Morgner | Hochzeit in Konstantinopel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Morgner Hochzeit in Konstantinopel

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-09262-7
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-09262-7
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein früher Klassiker der Frauenbewegung

Bele H. ist Taxifahrerin, Straßenbahnschaffnerin und Laborantin von Beruf, vor allem aber hat sie eine Reise an die jugoslawische Adria unternommen und dort in zwanzig und einer Urlaubsnacht eine Hochzeit gefeiert, die nie stattfinden wird. Die Geschichten dieser Nächte erzählt sie Paul, einem nüchternen Atomphysiker und approbierten Pascha, dem sie aber mit ihren Erzählungen nicht die Poesie der Wirklichkeit näherbringen kann. Sie versucht ihn mit Geschichten von der Liebe zur Liebe zur Verführen, doch während Pauls physikalische Experimente glücken, ist es nicht ausgeschlossen, dass Bele H.s großes Lebens- und Liebesexperiment scheitert …
Morgner Hochzeit in Konstantinopel jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Himmelbett


Im vorigen November fuhr ich jede Nacht mit meinem Bett über die Spree. Um fünf mußte ich zurück sein. Da kam die Reinigungsfrau. Von der Nachtschwester, die halb sechs Thermometer brachte, war nichts zu fürchten. Und meine Zimmerteilhaberin hatte einen guten Schlaf. Entweder sie merkte tatsächlich nichts, oder sie tat so, als ob. Und verachtete mich. Frauen, die nachts wegblieben, verachtete sie. Ich teilte meine Apfelsinen mit ihr. Sie reichte mir Photos, die sie in einer Plastiktüte aufbewahrte. In einer anderen Plastiktüte bewahrte sie Wurst und Kuchenstückchen auf, die wir für die Möwen sammelten. Die Möwen flogen mehrmals täglich unser Fenster an, sie saßen auf der Ufermauer und auf dem Brückengeländer, und sobald wir das Fenster öffneten, erhoben sie sich, umflogen es kreischend und fingen die Brocken im Fluge. Den ganzen Tag über hörte ich ihre Schreie und das Geschnatter der Wildenten. Nachts hörte ich Schnarchen. Deshalb fuhr ich jede Nacht mit meinem Bett über zwei Brücken der Spree. Unbehelligt. Nur einmal wurde ich von einem Funkstreifenwagen angehalten. Als die Turmuhr der Johanniskirche gerade zwölf schlug. Am Tage konnten wir vom Bett aus an dieser Uhr die Zeit ablesen. Frau Jepsen, mit der ich das Zimmer teilte, nahm eine Brille zu Hilfe. Wenn sie die aufsetzte, um berechnen zu können, wieviel Zeit uns von der nächsten Essenausgabe trennte, erfuhr ich, daß Norbert in der Johanniskirche getauft worden war. Norbert hieß ihr Enkel. Das neueste der in der Plastiktüte aufbewahrten Photos zeigte ihn in windelgeschwollenen Strampelhosen, auf einer Decke liegend. Da ihm wie allen Kindern der Besuch von Krankenhäusern verwehrt war, schenkte seine Großmutter mir das sonntägliche Kompott. Wir erhielten Normalverpflegung und Nierentee. Den literweise, das Essen war gesalzen wie in Restaurants, Bier dagegen nicht bestellbar. Ich hatte Appetit auf Budweiser, Gerda Jepsen auf Schorle rot, sie sagte, Bier wäre ein Männergetränk. Und von Männern wollte sie nichts wissen. Ihre Krankenpapiere, die, wie die meinigen auch, am Fußbrett des Betts aufgehängt waren, bezeichneten sie als einundvierzigjährig. Wir lasen uns täglich gegenseitig aus unseren Krankenpapieren vor, mutmaßten über die Bedeutung unentzifferbarer oder unvertrauter Wörter, beschrieben die Skalenlage der auf Millimeterpapier aufgetragenen Meßpunkte von Puls und Temperatur und den Verlauf der durch Verbindung dieser Punkte mittels Geraden entstandenen Kurven, Pulskurve rot, Fieberkurve blau, stritten über die Wertigkeit der schriftlich bestätigten Gebrechen, »ich jedenfalls hatte eine Intertrochealnarkose«, sagte Gerda Jepsen, »und ich hatte eine Zystoskopie«, sagte ich. Und die Reinigungsfrau sagte: »Unsereiner schuftet, und die Herren stecken das Geld ein.