E-Book, Deutsch, 420 Seiten
Moser Land der Söhne
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-312-01102-5
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 420 Seiten
ISBN: 978-3-312-01102-5
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sofia, 12 Jahre alt, reist mit ihrem Vater Giò im Zug nach New Mexico. Großvater Luigi ist gestorben, und Giò will sich der Vergangenheit stellen. In den 40ern kam Luigi als kleiner Junge aus dem Tessin in die USA und wird von der Mutter, die in Hollywood ihr Glück versucht, in ein Freiluftinternat abgeschoben. Viele Jahre später geht er selbst nach Hollywood, um Produzent zu werden. Seinen Sohn Giò lässt er bei dessen Mutter zurück, die als Hippie-Aussteigerin die freie Liebe probt. Und auch sie lässt Giò in der Kommune zurück, um sich woanders selbst zu verwirklichen. Der neue Moser-Roman ist ein kluges und fesselndes Familiendrama um tief verwurzelte Schuld, Abhängigkeit und Freiheit.
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SOFIA Bunte Drachen stiegen auf, kreuzten einander, ihre Schnüre verknäulten sich, dann erstarrten sie mitten im Flug. Zunehmend frustriert wischte Sofia über den Bildschirm. Dann schaute sie hoch und ihrem Vater in die Augen. Seit der Zug den Bahnhof von Los Angeles verlassen hatte, schien er sie ständig zu beobachten. «Schau mich nicht so an.» Wieder und wieder tippte sie mit dem Finger auf den Bildschirm, doch die Drachen blieben starr. «Die Internetverbindung ist beschissen hier.» «Rede nicht so, junges Fräulein.» Papa Giò war der strengere Vater, der altmodischere. Aber er war nicht wie sonst. Er wirkte, obwohl er sie anschaute, abwesend. Sofia sah aus dem Fenster, um seinem Blick auszuweichen. Draußen zog eine Landschaft vorbei mit Palmen, dahinter das Meer. In den Frühlingsferien waren sie nach Hawaii geflogen. Sie hatten in einem Hotel direkt am Strand gewohnt, und Sofia hatte surfen gelernt. Aber das hier waren keine Ferien. Das war … sie wusste nicht, was es war. Diese Zugfahrt. Nur sie und Papa Giò. «Ist doch wahr», murmelte sie. Papa Santi fehlte ihr. Es war das erste Mal, dass sie nicht zu dritt verreisten. Santi organisierte sonst immer alles, kümmerte sich, sorgte dafür, dass es Sofia an nichts fehlte. Sie wollte ihm eine Nachricht schicken, aber auch das funktionierte nicht. Papa Santi hatte außerdem gesagt, er brauche Zeit für sich. Zeit für sich. Sofia wusste, was das hieß: Ihre Eltern würden sich scheiden lassen. Die meisten in ihrer Klasse hatten das schon hinter sich, manche zweimal. Und alle meinten, es sei gar nicht so schlimm. Zwei Wohnungen, zweimal Weihnachten, zweimal Geburtstag, zweimal alles. Außerdem Stiefväter, Stiefmütter, neue Geschwister. Mehr Geschenke von allen Seiten. «Mehr Liebe», sagten die Lehrerinnen salbungsvoll, wenn sie in der Schule den «erweiterten Familienkreis» machten. «Mehr Familienmitglieder bedeutet: mehr Liebe.» Vielleicht. Aber Sofia wollte keine Scheidung. Ihr fiel nur kein anderer Grund ein, eine Reise anzutreten, kaum hatte das Schuljahr begonnen. Im Zug! Sofia legte das iPad weg. «Ich kann gar nichts machen», quengelte sie. «Nichts funktioniert! Keine Filme, keine Nachrichten, keine Spiele.» «Hast du keine Bücher heruntergeladen?» «Nur die für die Schule. Alle doof!» Wenn Abupaula hier wäre, würde sie Sofia am Ohr ziehen und sie «verwöhnte Prinzessin» nennen. Doch Abupaula war nicht da. Niemand war da. Sie hatten ein Zugabteil für sich allein. Zwei lange Sofas, die man in Betten verwandeln konnte. Ein