E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Moritz Als der Ball noch rund war
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-455-00423-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schreckliche, unangenehme und grandiose Fußball-Erinnerungen
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-455-00423-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, amtierte in jungen Jahren unerschrocken als Fußballschiedsrichter, ist leidgeprüftes Mitglied des TSV 1860 München, leitet das Literaturhaus Hamburg, schreibt Literaturkritiken und Bücher über dies und das. Bei Atlantik veröffentlichte er zuletzt Die Überlebensbibliothek. Bücher für alle Lebenslagen (2016).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
»Ich kann nicht Fußball [...]
Widmung
Vor dem Anpfiff
1 Schreckliche Erinnerungen
2 Unangenehme Erinnerungen
3 Soso-lala-Erinnerungen
4 Schöne Erinnerungen
5 Grandiose Erinnerungen
Personenregister
Über Rainer Moritz
Impressum
19. Mai 2001
Auf Schalke glaubt man vier Minuten lang, deutscher Meister zu sein, bis Markus Merk und Bayern München etwas dagegen haben
An diesem Samstagnachmittag befand ich mich gegen 17 Uhr auf einer Landstraße vor den Toren Hamburgs. Wir waren auf dem Weg zum Sommerhäuschen eines befreundeten Paares. Das Radio lief, NDR 2, Bundesligaschlusskonferenz, es ging um die Wurst, es ging an diesem 34. Spieltag um die Meisterschaft. Schalke 04 hatte, wenn auch mühsam, seine Pflicht getan und Unterhaching mit 5:3 niedergerungen. Nun lag es am Hamburger SV, der gegen die Bayern gewinnen musste, um den Schalkern nach Jahrzehnten wieder eine Meisterschaft zu bescheren. Nervös lauschte ich der Konferenz, als das Wunder einzutreten schien: In der 90. Minute köpfte der HSVer Barbarez elegant ins Tor, und den Herren Hoeneß, Beckenbauer, Henke und Hitzfeld stand entsetzliche Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Ich fuhr mit dem Auto an den Straßenrand; das ließ sich nicht in Bewegung ertragen.
Auf Schalke pfiff Schiedsrichter Strampe ab, in Hamburg lief die Nachspielzeit, die 94. Minute … als Hamburgs Torwart Schober, ein Schalker eigentlich, einen Rückpass aufnahm und Schiedsrichter Merk zum Pfiff zwang. Ob es wirklich ein absichtlicher, mit indirektem Freistoß zu ahndender Rückpass war oder nicht, darüber lässt sich bis heute trefflich streiten – eine Entscheidung, die nicht mal der Videobeweis eindeutig hätte treffen können. Es kam, wie es kommen musste: Abwehrspieler Andersson machte den Ausgleich und riss Schalke die Meisterschale aus den Händen.
Die Szenen, die sich danach abspielten, waren herzerschütternd. Aufgrund einer Fehlinformation dachten die Schalker eine kurze Zeit lang, dass das Spiel in Hamburg bereits abgepfiffen sei, und jubelten über Fortunas Gabe. Bis die Wahrheit ans Licht, also auf die Leinwand kam, bis der »Genickschlag« (Rudi Assauer) mit eigenen Augen zu sehen war. Aus der kurze Traum. Ich war kaum noch fähig, die Autofahrt wieder aufzunehmen. Der Abend verlief in gedrückter Stimmung. Wäre ich Schalke-Anhänger gewesen, hätte ich geweint. Fußballfans haben, das verstehen Nicht-Fußballfans selten, Gefühle, starke Gefühle, und selbst wenn sie vielleicht nicht in der Lage sind, diese gegenüber ihrer Familie, ihrem Partner zu zeigen – beim Fußball ist das anders, bei Abstiegen und gemein verpassten Meisterschaften. Tränen gehören zu diesem Spiel. Lassen Sie mich dazu etwas Grundsätzliches sagen:
Wer wie ich mit schlechter Musik aufgewachsen ist und statt Alice Cooper, Nazareth oder Rory Gallagher eine offen gezeigte Schwäche für Mary Roos, Marianne Rosenberg und Peter Orloff hegte, der behält Zeilen im Ohr, die er für alle Zeiten nicht mehr loswird. Irgendwann sollte man aufhören, gegen diesen Schrott im Kopf anzugehen, und klaglos akzeptieren, dass die Alltagskultur vielfältig ist und man selbst mit literarisch dürftigem Gut in der Welt bestehen kann. Nehmen Sie mich zum Beispiel und meine frühe Prägung durch das Schaffen des Mannheimer Sängers Bernd Clüver, der als junger Mensch Anfang der siebziger Jahre mit geschmachteten Liedern rauschende Erfolge wie oder feierte und später bei einem Treppensturz ums Leben kam.
