E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Morgenroth I can see U
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-649-63243-6
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-649-63243-6
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wir standen am Fenster neben dem Haupteingang und schauten in die Nacht. Wolken zogen über den Mond, die Schatten der Büsche tanzten im bleichen Licht.
Wir dachten alle dasselbe.
"Er ist irgendwo da draußen", flüsterte ich.
Als Ben neu in die Klasse kommt, ist Marie fasziniert: Ben sieht gut aus, ist immer freundlich und liest ihr geradezu die Wünsche von den Lippen ab. Endlich jemand, der sie wahrnimmt! Doch dann geschehen merkwürdige Dinge: Im Klassenchat kursieren Fake-Bilder von ihr, gut gehütete Geheimnisse ihrer Mitschüler verbreiten sich plötzlich wie ein Lauffeuer; und was ist das für ein "Auftrag", den der Neue angeblich hat? Langsam beginnt Marie zu ahnen, dass etwas Größeres dahintersteckt …
Packend geschrieben und umfassend recherchiert von BR-Journalist Matthias Morgenroth
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
MONTAG, 11. MAI
Ben. Ich weiß noch alles. Jede Einzelheit. Wie Ben zum ersten Mal ins Klassenzimmer gekommen ist. Der Bachmann schob ihn nach vorn und stellte ihn uns vor, und alle schauten ziemlich überrascht, weil da mitten im Schuljahr ein Neuer auftauchte, und ich kannte mich selbst nicht mehr. War ICH noch ICH? Ich bin sonst nicht so eine, die den Jungs hinterherglotzt, und erst recht bin ich keine von denen, denen die Jungs hinterherschauen. Leider! Im Gegenteil, ich habe meistens das Gefühl, herausgerechnet zu werden, egal, wie bunt ich mich anziehe und ob ich mich schminke oder nicht. Aber dieser Montag war kein gewöhnlicher Montag und alles fühlte sich anders an. »Das ist Ben Olympion«, sagte der Bachmann. »Er geht ab heute in Ihre Klasse. Nehmen Sie ihn freundlich auf, ja? Aber das tun Sie ja sowieso.« Als Ben an diesem Montag im Mai ins Klassenzimmer kam, ging die Sonne in mir auf und die Vögel zwitscherten nur für mich. Mann, klingt das kitschig. Aber so war es! »Ben kann sich an den Tisch ganz hinten setzen«, fuhr der Bachmann fort. »Passt das?« Ben neigte den Kopf und lächelte und ich lächelte ganz automatisch mit, ich konnte einfach nicht anders. Mit Sonne im Bauch kann man nichts anderes tun, als vor sich hin zu lächeln. Der Bachmann räusperte sich, aber Ben machte keine Anstalten, sich zu setzen. Er lächelte einfach weiter in die Klasse – und da trafen sich unsere Blicke zum ersten Mal. Niemand hatte mich je zuvor so angeschaut wie er. Hätte man mich am Abend gefragt, wie er denn aussieht, der Neue in der Klasse, dieser Ben, ich hätte ihn kaum beschreiben können. Nicht seine glatten dunkelblonden Haare, nicht seine ebenmäßigen Lippen und auch nicht seinen wiegenden Gang, der mir mittlerweile so vertraut erscheint. Alles, woran ich mich erinnern konnte, waren seine Augen. Er hatte mir mitten ins Herz gesehen. Klingt verrückt, aber so habe ich mich wirklich gefühlt. Als hätte er mir ins HERZ gesehen! Als wäre ich für ihn nicht nur eine durchschnittliche Fünfzehnjährige, die hauptsächlich aus Schwabbelfalten am Gürtel, Edelmetallteilen im Mund und bescheuertem Grinsen im Gesicht besteht! Er hatte MICH gesehen. Marie Inning. Und ich spürte, wie neugierig er war. Neugierig auf mich?! Warum sollte er ausgerechnet auf mich neugierig sein …? Doch so war es, und die Sonne breitete sich aus, tief in mir drin – beinahe hatte ich den Eindruck, man könnte mich leuchten sehen. Reden Sie weiter, wollte ich dem Bachmann zurufen, erzählen Sie alles, was Sie wissen! Woher kommt er, dieser Ben? Warum fängt er jetzt, mitten im Schuljahr bei uns an? Was ist das für ein seltsamer Nachname – und wieso schaut er mich so an, dass die Sonne aufgeht? Einige murmelten was Gemeines, das merkte ich, einige tuschelten und Niko, unser Schönling, warf den anderen Jungs spöttische Blicke zu. Vielleicht fürchtete er die unerwartete Konkurrenz. Ich aber lächelte weiter. Automatisch. Und mit angehaltenem Atem verfolgte ich, wie Ben jetzt durch den Mittelgang nach hinten zu seinem Platz ging. So bin ich sonst nicht. Wirklich. Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit mir los war, aber die Vögel in meinem Kopf zwitscherten immer lauter und plötzlich spielte leise Musik dazu … Geigen, Trompeten, zarte Flöten … Elli stieß mich in die Seite. »Was?«, fragte ich verwirrt. »Du starrst ihn an.« »Wen??