Morgner Amanda
Erscheinungsjahr 2011
ISBN: 978-3-641-06507-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Hexenroman
E-Book, Deutsch, 704 Seiten
ISBN: 978-3-641-06507-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Irmtraud Morgner wurde am 22. August 1933 in Chemnitz geboren, studierte Germanistik an der Universität Leipzig und arbeitete als Redaktionsassistentin bei der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur”. Seit 1957 war sie freie Schriftstellerin. Die Autorin wurde mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Irmtraud Morgner starb am 6. Mai 1990.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Griechisches Vorspiel
Natürlich drehen sich nicht alle Verstorbenen im Grabe um.
Selbst der gegenwärtige Weltzustand läßt viele Tote unbewegt. Ich konnte unter der Erde keine Ruhe finden.
Seit 1973 da aufgehoben in bewegtem Stoff. Er trieb mich um und um und schließlich aus. Jäh wurde ich aus diesem Stoff in einen anderen gerissen.
Den anderen durchflog ich. Trieb ich mich durch die Lüfte? Wurde ich getrieben?
Dunkelheit lag auf der Erde. Der Sturm heulte aus Norden, die Wolken verhüllten den Mond, die Natur war in Aufruhr.
Eine Nacht, die empörte Einbildungskraft zu verwildern.
Ich fühlte mich aus Kälte fort in ein Gefild gerissen, das Lebenszeichen gab. Kreischen und Krächzen hörte ich. Dann Flügelsausen. Ferne Geräusche in lauer Luft.
Sie näherten sich, schwollen an, umlärmten mich.
In der Finsternis konnte ich nichts erkennen. Ich vermutete mich in einem Schwarm Aras.
Kreischstimme von oben: »Wo willst du hin?«
Krächzstimme von unten: »Nach Delphi.«
Gemischter Chor ringsum: »Nach Delphi zsam zsam fliegen wir dann.«
Deutsche, französische, russische, englische, italienische und griechische Menschenworte, tierisch verlautet. Dressierte Aras?
Ich versuchte, dem Lärm zu entkommen. Es gelang mir nicht. Hing er mir an? Oder ich ihm?
Plötzlich Meeresrauschen. Meine Ohren lauschten süchtig und steuerten mich draufzu. Auch glomm ein Licht in der Richtung.
Ich schließlich im Sturzflug auf das Licht nieder. Trockne Landung. Das Licht drang aus einer Erdspalte. Es beleuchtete eine Frau und einen Stein. Die Frau scharrte Lorbeerlaub zusammen, bestäubte es mit Mehl und entzündete den Haufen. Rauch wölkte auf. Die Erdspalte begann zu dampfen. Die Frau setzte sich daneben auf einen Dreifuß, kaute Lorbeerlaub und fächelte sich Dampf zu. Die Bewegungen der vermummten Gestalt erinnerten mich an meine Freundin Chariklia.
Plötzlich brachen seltsame Wesen durch die Rauchwolke. Und sie gingen neben mir nieder wie gewaltige Früchte, die von einem gewaltigen Baum geschüttelt wurden. Die Wesen scharten sich um den Dreifuß und starrten aus Menschengesichtern auf die kauende Frau. Ein Dutzend Menschengesichter zählte ich um mich. Ein Dutzend Beweise dafür, daß ich wirklich und wahrhaftig auferstanden war. Zum zweiten Mal.
Die Menschenköpfe waren Tierleibern angewachsen. Schlangenähnlichen und vogelähnlichen.
Erschrocken griff ich nach der Herzgegend: Federn. Ich sah an mir herab: gefedert. Oder gefiedert?
Die vogelähnlichen Wesen um mich trugen dichtere Federkleider als ich. Die Schlangen, auch geflügelt, waren nackt.
Auf dem Dreifuß die Frau warf ihr Gewand mit Händen, die an auffliegende Spatzen erinnerten. Meine Freundin Chariklia aus Athen hatte solche Hände zum Theaterspielen, Inszenieren, Tanzen und Autofahren benutzt.
Die Schlangen begleiteten die Beschwörungsgesten der Frau mit Krächzen. Die Vogelwesen gaben keinen Laut. Als die Frau die gekauten Blätter ausgespuckt hatte, verstummten die Schlangen. Die Frau beugte sich über den Stein.
Stille.
Dann Gemurmel. Stoßweis aus der Vermummung drang es. Monoton. Keine Rede. Kein Gesang. Nichts, was den Geist oder die Sinne erfreuen konnte. Doch die Schlangengesellschft lauschte gebannt. Zwei Schuppentiere krochen zum Stein. Die Vogelwesen ordneten ihr Federkleid, scharrten im Karst, schliefen ein. Ihre Körperform erinnerte an die Schneeule. Im Gegensatz zu dieser Tierart waren sie jedoch wie der Uhu mit zwei Kopfbüscheln versehen. Die Federohren wuchsen aber nicht wie beim bubo bubo über den Augen und auch nicht zwischen Schläfen und Hinterkopf, wo die Menschenohren sitzen, sondern am Haaransatz. Dort, wo Männer die Geheimratsecken erleiden. Ich schätzte die Flügelspannweite auf zweieinhalb Meter, die Körperhöhe auf einen und tastete meinen Kopf ab. Ich spürte kaum Federohren, aber Krallen. Im Flackerlicht, das aus der Erdspalte drang, mußte ich erkennen, daß ich mit Krallenhänden und Krallenfüßen auferstanden war. Einziger Trost: die Schwungfedern. Ich spreizte die Armschwingen und genoß den Auftrieb, der schon von zwei Schlägen baumhoch geriet. Hinter mir am Berghang nämlich Ölbäume.
