Morton | Die verlorenen Spuren | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

Morton Die verlorenen Spuren

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-08330-4
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

ISBN: 978-3-641-08330-4
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine unheilvolle Lüge, eine verbotene Sehnsucht, ein geheimes Verbrechen

England, Greenacres Farm 1961: Während einer Familienfeier am Flussufer beobachtet die junge Laurel, wie ein Fremder das Grundstück betritt und ihre Mutter aufsucht. Kurz darauf ist der idyllische Frieden des Ortes jäh zerstört. Erst fünfzig Jahre später gesteht sich Laurel beim Anblick eines alten Fotos ein, dass sie damals Zeugin eines Verbrechens wurde. Doch was genau geschah an jenem lang zurückliegenden Sommertag? Weltbestseller-Autorin Kate Morton erschafft eine einzigartige Welt, in der die Vergangenheit die Gegenwart nicht loslässt.
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1

Das ländliche England, ein Bauernhaus mitten im Nirgendwo, ein Sommertag Anfang der Sechzigerjahre. Das Haus ist bescheiden: Fachwerk, an dem die weiße Farbe abblättert, rankende Clematis. Aus dem Kamin steigt Rauch auf, ein untrügliches Zeichen dafür, dass in der Küche etwas Köstliches auf dem Herd steht. Die Gemüsebeete hinter dem Haus sind mit Liebe angelegt, die Bleiglasfenster auf Hochglanz geputzt, und das Schindeldach ist mit großer Sorgfalt ausgebessert.

Ein Holzzaun umgibt das Haus, und ein robustes Tor trennt den gepflegten Garten von den umliegenden Weiden und einem weiter entfernten Wäldchen. Zwischen den knorrigen Bäumen plätschert ein Bach, sprudelt munter über Steine, schlängelt sich wie schon seit Jahrhunderten durch Sonnenlicht und Schatten. Aber das Plätschern kann man von hier aus nicht hören. Der Bach ist zu weit weg. Das Haus steht allein da, am Ende einer langen, staubigen Einfahrt, nicht sichtbar von der Landstraße aus, nach der es benannt ist.

Bis auf eine leichte Brise, die hin und wieder aufkommt, ist alles still und ruhig. Zwei weiße Hula-Hoop-Reifen, im vergangenen Jahr der letzte Schrei, lehnen an einem Glyzinienbogen. Ein Teddybär mit Augenklappe und einem würdevoll ernsten Gesichtsausdruck bewacht das Ganze in seinem Ausguck im Klammerbeutel auf einem grünen Wäschewagen. Neben einem Schuppen wartet geduldig eine mit Blumentöpfen beladene Schubkarre.

Trotz der Stille, oder vielleicht gerade deswegen, strahlt die Szene etwas Erwartungsvolles aus, wie eine Theaterbühne, kurz bevor die Schauspieler auftreten. Ein Moment, in dem noch alle Möglichkeiten offen sind, wenn das Schicksal noch nicht durch die äußeren Umstände besiegelt ist, und da –

»Laurel!« – ertönt in einiger Entfernung eine ungeduldige Kinderstimme.

»Lau-rel! Wo bist du?«

Es ist, als wäre ein Bann gebrochen. Das Licht im Saal geht aus, der Vorhang hebt sich.

Ein paar Hühner tauchen aus dem Nichts auf, um zwischen den Steinen des gepflasterten Gartenwegs zu picken, ein Häher stößt einen einzelnen Schrei aus, ein Traktor auf einer Weide beginnt zu tuckern. Und hoch über allem, auf dem Boden eines Baumhauses, reckt und streckt sich ein sechzehnjähriges Mädchen, auf dem Rücken liegend, drückt das Zitronenbonbon, das es im Mund hat, an seinen Gaumen und seufzt …

Es war sicher grausam, dachte sie, die anderen so lange nach ihr suchen zu lassen, aber die Hitzewelle, das Geheimnis, das sie hütete, die anstrengenden Spiele – noch dazu so kindische Spiele –, all das war einfach zu viel gewesen. Im Übrigen gehörte es zur Herausforderung und, wie Daddy immer sagte, war es nur gerecht, und sie würden es nie lernen, wenn sie es nicht versuchten. Es war nicht Laurels Schuld, dass sie besser im Verstecken war. Die anderen waren kleiner als sie, das stimmte, aber sie waren auch keine Babys mehr.

