Moritz | Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Schicksalsvoll

Moritz Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück

Roman
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-98184-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Schicksalsvoll

ISBN: 978-3-492-98184-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine charmante Liebesgeschichte zwischen Paris und der BretagneZeit für die Liebe, Sonne und die salzige Luft des Atlantiks – so hatte sich Nathalie ihre ersten Ferien mit Robert vorgestellt. Fühlen, ob das mit ihm Zukunft haben könnte. Doch dann ist schon die Gegenwart allzu rasch zu Ende: Robert muss beruflich zurück nach Paris. Ist ihm seine Arbeit wichtiger? Nathalie beginnt zu prüfen, wie groß ihre Sehnsucht nach ihm ist …
Moritz Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


ZWEI


Ja, ja, der Platz ist noch frei. Widerwillig räumte Robert seine Tasche beiseite, die er vorsorglich neben sich platziert hatte, um zusteigende Fahrgäste abzuschrecken. Nicht einmal, dass er beim Einlaufen in Straßburg die Augen geschlossen und tiefen Schlaf simuliert hatte, erwies sich als erfolgreiche Maßnahme. Die kräftige Dame machte einen so forschen Eindruck, dass er nicht wagte, ihr etwas von einem Platznachbarn vorzulügen, der nur kurz ins Bordbistro gegangen sei. Mit einem durchdringenden Stöhnen sank sie nieder, und Robert zog unwillkürlich die Beine an, drückte sich gegen das Zugfenster, als bestünde die Gefahr, dass ihr Körper auf seinen Sitz übergriffe. Das fehlte noch, eine Raum füllende Frau, die ihm ein Gespräch aufdrängte.

Er versuchte abweisend zu wirken, griff hastig nach der Zeitung, die er vor sich in die Netzablage gequetscht hatte. Eine Deutsche, das merkte er gleich, wahrscheinlich eine Schwäbin auf dem Weg zurück nach Stuttgart. Sie stöhnte erneut, leckte sich die Lippen, stand behäbig wieder auf, um sich ihres Mantels zu entledigen. Robert bemühte sich, ihren Kampf mit der Enge zu ignorieren, um ja nicht mit ihr sprechen zu müssen. Wie wenig Platz es in diesen TGVs gab. Es war ihm unbegreiflich, warum die Leute so große Stücke auf diese Züge hielten. Ja, gewiss, auch im ICE bedurfte es der Körperbeherrschung, um nicht permanent über Beine zu stolpern oder einen Rucksack ins Kreuz zu bekommen.

Seit ein paar Jahren trugen selbst Männer solche Teile, anstatt solide Reisetaschen mit sich zu führen. Rucksäcke, die man früher auf Almhüttenwanderungen mitgenommen hätte, galten mittlerweile als adäquates Reisegepäck. Ein Schmerz durchzuckte ihn, als hätte ihn der Bandscheibenvorfall, den er seit Jahren befürchtete, endlich ereilt. Er dachte an die Griechenlandreise, die er – mehr als zwei Jahrzehnte war das her – unternommen hatte, mit Gisela, einer Kurzzeitliebe im Studium. Von Stuttgart waren sie mit dem Zug nach Athen gefahren, unglaublich, über vierzig Stunden durch ganz Jugoslawien, mit gewaltigen Tramperrucksäcken, deren Gestelle sich in den Rücken bohrten, kaum dass man sie mühsam aufgesetzt hatte. Eine Isoliermatte, ein Schlafsack, eine Wasserflasche – ausgerüstet wie für einen Dschungelurlaub waren sie beide aufgebrochen, erst nach Santorin, dann hinunter nach Kreta. Insgeheim hatte er sich damals nach einem Koffer gesehnt, einem weniger abenteuerlichen Urlaub. Doch Gisela hatte Einwände nicht gelten lassen, ihn angesteckt mit ihrem Erlebnishunger. Auf der Fähre, einem klapprigen Ding, das besser auf einen kasachischen Baggersee als aufs Mittelmeer gepasst hätte, war sie mit jedem ins Gespräch gekommen, hatte Bekanntschaften gemacht, Telefonnummern ausgetauscht. War ihm schon bei der Ankunft auf Santorin klar gewesen, dass Gisela die Falsche war? Mühsam folgte er ihr, als sie sich von fremden Männern, die ihr sofort zu nah kamen, am Hafen ansprechen ließ. »Rooms«, »cheap rooms« – aus zig Mündern schallten die Rufe über die Promenade. Einheimische hielten Pappen hoch, auf denen unscharfe Farbfotos der Herberge klebten, ein Lockmittel sollte das wohl sein. Wahrscheinlich lachten die sich schief über die Rucksacktouristen. Wenn die wenig Geld ausgaben, musste man sie wenigstens bei den Hotelzimmern bluten lassen. Gisela hatte das Heft in die Hand genommen, alles wahnsinnig aufregend und ursprünglich gefunden. Riech doch mal die Tomaten und den Schafskäse. Er tat wie befohlen und lobte alles. Warum hatte er dem Reiseziel überhaupt zugestimmt? Ein einziger Irrtum, den beide auf der Rückfahrt im Zug, vierzig Stunden zum Zweiten!, einzusehen begannen, obwohl er nicht als spießig gelten wollte. Heute konnte er sich kaum noch an Giselas Gesichtszüge erinnern, gehört hatte er nie mehr von ihr, sie hatte ihn sicher vergessen. Das Trampergestell hatte er bald danach einem Kommilitonen verkauft.