Die Schuppentiere am Stein, ein weißes und ein blaues, lagerten geringelt wie auf der Lauer. Das weiße wiederholte das Gemurmel der Frau. Das blaue übersetzte. Auch in Französisch und Deutsch, die Sprachen meines zweiten Lebens. Ich hörte Worte und Satzfetzen, aus denen ich keinen Sinn gewinnen konnte.
Die blaue Flügelschlange setzte die Brocken zusammen und ergänzte dazwischen. Ergebnis: ein Vexierspruch. Deutsche Fassung: »In der Büchse die Hoffnung Prometheus muß holen Pandora gewinnen ihre Wiederkehr dringlich serpentische Töchter ziehen Gesang.«
Sobald der Spruch verkündet war, begann das Palaver der Auslegung. Es hinderte mich am Einschlafen. Als ich Ruhe fordern wollte, merkte ich, daß ich ohne Stimme war. Stumm wie die anderen Vogelwesen auch: schreckliche Entdeckung. Da ich zwei Leben als Trobadora durchgemacht hatte und gewöhnt gewesen war, über ein wohlklingendes Organ verfügen zu können, traf mich der Verlust noch schmerzlicher als die körperliche Wandlung. Ich weinte meine Federn naß.
Die Frau warf ein Tuch von sich und verschwand in der Erdspalte. Es flog über den disputierenden Schlangenhaufen auf einen Olivenast. Ich schleppte mich den Hang hinauf, holte es. Ich und nicht tot und kein Mensch und kein Tier und keine Pflanze – wer war weniger? Ich hüllte mich in das Tuch. In Schlaf.
Gezänk weckte mich. Im Flackerlicht unter mir Rauferei. Neun Schlangenwesen stritten um drei Vogelwesen. Auch wurden die drei umworben. Da sie sich nicht entschließen konnten, wurden sie schließlich verteilt. Die Gewinner entführten sie in die Schwärze der Nacht. Sechs Verlierer blieben zurück und schlängelten noch eine Weile. Dann flogen auch sie auf und davon.
Ich grub meine Fußkrallen in den Karst und schlief weiter.
Aber vor Morgengrauen noch wurde ich aus dem Schlummer in Winde gerissen. Salzige zuerst. Dann ungewürzte, kältere. Eine geflügelte Schlange stieß und dirigierte mich vorwärts. Deutsche Befehle.
Ich folgte widerwillig.
Aber ich folgte – warum? Ich, eine Tochter des Südens. Als Trobadora hatte ich niemandem gehorcht außer mir. Seltsame Unwiderstehlichkeit. Ich krallte dagegen an.
Meine Entgegnung erregte Freude. Krächzend wurde mir erklärt, daß im Norden auch Sirenen gebraucht würden und überhaupt am besten dort, wo sie auferstanden wären.
Aus mein Traum vom Mittelmeer. Mir wurde die Spree als Gewässer verheißen.
Ein mir wohlbekannter Fluß. In seinem Schmutzwasser hatte ich während meines zweiten Lebens gebadet. Mit meiner Freundin und Spielfrau Laura Salman.
Gekreischtes Bekenntnis: Ich wäre mehr als eine Überraschung, weshalb ich mir den Spreeort aussuchen dürfte.
Und da entschied ich mich natürlich für die Hauptstadt Berlin.
Wir landeten am Werderschen Ufer. Immer noch Nacht, aber von Lampen gebrochen. Ich hörte Wasserglucksen. Dann den Befehl: »Sing«. Nicht gekreischt; schrill gesprochen. Sehr hoch und schrill und leise und wieder unwiderstehlich. Singbefehl an eine Stumme. Aber der Zwang zu befolgen war so groß, daß ich mich dennoch bemühte. Und nach vielen vergeblichen Versuchen brachte ich tatsächlich eine Nachahmung hervor. »Kann nicht«, sagte ich so hoch und schrill und leise wie die Schlange eben.
Sie spreizte die Flügel. Triumph? Imponiergehabe? Drohgebärde? Schwingen, die an die Flossen von Schleierfischen erinnerten. Das Licht der Straßenlaterne hinter uns schien durch die Flughäute. Das Menschengesicht erinnerte mich an Koren. »Kann nicht«, wiederholte ich, um mich der Stimme zu versichern, die erbärmlich war, aber besser als stumm.
»Dann lern es«, sagte die Schlange.
»Von wem?« fragte ich verstört.
»Von dir«, sagte die Schlange. Ihr blauer Körper pendelte jetzt von einer Eiche. Der Kopf war kleiner als der eines Menschensäuglings. Autogeräusche. Klimpern von Absätzen.
»Hab noch nie eine so kleine Frauenbirne gesehen«, sagte ich vor Angst, entdeckt zu werden.
»Sieh in den Spiegel«, befahl die Schlange und wies auf den Tümpel, der neben der Eiche stand. Ich folgte erneut und erkannte im Wasser das Gesicht von Beatriz de Dia und einen Vogelkörper. Dieses Wiedersehen mit mir entsetzte mich derart, daß ich einen Lachkrampf erlitt.
»Und wer bist du?« fragte ich, nachdem ich mich erweibt hatte. »Ich bin Arke«, antwortete die Schlange. »Manche nennen mich auch Horsel, weil ich im Hörselberg gefangengesetzt war.«
»Warum?« fragte ich.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte die Schlange und bat um Beeilung. Denn Singen wäre die Muttersprache der Sirenen.
Ich dachte nach. Aber ich konnte mich nur der Sprachen erinnern, die mir als Trobadora Beatriz geläufig gewesen waren: Altprovenzalisch, Französisch, Deutsch. Und...