Moritz | Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Taschenbuch

Moritz Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe

Roman
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-98168-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Taschenbuch

ISBN: 978-3-492-98168-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Liebesgschichte der besonderen Art in ParisEin Appartement am Montmartre, ein erfüllender Beruf, Freunde: Eigentlich könnte Nathalie Cottard glücklich sein. Warum aber bringt sie dann ein Wasserschaden so aus der Fassung? Fehlt ihr doch etwas? Als ihr Wohnungsnachbar, der scheue Robert Bernthaler, auf den Plan tritt, muss sie sich eine ganz neue, entscheidende Frage stellen: eine Pariser Buchhändlerin und ein deutscher Korkenverkäufer – kann das gut gehen?
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FÜNF

An die Métrofahrten am Morgen hatte er sich mühsam gewöhnt. Dieses Gedränge und Geschubse, diese Körperausdünstungen, diese eingefallenen Gesichter, diese Halbschlafgesten, dieser Ärger, wenn sich kein Platz fand, nicht einmal auf den Klappsitzen, die man im Berufsverkehr ohnehin nicht nutzen durfte. In Tübingen hatte es natürlich keine U-Bahn gegeben. Wer wie er mit Fahrrad oder Bus aufgewachsen war, der gewöhnte sich nur allmählich an die Selbstverständlichkeit, mit der die Pariser über bettelnde Gitarrenspieler, verwahrloste Zigeunerinnen mit elend aussehenden Kleinkindern, eingedreckte Sitzbänke und unendlich lange Übergänge wie am Châtelet-Knoten hinwegsahen, finstere Schluchten, die nachts gut und gern als Drehort für Horrorfilme herhalten konnten. Diesen Gleichmut hatte er noch nicht erreicht, doch Schrecken oder Unbehagen flößte ihm seine frühe Fahrt Richtung Norden nicht mehr ein.

Sein Morgen war fest strukturiert, von den ersten Tönen des Radioweckers um 6 Uhr 32 – eine Uhrzeit, die sich zufällig ergeben hatte und die er nie geändert hatte – bis hin zur Wechseldusche in seinem Badezimmer, das so eng geschnitten war, dass jede Drehung, jede Bewegung der Arme und Beine genau überlegt sein wollte, und zum spartanischen Frühstück, mit dem er in den Tag ging. Gelegentlich, wenn er sich aus einer Laune heraus selbst beobachtete, begann er über sich selbst zu lächeln, fand er sich komisch. Wäre es nicht aufregender gewesen, den Tagesrhythmus umzustoßen, sich treiben zu lassen und beispielsweise erst nach dem Morgenkaffee zu duschen? In die Tat setzte er solche Überlegungen nie um. Zu intensiv spürte er in diesen wankelmütigen Momenten, dass er auf die Rituale angewiesen war, dass er sie benötigte, um sein Seelenleben im Gleichgewicht zu halten. Er brauchte den Halt des Immergleichen, obwohl er sich dafür ein wenig schämte.

Spontaneität, hatte ihm seine letzte Freundin, Sandrine, Lohnbuchhalterin aus der Firma, zugerufen, das könne er gut gebrauchen. Ständig war sie auf dem Sprung gewesen, wollte ihn in puristisch eingerichtete Clubs am Seineufer locken und am Wochenende Ausflüge zu angesagten Orten unternehmen, Strapazen sondergleichen.

Fühlen muss ich, dass ich am Leben bin, im Grab wird’s noch ruhig genug werden – mit solchen Sätzen quälte sie ihn, denn er konnte, wie sie sehr wohl wusste, mit ihrer Rastlosigkeit wenig anfangen. Nach ein paar Monaten war ihre Beziehung im Sande verlaufen, ohne dass sie je in einem Gespräch beschlossen hätten, die Sache zu beenden. In der Firma lief man sich zum Glück selten über den Weg, und nach einer Weile plauderten sie so unbefangen in der Kantine miteinander, als sei man nie zusammen und nie auseinan-der gewesen. Merkwürdig, wie sich selbst Intimität nach und nach verlor, als habe es sie nie gegeben. Manchmal vermisste er ihren Tatendrang, ihre unkomplizierte Lust, sich auf Neues einzulassen, sich selbst zu überraschen. Immerhin hatte sie sich mit allem energisch auf ihn eingelassen, ihm niemals Zeit gelassen, über den richtigen Zeitpunkt sexueller Aktivitäten nachzudenken. Gefallen hatte ihm das, das sich in Sekundenschnelle einstellende Verlangen, die Küsse, die seine Lippen schon im Türrahmen bedeckten, und die Handgriffe, die ohne Umschweife signalisierten, dass die Stunde für hormonellen Spannungsabbau, wie sie das strahlend nannte, gekommen sei. Welche Frau redete schon so unkompliziert.