Ob er auf dem Heimweg sei ins Schwabenländle. Sie sprach ihn an, alles hatte nichts genutzt. Breit lächelnd wandte sich seine Sitznachbarin ihm zu, nachdem ihr es in mehreren Anläufen gelungen war, ihren Mantel zu verstauen. Als sie versuchte, ihn auf der Gepäckablage unterzubringen, streckte sie sich, und ihr grüner Pullover mit Rautenmuster, sicher eine Kunstfaser, die die Transpiration förderte, schob sich nach oben. Eine gut gepolsterte, hellrosa Hautfalte blitzte auf, für ein paar Schrecksekunden, er wandte sich ab, unfähig, diesen Anblick zu ertragen.

Ja, er sei unterwegs nach Stuttgart beziehungsweise Reutlingen. »Schwabenländle«, was für ein peinigender Ausdruck. Er legte seit jeher Wert auf ein halbwegs korrektes Hochdeutsch, auch wenn er damit in der Schule angeeckt war. Ob er etwas Besseres sein wolle, weil er nicht wie seine Eltern unverstelltes Schwäbisch spreche, war er oft gefragt worden. Seine knappen Antworten trugen nicht zum Verstummen seiner Nachbarin bei. Sie holte aus, berichtete von einer Schulfreundin, die in einem Vorort von Paris wohne. Ob er die Stadt kenne, ein Moloch sei das, nicht zu vergleichen mit Degerloch, wo sie lebe. Er schüttelte den Kopf. Nein, nein, Paris sei ihm fremd. Wohin würde es führen, wenn er zugab, dort zu arbeiten und zu wohnen? Zufällig sei er in Paris gewesen, geschäftlich. Ach, Sie Glücklicher, sie berichtete vom Eiffelturm, vom Louvre und vom Centre Pompadour – Robert zuckte zusammen – und von allem, was sie in den vergangenen vier Tagen gesehen hatte. Er sehnte den Schaffner herbei, irgendeine Ablenkung. Brezelverkäufer gab es in TGVs nicht. Er antwortete einsilbig, versuchte ihr durch Verweigerung die Freude am Reden zu nehmen, dachte verzweifelt an Nathalie.

Warum nur konnte er nicht in Crozon bleiben? Wie leicht es ihm gefallen war, die Zeit mit Nathalie zu verbringen, ein Doppelzimmer zu teilen, einzuschlafen neben ihr, ohne die Furcht, sie durch ein Schnarchen aufzuschrecken und schlagartig in ihrer Gunst zu sinken. Sie hatten wenig unternommen, nicht einmal mit dem Boot hinüber nach Brest waren sie gefahren. Zwei-, dreimal an den Strand nach Morgat, über den Markt von Crozon schlendern, dem Schlagen der Turmglocken zuhören, die in ihren weißen Plastikschüsseln sich bewegenden Krebse studieren und in Cafés einkehren, Nathalie dabei beobachten, wie sie ihre Sonnenbrille ins Haar zurückschob, am Nachmittag überlegen, ob es für einen Crémant zu früh sein könnte, die Frage überzeugend verneinen, sich ins Hotel zurückziehen und übereinander herfallen, auf dünne Zimmerwände keine Rücksicht nehmen und nachher mit unbekümmerter Miene, mit triumphierendem Blick hinunter ins Restaurant gehen. Das hätte lange so weitergehen können.