kleiner Tisch, ein winziges Bad mit Dusche. Zum Duschen musste man sich auf den Klodeckel setzen und an einem Duschschlauch ziehen, der von der Decke hing. Und dann war alles nass. Sofia zweifelte, ob Papa Giò in das Bad passen würde. Er war zwar dünn, aber beinahe zwei Meter groß. Santi war kleiner und weniger dünn. Immer war er auf Diät, Giò wollte zunehmen, und beide wollten, dass Sofia «ein gesundes Verhältnis zu ihrem Körper entwickelte». Früher waren sie immer stundenlang in der Küche gestanden und hatten darüber diskutiert, ob Kokosöl dick mache. Damals schien das noch ihr größtes Problem. Sofia blinzelte die Erinnerung weg. «Ich habe Hunger», maulte sie weiter. «Wie lange geht das denn noch? Der Flug hätte zwei Stunden gedauert.» Eine Nacht und einen halben Tag würden sie in diesem Zug sitzen, auf dem Weg nach New Mexico. Wo Papa Giò «mit seiner Vergangenheit abschließen» wollte. Er hatte dort ein Stück Land geerbt. Aber war das ein Grund, Sofia aus dem Unterricht zu nehmen und auf die Reise mitzuschleppen? «Sofia, benimm dich bitte nicht wie ein kleines Kind!» Das klang schon besser. Sofia setzte noch einen drauf: «Ist doch wahr. Scheißzug!» Das war ein Test. Doch Papa Giò ließ es ihr einfach durchgehen. Zuhause musste Sofia für jedes verbotene Wort eine Münze in ein Einmachglas werfen. Es war schon wieder fast voll. Bald würden sie es in den Supermarkt zum Geldzählautomaten bringen. Oben war ein Trichter für die Münzen, das klimperte wie in einem Spielsalon. Unten kam ein Zettel heraus mit einem Betrag, den man an der Kasse ausbezahlt bekam. Das waren dann gut hundert, hundertzwanzig Dollar. Damit unternahmen sie etwas Besonderes, Wale beobachten oder einen Rundflug über die Stadt in einem Helikopter. Sie nannten es die «verdammte Touristenkasse», weil sie sich dank Sofias Fluchen wie Touristen in ihrer eigenen Stadt fühlen konnten. Manchmal nahm Papa Giò das Glas vom Küchenbuffet und wog es in der Hand: «Unglaublich, was ein einziges kleines Mädchen zusammenfluchen kann.» Manchmal sagte er auch: «Wenn du so weiterfluchst, kann ich bald aufhören zu arbeiten!» Dann musste sie lachen: «Bei dir zählt ja schon ‹Hölle› als Schimpfwort!» «‹Hölle›? Das macht fünfundzwanzig Cents, mein Fräulein.» «Papaaa!» «Welche Bücher musst du denn lesen?», fragte er jetzt. Aber so schnell gab Sofia nicht auf. «Das Tagebuch der Anne Frank, Die Bücherdiebin. So Scheiß halt über den scheiß Zweiten Weltkrieg!» Nicht besonders originell. Aber sie hatte nun mal keine Übung. «Sofia!» Na endlich. «Ich verbiete dir, so zu reden! Du entschuldigst dich auf der Stelle!» «’tschuldigung», murmelte sie. Gott sei Dank, dachte sie. «Du hast doch diese Bücher nicht gelesen?» Es war eine rhetorische Frage. Natürlich hatte er sie gelesen – Papa Giò hatte alles gelesen. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, lud er sich Vorlesungen aus dem Internet über die Parallelen zwischen dem Reich Karls des Großen und der heutigen amerikanischen Politik oder über die Entwicklung religiös bedingter Kriegführung im Mittelalter. Das Verrückte war: Er erinnerte sich an alles, was er je gelesen oder gehört hatte. Man konnte ihn irgendetwas fragen: über Insekten oder Musikinstrumente oder wie der Präsident von Litauen hieß. Papa Giò wusste die Antwort. Santi sagte immer, er solle in einer dieser Quizsendungen mitmachen und Millionen gewinnen. Papa Santi war besessen von dieser Idee. Das kam daher, dass er einmal sehr nahe dran gewesen war, kurz vor Sofias Geburt. Santi war damals