Außerdem legte Laurel auch keinen besonderen Wert darauf, gefunden zu werden. Jedenfalls nicht heute. Nicht jetzt. Sie wollte nur hier oben liegen und den dünnen Stoff ihres Kleids an ihren nackten Beinen spüren, während sie an ihn dachte.

Billy.

Sie schloss die Augen, und sein Name schrieb sich in schwungvollen Buchstaben auf ihre Lider. Pink, neonpink. Sie drehte das Zitronenbonbon um, sodass es mit der hohlen Mitte auf ihrer Zungenspitze balancierte.

Billy Baxter.

Wie er sie über seine schwarze Sonnenbrille hinweg anschaute. Sein schiefes Lächeln. Sein dunkles Haar mit der Elvis-Tolle …

Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, genau so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, wie echte Liebe sein würde. Als Shirley und sie am Samstag vor fünf Wochen aus dem Bus gestiegen waren, hatten Billy und seine Freunde auf den Stufen des Tanzlokals gestanden und geraucht. Ihre Blicke hatten sich getroffen, und Laurel hatte dem lieben Gott dafür gedankt, dass sie einen ganzen Wochenendlohn für ein Paar neue Nylonstrümpfe geopfert hatte.

»Komm schon, Laurel.« Das war Iris, ihre Stimme klang müde von der Hitze. »Das ist gemein.«

Laurel schloss die Augen noch fester.

Sie hatte keinen Tanz ausgelassen. Die Band hatte immer wilder gespielt, ihr Haar, das sie sich mühsam nach dem Vorbild der letzten Ausgabe der Bunty hochgesteckt hatte, hatte sich gelöst, und ihr hatten die Füße wehgetan, aber sie hatten immer weitergetanzt. Erst als Shirley, offenbar eingeschnappt, weil sie nicht beachtet worden war, wie eine Anstandsdame ankam und sagte, dass gleich der letzte Bus fuhr und ob sie mitkommen wolle (ihr, Shirley, sei es selbstverständlich egal, was sie mache), hatte sie aufgehört. Und dann, als sie sich verschwitzt verabschiedet hatte und Billy ihre Hand genommen und sie an sich gezogen hatte, da hatte etwas tief in ihrem Innern gewusst, dass sie schon ihr ganzes Leben auf diesen wunderbaren Augenblick gewartet hatte …

»Okay, wie du willst.« Iris klang jetzt wirklich sauer. »Aber du bist selbst schuld, wenn nachher nichts mehr von der Geburtstagstorte übrig ist.«

Zwölf Uhr war gerade vorbei, ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster des Baumhauses und ließ Laurels Lider von innen rot erglühen wie Cherry-Cola. Sie setzte sich auf, machte jedoch keine Anstalten, ihr Versteck zu verlassen. Es war eine ernst gemeinte Drohung – denn es war allgemein bekannt, wie versessen Laurel auf die Victoria-Torte ihrer Mutter war –, aber sie zog nicht. Laurel wusste ganz genau, dass das Kuchenmesser auf dem Küchentisch lag. Es war in dem allgemeinen Chaos vergessen worden, als sie Picknickkörbe, Decken, Limonade, Badetücher und das neue Transistorradio eingepackt hatten und zum Fluss gegangen waren. Sie wusste es, weil sie während des Versteckspiels ins Haus zurückgeschlichen war, um das Buch zu holen. Da hatte sie das Messer neben der Obstschüssel liegen sehen, mit einer roten Schleife um den Griff.

Das Messer war Tradition – mit ihm war bislang jeder Festtagskuchen, jede Jubiläums- und Geburtstagstorte in der Geschichte der Familie Nicolson angeschnitten worden –, und ihrer Mutter waren Traditionen heilig. Deswegen bestand für Laurel kein Grund zur Eile, bis jemand losgeschickt wurde, um das Messer zu holen. Und das war auch gut so. In einem Haus wie dem ihren, wo ruhige Minuten so selten waren wie Sternschnuppen, wo ständig jemand durch eine Tür hereinkam oder eine andere zuschlug, musste man es ausnutzen, wenn man einmal Zeit für sich allein hatte.