Robert schloss die Augen. Die Frau neben ihm kramte eine Frauenzeitschrift aus ihrer Handtasche und schien sich über jeden Kilometer zu freuen, der sie Degerloch näher brachte.

In anderthalb Stunden würde er in Stuttgart ankommen. Was für ein hastiger Ortswechsel. Nathalie hatte so getan, als würde sie die kommenden Tage auch ohne ihn genießen, sich zu einem Lachen gezwungen und von den gut aussehenden, kräftigen Fischern in Le Fret gesprochen. Wahrscheinlich würde sie am nächsten Tag zurückfliegen, in ihr Übergangsdomizil zurückkehren, auf die Behebung des Wasserschadens in ihrer Wohnung warten und auf das, was er an Neuigkeiten aus Reutlingen mitteilen würde.

Robert suchte nach einer Möglichkeit, seinen Sitz in eine andere Position zu bringen. Er betätigte die Druckknöpfe an der Armlehne, unauffällig, um nicht die Aufmerksamkeit seiner Nachbarin auf sich zu ziehen. Nichts tat sich. Oder ließ sich damit die Radioanlage bedienen oder die Lüftung? Gab es in einem Zug überhaupt eine regulierbare Luftzufuhr, oder hatte man so etwas nur in Flugzeugen? Er seufzte. Mit irgendeinem dämlichen Hebel musste sich dieser neumodische Sitz doch verstellen lassen. Wenn nicht, würde er heute Abend wieder sein gläsernes Kreuz spüren, diesen Schwachpunkt seines Körpers. Schon jetzt meinte er, ein Zucken wahrzunehmen, als säße die Wirbelsäule nicht richtig auf, als könnte sie aus ihrer Verankerung rutschen.

Colombiers Anruf gestern hatte ihn aus allen Wolken fallen, die Vorstellung eines bretonischen Kennenlernurlaubs platzen lassen. Gewohnheitsmäßig hatte er abends sein Mobiltelefon eingeschaltet, ohne irgendwelche Nachrichten zu erwarten. Dass die Firma das dringende Bedürfnis hatte, mit ihm zu sprechen, war unwahrscheinlich. Er hatte, wie es seine Art war, vor dem Abflug alles vorbereitet, sich mit dem Personalchef über die anstehende Umstrukturierung und seine mögliche Rückkehr ins Reutlinger Stammhaus ausgetauscht und mit seiner Mitarbeiterin Sylviane das Meeting übernächste Woche vorbereitet. Ein neues Verkaufsmodell sollte präsentiert werden, mit erweiterter Produktpalette, die weitere Alternativen zum Naturkorken aufweisen würde. Nichts stand an, weshalb man ihn in der Bretagne hätte aufschrecken müssen. Colombier hatte sich kurz gefasst, er schien zu den Männern zu gehören, die mit leichter Unsicherheit auf Mailboxen sprachen, ihre Sätze langsamer als sonst formulierten und nicht recht wussten, wie sie ihre Nachricht beenden sollten. Immerhin noch besser als seine Mutter, die ihm nie auf den Anrufbeantworter sprach, trotzig auflegte und sich hinterher bei ihm beschwerte, dass sie wieder von einer Maschine abgefertigt worden sei.

Sülzer, der alte Sülzer, sei vor wenigen Stunden verstorben, ein herber Verlust, an einem überraschenden Herzanfall, den er vor dem Fernsehschirm erlitten habe, nach einer Volksmusiksendung, wie Colombier merkwürdigerweise betonte, als sei es außergewöhnlich, derart auf Bergwiesengesang und Alphörner zu reagieren. Obwohl man Sülzer sofort in ein Krankenhaus nach Reutlingen gebracht...


Moritz, Rainer
Rainer Moritz, geboren 1958 in Heilbronn, leitet das Literaturhaus Hamburg. Er veröffentlichte Sachbücher wie »Und das Meer singt sein Lied«, »Die Überlebensbibliothek«, »Die schönsten Buchhandlungen Europas « und »Dicht am Paradies. Spaziergänge durch Pariser Parks und Gärten« und schrieb sich mit den erfolgreichen Romanen »Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe«, »Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück« und »Sophie fährt in die Berge« in die Herzen seiner Leserinnen.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.