« Wenn die Herren kamen, nahm sie gewöhnlich die Bohnermaschine in Betrieb; deshalb sprachen die Herren, das heißt der Professor, der Oberarzt, die Oberärztin, der Stationsarzt, die Assistenzärzte und -ärztinnen und die Stationsschwestern bei der Visite auch so laut. Der Professor sprach mit den Patienten am liebsten über seine Studentenzeit. Als Gerda Jepsen von der Oberärztin erfuhr, daß bei der Operation nur ein Myom abgedreht worden wäre, sagte sie zum Professor: »Warum haben Sie nicht reinen Tisch gemacht, ich brauch das Zeug nicht, ich hab keinen Mann.« Und ich sagte zu ihm: »Ich möchte mal mit meinem Bett über die Spree fahren, Sie auch?«  – »Wenn Sie mich mitnehmen«, sagte der Professor. Die Ärzte und die Stationsschwestern beobachteten sein Gesicht. Das lachte. Allgemeines Gelächter. Also schien der Stationsschwester nichts von meinen nächtlichen Ausflügen zugetragen worden zu sein. Sie war mit der Nachtschwester verfeindet. Ich war mit der Nachtschwester befreundet: Von meinem ersten Ausflug brachte ich ihr einen Strauß Winterastern mit, die ich den vor der Halle für Westreisende stehenden Blumenkübeln entrissen hatte. Den Strauß hielt ich unter der Bettdecke verborgen. Mein Bett fuhr: Tucholskystraße, Ziegelstraße, Friedrichstraße, Weidendammbrücke, Unter den Linden, Am Kupfergraben, Monbijoubrücke, Monbijoustraße, Ziegelstraße, Tucholskystraße bis vor die überdachte Eingangstür. Hernach die Stufen hinauf. Die Stufen hinauf war noch schwerer als hinunter. Denn mein Bett hatte außer Gummifüßen nur die üblichen Räder, auf die seine weißgestrichenen Stahlrohrbeine bei Bedarf mit Hilfe einer Hebekonstruktion gestellt werden konnten. Die betätigte ich allabendlich selbst, nachdem die Schwester das Licht gelöscht hatte. Dann wandte ich mich zum Bett meiner Nachbarin, um mich zu vergewissern, daß ihr Schlaf durch die von mir verursachten Geräusche nicht gestört worden war, sie lag auf dem Rücken und schnarchte, auf dem Rükken liegen war ihr ärztlich verordnet, ich hätte in dieser Lage auch geschnarcht, aber Gerda Jepsen hätte sich das angehört, sie würde nie nächtelang im Bett spazierenfahren, sie war verwitwet, ohne je verheiratet gewesen zu sein: eine anständige Frau. Ich machte einen Schritt zum Fenster und winkte. Die Luftsicherungslampen des Fernsehminaretts standen hell über der Stadt: neun rote Augen. Der Muezzin konnte mit seinen beiden blauen nicht alles beobachten, zumal er neben seiner Amtstätigkeit außerdem mit der Arbeitsüberwachung des noch im Bau befindlichen Turms belastet war. Der Turm hatte letzten Presseberichten zufolge eine Höhe von zweihundertsiebenundzwanzig Metern. Die endgültige Höhe war auf dreihundertsechzig Meter geplant. Seine Fundamente waren etwa einen Kilometer Luftlinie von meinem Fenster entfernt gelegt worden. Ich winkte also. Robert Muezzin, dessen blauen und roten Augen nichts entging, betrat die von Schutznetzen umspannte Bautribüne, die vorläufig als Galerie diente, stellte das Magnettongerät an und legte, wie ich deutlich erkennen konnte, seine Hände trichterförmig um den Mund. Das Gerät spielte vom unendlichen Kundendienstband: »Sie wünschen Sie wünschen Sie wünschen.