So sehr mich Clüvers Hitparadentoptitel bewegten, so unverkennbar war damals mein Faible für dessen Lied , das außer mir heute wohl nur noch den Bernd-Clüver-Fanclubs in – sagen wir – Hachenburg, Rothenklempenow oder Dautphetal-Holzhausen geläufig ist. Dieser recht traurige Schlager setzt mit Versen ein, die sich mir einätzten: »Tränen, die ein König weint, / Kannst du niemals sehn. / Doch es gibt sie, viel mehr als wir verstehn.«
Da ist es, das Bild des Mannes, der weinen möchte und es nicht darf, das Bild des Mächtigen, dem es die Gesellschaft verbietet, seine Schwächen zuzugeben. »Big boys don’t cry« oder »Männer weinen heimlich« (Herbert Grönemeyer) hieß das später, und bis heute tun sich weite Teile der Welt schwer, Männer zu akzeptieren, die Schmerz und Tränen freien Lauf lassen – allen Gegenbewegungen zum Trotz, die in den siebziger Jahren aufkamen und den sensiblen, zu seinen Gefühlen stehenden »neuen Mann« einforderten. Ungeachtet dieser nie gänzlich eingerissenen Tabugrenze ist es ausgerechnet der Fußball, der diese Gesetze außer Kraft setzt. Ausgerechnet der »harte« Männersport lässt es – in ausgewählten Momenten – zu, dass Tränen, ja Weinkrämpfe als tolerables Verhalten gelten und dass ihre Vergießer nicht automatisch als Memmen abqualifiziert werden.
Fußball ist, so scheint es, ein derart zentraler gesellschaftlicher Raum, dass die Ereignisse, die er gebiert, Emotionen rechtfertigen, die andernorts undenkbar wären. Frauen ohne Fußballaffinität ist in der Regel völlig unerklärlich, wieso Männer in höchste Aufwallung geraten, wenn ein Elfmeter verschossen wird oder der eigene Verein dem Abstieg nicht mehr entgehen kann. Wir kennen sie, diese herzzerreißenden Bilder, wenn es wieder einmal Arminia Bielefeld oder den VfL Bochum erwischt, wenn der letzte Spieltag abgepfiffen und der Untergang nicht mehr zu vermeiden ist. Fans aus allen gesellschaftlichen Schichten sinken zu Boden, fallen in sich zusammen wie ein auf dem Ofen geholtes Soufflee und heulen hemmungslos ihre Trauer in die unverständige Welt.
Anders als in der Politik oder in der Wirtschaft darf Trauer im Profifußball tränenreichen Ausdruck finden, ohne dass der Weinende befürchten muss, deswegen aus dem Kreis der Grätschenden und Flankenden ausgeschlossen zu werden. Hier ist erlaubt, was in unserer Ellbogengesellschaft normalerweise unter Ächtung steht. Das Stadion ist der Ort, um angestaute Emotionen rauszulassen, wo sich selbst tougheste Männer, die zu Hause, zum Leidwesen ihrer Partnerinnen, in Gefühlsdingen nie den Mund aufkriegen, gehen lassen. Im Stadion erfüllt sich eine gesellschaftliche Funktion, ist es dort doch den werktätigen Männern möglich, Druck abzulassen und ihre Emotionen untereinander auszuleben. Männer fühlen sich unter Männern ja meist am besten verstanden.
Frauen – das weiß jede Frauenzeitschrift – mögen Männer, die sich zu Gefühlen bekennen, doch gerade deshalb befremdet es sie so sehr zu sehen, wie Männer ihre gepflegte Zurückhaltung aufgeben, wenn es um so nichtige Gegenstände wie ein Abseits- oder ein Eigentor geht. In den letzten Jahren scheint sich jedoch in dieser Hinsicht manches geändert zu haben. Der Fußball hat längst die mittleren und oberen Schichten erreicht, wo vor Frauen geweinte Tränen, ja selbst Homosexualität kein Problem mehr darstellen. Thomas Hitzlsperger hat davon profitiert, wenngleich er sein Outing erst nach Karriereende verkündete.
Freilich: Nicht jeder weinende Mann im Fußball ist ein gern gesehener Mann. Es kommt darauf an, wer sich wann und wie tränenreich zeigt. Andreas Möller, wohl einer der besten Mittelfeldspieler, die Deutschland in den letzten dreißig Jahren hatte, festigte seinen Ruf als »Heulsuse« oder »Heintje«, als er mit tränenerstickter Stimme Treueschwüre ins Mikrophon sprach – und diese wenig später ad acta legte. Das verzeihen Fans nicht. Ihnen hatte schon immer missfallen, wenn sich Möller beim Schiedsrichter oder beim Gegenspieler quengelnd über ungerechte Behandlung beschwerte. Diese Art von Weinerlichkeit hat, so die Fanmeinung, im Fußball nichts zu suchen. Darin liegt weniger ein Tadel für die Tränen an sich als für ein moralisch zweifelhaftes Handeln, das die Schuld stets bei anderen sucht.
Anders bei Paul Gascoigne, dem englischen Enfant terrible: Als er 1990 mit der englischen Nationalelf so unglücklich im Elfmeterschießen ausschied, schämte er sich seiner Tränen nicht, und gerade dieser scheinbar unmännliche Ausbruch machte ihn populärer denn je – zeigte er doch, wie innig es um Gascoignes Beziehung zu seinem Team stand und welches Maß an Gefühlen er dafür zu investieren bereit war. Der nie als »Weichei« verdächtigte Gascoigne rührte auf diese Weise auch diejenigen, die seine Eskapaden bis dahin unerträglich fanden und ihn als Schande für das britische Empire ansahen.
Tränen sind nicht gleich Tränen, und die Crux bei ihrer Beurteilung liegt – im Fußball wie im Leben – darin, dass ihre Wahrhaftigkeit so schwer zu belegen ist. Taktische Tränen, geheuchelte Tränen, Krokodilstränen – ungezählt die Tränenvarianten, die auf Wirkung bedacht sind und den anderen beeindrucken wollen. Fußball ist, das wissen...