Vor zwei Monaten hatte sie die Firma verlassen, um zurück nach Lyon zu gehen. Im Aufzug waren sie einander ein letztes Mal begegnet; sie hatte ihm von der Stelle in einer Fleischfabrik erzählt, von deren Brühwürsten geschwärmt, ihn herzhaft auf die Wangen geküsst und war mit einem »Vergiss nicht, deinen Wecker mal auf 6 Uhr 33 zu stellen!« in der Buchhaltungsetage entschwunden, während er eine Weile mit dem Aufzug weitergefahren war, sinnlos nach oben zu den Gängen der Direktion, nach unten ins Erdgeschoss, das hinüberführte in die Produktionshallen, wo die Korken entstaubt, gereinigt, imprägniert und bedruckt wurden.

Dorthin müsste er heute als Erstes gehen, dachte er, als er die Treppen an der Métrostation Lamarck-Caulaincourt hinabstieg, eine Spirale, deren Ende er jedes Mal herbeisehnte. Den Großraumfahrstuhl nutzte er nur abends, für den Weg nach oben, obwohl es ihm gutgetan hätte, die Stufen hinaufzusteigen, das beuge Herzinfarkten vor, und daran müsse er, wie ihm sein Vater im letzten Telefonat dargelegt hatte, in seinem Alter allmählich zu denken beginnen. Wo er im Geschäft so viel um die Ohren und immer noch keine neue Frau habe, die nach ihm schaue. Allein zu leben, das sei nichts, wenn das so weiterginge, würde er enden wie dieser Oberstudienrat, der, als sie nach Reutlingen gezogen waren, im Nachbarhaus wie ein Hagestolz vor sich hin gelebt, nie Besuch empfangen, bis zu seinem einsamen Tod, und in der Tasche seines abgetragenen Mantels an einem alten Brötchen herumgenestelt habe, bis die Krumen nach und nach auf die Erde fielen und sich die Tauben einen Spaß daraus machten, hinter dem Sonderling herzutrippeln, um all die Brosamen aufzupicken. Ein jammervolles Bild, und so wolle Robert wohl nicht enden, noch dazu in diesem fremden Großstadtmoloch mit lauter Ausländern. Jederzeit könne er schließlich nach Deutschland zurück, an den Stammsitz des Unternehmens, und er, Vater, kümmere sich sofort um eine Wohnung für ihn, in Ohmenhausen oder Degerschlacht, alles angenehme Stadtteile. Das mit einer Frau werde sich von allein ergeben, eine Deutsche sei sicher passender als eine dieser aufgetakelten Französinnen, obgleich auch Stefanie, seine Geschiedene, aus dem Hohenlohischen gekommen war, also aus einer bodenständigen Gegend. Genützt habe das seiner Ehe freilich nicht, vom fehlenden Nachwuchs ganz zu schweigen, aber da wolle er sich nicht einmischen, schließlich sei er alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, und könne von seinen alten Eltern beim besten Willen nicht verlangen, dass sie die Verantwortung für sein Leben übernähmen. Wenigstens verdiene Robert gut, als Abteilungsleiter in diesem Korkenladen, obwohl er, wenn er sich am Wochenende einen Trollinger mit Lemberger, am liebsten aus dem Unterland, gönne, die praktischen Schraubverschlüsse bevorzuge. Und ich sage dir, Robert, rief er dröhnend ins Telefon, die korken nie!