« Ich unterbreitete meine Wünsche. Flüsternd, Gerda Jepsen schnarchte noch leise. Robert Muezzin  – ich nannte ihn Robert, weil ich ihn mir mit einem roten Bart vorstellte  –, der Stadtgeist Robert Muezzin war, wie mir seine Gesellen versicherten, mit den empfindlichsten Abhörgeräten japanischer Bauart ausgerüstet. Durch die empfing er über UKW meine detaillierten Angaben. Und binnen dreier Sekunden stand einer von seinen Gesellen zu meiner Verfügung. Er war sicher ebenfalls rotbärtig, kühl, ziemlich alt, sein gelber Kopf, rund bis sichelförmig, war dunkel gefleckt, eigentlich bestand er nur aus Kopf: ein Denker. Er dachte einen Augenblick nach. Dann wies er mich an, die Steppdecke abzuziehen und die Zipfel des Bezugs an den das Fußbrett rahmenden Stahlrohrbügel zu knüpfen. Gesagt, getan. Kaum hatte ich mir die inlettentblößte Decke über die Brust gezogen, da fing sich auch schon der Wind im Bezug. Und blähte ihn, und blies ihn auf wie einen gelandeten Fallschirm, und blies und blies, das ging durch Fenster, Mark und Bein. Und hast du nicht gesehen war mein Bett zum Fenster hinaus und rollte durch die Korridore über Treppen am Pförtner vorbei geradewegs auf die Straße hinaus. Der Pförtner schrie hinter mir her, vergebens, ich fuhr vielleicht siebzig, so ein Wind war das. Die Treppen runter fuhr ich sicher sechzig bis siebzig, rauf vielleicht dreißig, das genügte auch, der Nachtpförtner war kurzsichtig. Gerda Jepsen war nachtblind. Außerdem war sie ein argloser Mensch und traute im allgemeinen niemandem etwas zu, dessen sie nicht selbst fähig gewesen wäre. Und sie wäre sicher nie auch nur auf den Gedanken gekommen, nachts mit ihrem Bett durch die Innenstadt zu fahren, Winterastern zu stehlen und die Straßenverkehrsordnung zu mißachten. Deshalb hatte mich nämlich auf der Weidendammbrücke zu mitternächtlicher Stunde dieser grüne Funkstreifenwagen vom Typ Wartburg, altes Modell, gestoppt. Die Polizisten hatten mich nach meiner Fahrerlaubnis gefragt, ich hatte ihnen die am Fußbrett hängenden Papiere gereicht, sie hatten neben die Eintragung Hb 11,17 wegen Linksfahrens einen Stempel gesetzt, fünf Mark eingesteckt und die rechten Hände an die Mützenschilder gelegt. Obgleich sie sich meinen Namen und einige Kurvenwerte notiert hatten, meldeten sie entweder den Vorfall bis heute nicht, oder die Akten sind auf dem Amtsweg verlorengegangen. Als der grüne Wartburg weg war, fuhr ich wieder hinüber auf die linke Straßenseite, sogar auf den Fußweg der linken Straßenseite, bis das Bettkopfbrett den schmiedeeisernen Adler berührte, der dem Brückengeländer eingearbeitet war. Dann beugte ich mich über das Kopfbrett und über den Adler und sah hinunter. In die glatte Haut der Spree kerbten Enten V-förmige Kielwasserrinnen. Die Möwen bestanden einbeinig kopflos Ufermauern und Dalben. An den Dalben hatten zwei mit Briketts beladene Lastkähne festgemacht, nachts durfte den Angaben Gerda Jepsens zufolge kein Schiff die Grenze passieren. Tags überwachte Gerda Jepsen den Schiffsverkehr auf der Spree vom Bett aus. Sie zeigte mir Fahrtrichtung, Schiffstyp, wenn möglich den Namen des Schiffs, des Besitzers und des Heimathafens sowie die Ladung an: flußauf Zille, Selbstfahrer, Anna, frisch gestrichen, Martin Hansen und Sohn, Bremen, Kies; flußab Schlepper ohne Anhang, Karl Marx, Wismar; flußab Motorboot, Wasserschutz, zwei Polizisten, einer mit Fernglas; flußauf zwanziger Jollenkreuzer mit liegendem Mast, Heckmotor, zwei junge Burschen, was haben denn die nach dem Absegeln noch auf dem Wasser zu suchen; flußauf Tanker, Burmeester, Hamburg; flußab Schubverband über siebzig Meter, verdreckt, Albert Kowalczik, Berlin, Pflastersteine; flußauf Luxusfahrgastschiff »Heinrich Mann«, Deutsche Binnenreederei, Betriebsausflug. Den schilderte mir Gerda Jepsen...


Morgner, Irmtraud
Irmtraud Morgner wurde am 22. August 1933 in Chemnitz geboren, studierte Germanistik an der Universität Leipzig und arbeitete als Redaktionsassistentin bei der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur”. Seit 1957 war sie freie Schriftstellerin. Die Autorin wurde mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Irmtraud Morgner starb am 6. Mai 1990.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.