Und gerade heute brauchte Laurel Zeit für sich.

Das Buch war am vergangenen Donnerstag mit der Post angekommen, und zum Glück hatte Rose das Päckchen entgegengenommen, nicht Iris oder Daphne oder – Gott bewahre – ihre Mutter. Laurel hatte sofort gewusst, von wem es kam. Sie war hochrot angelaufen, aber sie hatte es gerade noch geschafft, etwas von Shirley zu stammeln und von der neuesten Schallplatte einer bestimmten Band, die sie sich von ihrer Freundin ausleihen wollte. Die Ausrede war völlig überflüssig gewesen, denn die ewig verträumte Rose hatte ihre Aufmerksamkeit längst einem Schmetterling zugewandt, der auf dem Zaunpfahl saß.

Als sie am Abend alle im Wohnzimmer gehockt und Juke Box Jury im Fernsehen gesehen hatten und Iris und Daphne darüber gestritten hatten, wer männlicher aussah, Cliff Richard oder Adam Faith, und ihr Vater unmutig eingeworfen hatte, dass sie alle mit amerikanischem Akzent redeten und überhaupt die Menschen in England immer dicker wurden, hatte Laurel sich hinausgestohlen. Sie hatte sich im Bad eingeschlossen, sich auf den Boden gesetzt und mit dem Rücken an die Tür gelehnt.

Mit zitternden Fingern hatte sie das Päckchen aufgerissen.

Ein dünnes, in Seidenpapier eingewickeltes Buch war ihr in den Schoß gefallen. Als sie den Titel durch das Papier gelesen hatte – Die Geburtstagsfeier von Harold Pinter –, war ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen, und sie konnte nur mit Mühe einen Jubelschrei unterdrücken.

Seitdem schlief sie mit dem Buch unter dem Kopfkissen. Das war zwar nicht besonders bequem, aber sie wollte es in ihrer Nähe haben. Sie brauchte es in ihrer Nähe. Es war wichtig.

Es gab Momente im Leben, davon war Laurel überzeugt, da stand der Mensch an einem Scheideweg; Momente, in denen aus heiterem Himmel etwas passierte, das alles änderte. Die Premiere von Pinters Theaterstück war ein solcher Moment gewesen. Sie hatte in der Zeitung davon gelesen und den unwiderstehlichen Drang verspürt hinzugehen. Sie hatte ihren Eltern erzählt, sie würde Shirley besuchen, hatte Shirley darauf eingeschworen, den Mund zu halten, und dann war sie in den Bus nach Cambridge gestiegen.

Es war das erste Mal gewesen, dass sie allein irgendwohin gefahren war, und als sie im dunklen Theater gesessen und miterlebt hatte, wie Stanleys Geburtstagsfeier sich zu einem Albtraum entwickelte, war sie von einem nie gekannten Hochgefühl ergriffen worden. Es schien die Art Offenbarung zu sein, die die Schwestern Buxton jeden Sonntag mit erhitzten Gesichtern in der Kirche erlebten, auch wenn deren Begeisterung wahrscheinlich eher dem jungen Kaplan galt als dem Wort Gottes. Jedenfalls, als sie mit klopfendem Herzen auf ihrem billigen Platz gesessen hatte und das Drama auf der Bühne seinen Gang nahm und sie in ihren Bann schlug, da hatte sie es plötzlich gewusst. Sie hätte nicht genau sagen können, was es war, aber sie war sich ganz sicher gewesen: Das Leben hatte mehr zu bieten, und...


Morton, Kate
Kate Morton wuchs im australischen Queensland auf und studierte Theaterwissenschaften in London und Englische Literatur in Brisbane. Ihre Romane erscheinen weltweit in 38 Sprachen und 45 Ländern und eroberten ein Millionenpublikum. Alle Romane sind SPIEGEL-Bestseller. Kate Morton lebt mit ihrer Familie in Australien und England.

Breuer, Charlotte
Charlotte Breuer und Norbert Möllemann übersetzen Literatur aus dem Englischen, u.a. von Chloe Benjamin, Elizabeth George und Kate Morton.



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