Eine gute Dreiviertelstunde benötigte er, je nachdem wie prompt die Anschlusszüge in Pigalle und Stalingrad einliefen, ehe er in La Courneuve ausstieg und der Shuttlebus ihn zum Werkstor brachte. »Bouchons Sulzer« prangte in verschnörkelten Neonschreibschriftlettern über der großen, in den Achtzigerjahren erbauten Wellblechhalle. Das Umlautzeichen hatte man seinerzeit weggelassen und damit in Kauf genommen, die nicht ganz identischen Namen Sülzer und Sulzer in einen Topf zu werfen. Beim Sprechen machte das nichts aus, da dachten die Franzosen nicht daran, einen deutschen »u«-Laut in den Mund zu nehmen. Wie die überhaupt alles ihrer Aussprache einverleibten, felsenfest davon überzeugt, dass englische, russische oder deutsche Eigennamen keine andere als die französische Lautung duldeten. Als er Ende der Siebzigerjahre als Austauschschüler nach Frankreich, nach Grenoble, ein ehemaliger Olympiaort in den Alpen immerhin, gekommen war, hatte er über das Selbstbewusstsein der Einheimischen gerätselt. Während er sich unendliche Mühe gab, selbst polnische Städtenamen korrekt nachzusprechen, scherten sich die Menschen in Grenoble darum keinen Deut. Sogar Rundfunkmoderatoren verunstalteten englische Sänger wie Gilbert O’Sullivan und gemeindeten sie hemmungslos als »schilbärosüliwã« ein. Bei der Sülzer/Sulzer-Abweichung ließ sich weniger Unheil anrichten, allenfalls auf dem Briefpapier und beim Bankverkehr beschwor das Nachfragen herauf.

Froh, sich unbeschadet durch das Durcheinander an den Umsteigebahnhöfen gewunden zu haben, bestieg er die Linie 7, die ihn zur Endstation La Courneuve/ 8 mai 1945 bringen würde, und quetschte sich auf einen Eckplatz. Dicht gedrängt standen die Menschen auch hier; ihm gegenüber breitete sich eine gut genährte Schwarze in einem geblümten Rock aus. Die Frau kam wohl aus Afrika, aber da fühlte er sich unsicher, die Nationalitäten und Hautfarben auseinanderzuhalten gelang ihm selten, zumal alle Völker aller Länder nach Paris zu strömen schienen. Von seiner Wohnung aus brauchte er nur wenige Minuten zu gehen, bis zur Métrostation Marcadet-Poissonniers, und schon bewegte er sich in einem Gewimmel schwarzafrikanischer und orientalischer Bewohner, die nichts mit seinen Kinderbildern von pfeifenden Parisern mit Baguettestangen und Rotweinflaschen auf dem Fahrrad gemein hatten. Anfangs hatte er Straßenzüge wie den Boulevard Barbès gemieden, vor allem bei Dunkelheit. Von Reutlingen oder Tübingen kannte er dergleichen nicht, dieses Völkergemisch, doch wenn man länger hier wohnte, gewöhnte man sich daran. Seine Eltern, die ihn im vergangenen Herbst besucht hatten, überzeugte er nicht von der Bereicherung, die die Vielfalt der Kulturen den westeuropäischen Ländern bringe. Sein Vater hatte den Kopf geschüttelt, obwohl er mit den Ghettosiedlungen der Vorstädte gar nicht in Berührung gekommen war, und sich rigoros an die klassischen Touristenziele gehalten hatte.

Er versuchte der Schwarzen – nie wusste er, ob es noch erlaubt war, »Negerin« zu sagen oder zu denken – zuzulächeln, doch die ignorierte ihn, fläzte sich auf der Bank und wippte mit den Schuhen zu der fremdartig klingenden Musik aus ihrem Player. Fünf, sechs Stationen noch, dann war er da. Er las selten in der Métro, malte sich lieber aus, was im Büro...


Moritz, Rainer
Rainer Moritz, geboren 1958 in Heilbronn, leitet das Literaturhaus Hamburg. Er veröffentlichte Sachbücher wie »Und das Meer singt sein Lied«, »Die Überlebensbibliothek«, »Die schönsten Buchhandlungen Europas « und »Dicht am Paradies. Spaziergänge durch Pariser Parks und Gärten« und schrieb sich mit den erfolgreichen Romanen »Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe«, »Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück« und »Sophie fährt in die Berge« in die Herzen seiner Leserinnen.



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