten ausgestattet worden. Dann hatte man ihn direkt zum Flughafen gebracht. Der Mann, den er Onkel Fred nennen sollte, machte ein Zeichen, ihm zu folgen. »Du wirst Zeit genug haben, dich neu einzukleiden, keine Sorge«, hörte er ihn wie aus weiter Ferne sagen. In seinen Ohren rauschte es dumpf, während er dem Mann mechanisch zum Ausgang des Flughafens folgte. Vielleicht war das hier alles nur ein Traum, aus dem er gleich aufwachen würde. Erst als ihm draußen die kalte Februarluft ins Gesicht schlug, begann sein Verstand wieder zu arbeiten. Zugleich durchflutete ihn ein Gefühl von Hilflosigkeit. Wie hatte es bloß so weit kommen können? Es fühlte sich falsch an, er gehörte einfach nicht hierher. »Merda!«, fluchte der Junge leise vor sich hin und fuhr sich über die Stirn. »Was für eine verfluchte Scheiße!« »Da hast du verdammt noch mal recht, aber es lässt sich nicht ändern«, entgegnete der Mann ungerührt. »Was passiert ist, ist passiert. Machen wir das Beste draus.« Er öffnete die Fahrertür eines Taxis und forderte den Jungen mit einer Geste auf, auf der anderen Seite einzusteigen. Dieser starrte verwirrt auf den alten Mercedes. »Scusi, aber ich dachte, Sie sind Detektiv oder verdeckter Ermittler oder so etwas in der Art. Auf jeden Fall kein Taxifahrer!« Der Mann hielt inne, seine Miene verfinsterte sich. Dann machte er ein paar schnelle Schritte auf den Jungen zu, bis nur noch wenige Zentimeter sie trennten. Er sah ihm fest in die Augen. »Einsteigen«, befahl er leise. »Sofort. Und schreib dir eines hinter die Ohren, Lukas Richter: Keine Äußerungen dieser Art in der Öffentlichkeit und vor allem nicht in einer solchen Lautstärke. Sonst kannst du sofort ins nächste Flugzeug zurück nach Rom steigen. Ich verwette meinen Arsch darauf, dass es dort den einen oder anderen gibt, der dich mit Freuden empfangen wird.« Der junge Mann hielt einen Moment lang dem Blick seines Gegenübers Stand, dann stieg er wortlos in das Taxi ein. Calmati, reg dich nicht auf, auch wenn dir dieser Typ jetzt schon tierisch auf die Eier geht, beschwor er sich. Er hatte im Moment keine andere Wahl, als mitzuspielen. Bald schon würde die ganze Sache überstanden sein und er konnte zurück nach Hause und sein Leben weiterführen wie gewohnt. Alles würde so sein wie früher – bevor alles aus dem Ruder gelaufen war. Inzwischen musste er einfach versuchen, sich zu entspannen und das hier als erholsame siesta zu betrachten, als eine kleine Auszeit. Vielleicht konnte er sogar einen gewissen Nutzen aus der Situation ziehen. Immerhin kannte ihn hier niemand und somit hatte er auch keinen Ruf zu verlieren. Lukas Richter würde eines Tages wieder aus der Stadt verschwunden sein, so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Dieser Gedanke stimmte ihn etwas positiver. »Also, wohin fahren wir?«, fragte er, nachdem der Mann den Motor gestartet hatte. »Zu mir nach Hause.« »Dio mio, jetzt erzählen Sie mir nicht, ich muss bei Ihnen wohnen!« »Obwohl es seine Vorteile hätte, würde ich das mir und meiner Familie nicht antun«, war die schroffe Antwort. »Und nur, damit du Bescheid weißt: Du bist der Sohn eines der unzähligen Halbbrüder meiner Frau. Ihre Mutter hatte vier Ehemänner und mit jedem mindestens zwei Kinder, die unter allen möglichen Namen in der Welt verstreut leben und jeweils wieder einen Haufen Kinder haben. Da verliert man schnell den Überblick. Niemand wird sich über das plötzliche Erscheinen irgendeines Neffen wundern.« »Hört sich ja super an!« »Und noch etwas: Das hier ist eine absolute Ausnahme. Ich bin schon seit mehr als fünf Jahren nicht mehr im Zeugenschutz tätig und diesen Auftrag habe ich nur deshalb angenommen, weil mich deine Eltern auf Knien darum angebettelt haben.« »Scheiße, und in welchem Bereich arbeiten Sie dann?« »In diesem hier.« Er klopfte auf das Lenkrad. »Ich fahre Taxi, so wie ich es schon wollte, als ich zehn war.« »Oh Mann, sehr beruhigend. Da fühle ich mich doch gleich wahnsinnig sicher.« Der junge Mann schüttelte den Kopf und fragte sich, was sein Vater sich dabei gedacht hatte, diesen lächerlichen Typen zu seinem persönlichen Schutz anzuheuern. Er hatte behauptet, der Kerl sei ein Profi. »Keine Angst, Kleiner, ich bin top in Form«, erklärte sein Begleiter gelangweilt. »Ab und zu übernehme ich noch Jobs im Sicherheitsdienst, die schnell erledigt sind und nebenbei ein nettes Sümmchen einbringen.« »Und das wäre?« »Ich bewahre alberne Möchtegern-Stars während ihrer Auftritte und Dreharbeiten vor Angriffen, die manchmal mehr als berechtigt wären. Danach mache ich es mir dann mit einer Tüte Chips auf der Couch bequem und sehe mir mit meinem Sohn Cartoons an.« »Hört sich nach ’ner Menge Verantwortung an«, murmelte der Junge sarkastisch. Das wurde ja immer besser. Sein Vater schleuderte sein Geld aus dem Fenster, so viel stand fest. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin mehr als zufrieden mit meinem Leben und die Kohle ist weiß Gott leichter verdient, als auf Typen wie dich aufzupassen. Also, wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann strapazier meine Nerven nicht unnötig und mach das, was ich dir sage. Damit wirst du im Übrigen auch selbst am besten fahren und dich schneller an dein neues Leben gewöhnen.« Der Junge starrte den Mann perplex an. »Cosa? An mein … neues Leben? Wie lange, glauben Sie, wird dieser Irrsinn dauern? Ich hatte vor, in ein paar Monaten wieder abzuhauen.« Der Fahrer erwiderte nichts, sondern hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet. Alles klar, er geht davon aus, dass es länger dauert, dachte der Junge. Genau wie die Ermittler zu Hause. Keiner hatte es...