Haarkünstler in Los Angeles. Also Frisör, aber in Hollywood. Eine seiner ersten Kundinnen war eine arbeitslose Schauspielerin namens Jenny Macmillan. Wenn sie vorsprechen musste und gerade kein Geld hatte, föhnte er ihre Haare gratis in Form. «Wenn du mal reich und berühmt bist, gibst du es mir zurück», sagte er. Das sagte er nicht nur zu ihr. Aber Jenny war die Einzige, die kurz darauf tatsächlich reich und berühmt wurde. Und sie hielt ihr Wort. Sie ließ sich von niemand anderem die Haare schneiden, und plötzlich wollten alle Stars und alle Ehefrauen der Stars von Santi frisiert werden. Als er Jennys Haare für einen Film kurz und strähnig schnitt, wurde er selber berühmt. Wenn man «Jenny Macmillan» im Internet suchte, erschien «der Macmillan» als Haarschnitt ganz oben. Und dazu Santis Name. Damals wurde ihm eine eigene Realityshow angeboten in seinem Salon, mit seinen reichen und berühmten Kundinnen, mit all ihren Dramen, ihren Geheimnissen und ihren Intrigen. Doch dann wurde Celia schwanger, und Santi fand, ein Kind brauche eine richtige Familie. Und deshalb zogen die Papas, kaum war Sofia auf der Welt, nach San Francisco. Jenny Macmillan hatte dickes, glattes, schwarzes Haar, wie Santi. «Dankbares Haar», nannte Santi das. «Indianerhaar», sagte Abupaula. Sofia hatte ihr widerspenstiges Kraushaar von Papa Giò. Oder von jemand Unbekanntem. Ihre Mutter Celia war eine der vielen arbeitslosen Schauspielerinnen, die bei Santi immer wieder mal einen Gratis-Haarschnitt erbettelten. Ihr gegenüber war er besonders großzügig, vielleicht weil sie seiner Schwester Carla ähnlich sah. Die beiden Frauen hatten auch ähnliche Probleme: große Träume, die falschen Männer, Drogen und Schulden. Eines Tages erzählte sie Santi, dass sie sich bei einer Fruchtbarkeitsklinik als Leihmutter angemeldet habe. «Ich werde ja schon schwanger, wenn mich ein Mann schräg anschaut. Vielleicht ist das mein wahres Talent … Außerdem zahlen die gut. Besser als ein doofer Werbespot.» In diesem Moment, sagte Santi, in diesem Moment habe er es einfach gewusst. Vorher nie einen Gedanken an Kinder – plötzlich sah er sich als Familienvater. Er bat Celia, noch nichts zu unterschreiben, und stellte Giò noch am selben Abend vor die Wahl: «Entweder wir gründen eine Familie, oder wir trennen uns.» An dieser Stelle der Geschichte schüttelte Giò immer den Kopf, und Santi bekam Tränen in den Augen. «Sofi, es war, als hätte es dich in diesem Moment schon gegeben!» Dann kam die Bratensaftspritze, in der die Samen ihrer Papas vermischt wurden. An dieser Stelle hörte Sofia immer weg. Trotzdem erntete Celia weiterhin schräge Blicke von Männern, und als Sofia zur Welt kam, war ihre Hautfarbe mehrere Schattierungen dunkler als erwartet. Außerdem hatte sie recht ausgeprägte Mandelaugen. Deshalb, und weil sie zwei Väter hatte, dachten in der Schule alle, Sofia sei eine Stipendiatin. Denn obwohl die Sequoia Elementary and Middle School großen Wert auf kulturelle Durchmischung legte, konnten sich die wenigsten Nichtweißen das Schulgeld leisten. Kandidaten aus «anderen Kulturkreisen» wurden geradezu aggressiv umworben, vor allem, seit bekannt geworden war, dass die dunkelhäutigen Kinder auf den Bildern der Schulwerbung bezahlte Fotomodelle waren. Sofia allerdings war eine ganz normale, vollzahlende Schülerin. Santi spendete für den Wohltätigkeitsbasar immer die teuersten Preise: Es sollten alle sehen, dass sie reich waren. So reich wie die Techies, die Internetbarone, die diese Stadt regierten. Ob Papa Santi Los...