« Ihre Worte sickerten nur langsam in mich ein. Und erst im Schneckentempo wurde mir bewusst, dass ich mich höchstwahrscheinlich gerade ziemlich peinlich verhielt. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Elli kicherte. »Mensch, Marie.« Ich riss mich von Bens Anblick los und murmelte möglichst cool: »Was denn?« Elli grunzte nur leise vor sich hin. Sie hatte gut grunzen! Ihr schauten die Jungs ja ständig nach. Obwohl ihr das, zugegeben, zuletzt auch kein Glück gebracht hatte und sie seit zwei Wochen ständig tieftraurigblauen Kajal dick um die Augen trug, nachdem die Geschichte mit Marc auseinandergegangen war. Dabei war sie es selbst gewesen, die Schluss gemacht hatte. Mein Kopf muss knallrot geworden sein, und als ich mich vorsichtig umsah, um zu prüfen, ob mein peinliches Verhalten sonst noch jemandem aufgefallen war, grinste Yun mich hämisch an. Yun ist unser Klassenschweiger, er glotzt und grinst die ganze Zeit über. Ich wurde natürlich noch röter. »Vergessen Sie bitte nicht«, bohrte sich nun wieder die Stimme vom Bachmann in mein Ohr, »dass wir kommende Woche mit den Referaten beginnen wollen. Leon, Sie sind der Erste, dann kommen Alina und Pia dran, und dann« – er warf uns einen Blick zu – »Elli und Marie.« Unser Referat war mir in diesem Moment völlig egal, aber ich nickte reflexhaft, immer noch mit hochrotem Kopf. »Ich habe das Buch schon gelesen«, flüsterte Elli. »Du auch?« Ich nickte wieder. »Sowieso.« Was machte der Neue wohl jetzt? Ich lugte nach hinten. Ben saß an seinem Platz. Logisch. Was hätte er sonst machen sollen? Elli kicherte wieder – na und, sollte sie doch! »Ach ja«, hörte ich den Bachmann durch die Geigen und Flöten in meinem Kopf hindurch sagen, »das wäre die Gelegenheit, unseren Neuen gleich mal zu integrieren. Ben, wie wäre es mit einem Referat zu der Novelle ›Der Sandmann‹ von E.T.A. Hoffmann? Sehen Sie sich dazu in der Lage?« Ben richtete sich auf. »Entschuldigung, ich verstehe die Frage nicht.« Der schöne Niko grinste spöttisch. Der Bachmann grinste auch. »Die Frage, ob Sie sich dazu in der Lage sehen, oder wie es mit einem Referat über den ›Sandmann‹ wäre?« Wie gemein! Der Neue konnte ja noch gar keine Ahnung von dem Deutsch-Projekt haben, das sich der Bachmann für diesen Sommer ausgedacht hatte! Ben reagierte nicht, er schaute den Bachmann einfach abwartend an und ich fand das ziemlich cool. Der Bachmann wurde zum Glück gleich wieder freundlich. »Also, das Referat soll eine halbe Stunde dauern und uns von jedem Werk die Handlung und die Entstehung präsentieren. Sie haben aber noch zwei Wochen Zeit, bis dahin sehen Sie ja, wie es die anderen machen.« Ben neigte wieder leicht den Kopf und unsere Blicke begegneten sich zum zweiten Mal … »Mach ich gern«, sagte er. »Ich liebe Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Ich liebe Romantik.« ROMANTIK?! Ich schaute schnell zu Boden. Mein Herz klopfte. Was war denn heute mit mir los? »Meine Güte«, sagte der Bachmann sichtlich überrascht. »Da haben wir ja einen Experten in der Klasse.« »Neben mir ist noch ein Platz frei«, rief Josh. »Den hab ich extra freigehalten, falls mal ein EXPERTE in die Klasse kommt.« Alle lachten. Und Ben lächelte auch. »Heute Nachmittag hätte ich Zeit«, hörte ich Elli plötzlich neben mir. »Wozu?«, fragte ich völlig verwirrt. Hatte sie etwa schon länger mit mir gesprochen, ohne dass ich es bemerkt hatte? Heute war mir alles zuzutrauen. »Na, fürs Referat«, erwiderte Elli. »Soll ich nach der Schule gleich zu dir kommen?« »Ach so, fürs Referat.« Wir hatten montags bis 16 Uhr Unterricht. Und irgendwas war heute Abend noch, hatte meine Mutter gesagt, aber ich hatte nicht genau zugehört. »Heute ist schlecht. Morgen?« »Okay.« Sie pikste mich mit dem Bleistift in die Seite. »Könnte sein, dass du dich sowieso nicht mehr konzentrieren kannst, oder?« Wie gemein. Aber ich sah natürlich ein, dass sie recht hatte. Die Musik in meinem Kopf war zu einer ganzen Symphonie angeschwollen. In Physik schämte ich mich so sehr für meine Klasse, dass ich es kaum beschreiben kann. Vor allem für die Jungs! Bei allem, was sie taten, dachte ich, meine Güte, was bekommt der Neue wohl für einen Eindruck von uns! Der Koppe hantierte an einem Versuchsauf bau herum, irgendwas mit Spulen und Kabeln und Stangen und Magneten. Es ging noch einmal um Induktion. Dabei wird Strom hergestellt, indem man in eine Spule aus aufgewickeltem Draht einen Stabmagneten reinschiebt. Und wieder rauszieht. Je schneller man das macht, umso mehr Strom entsteht. Die Jungs machten anzügliche Witze, und wer weiß, vielleicht hätte ich es an einem anderen Tag auch ein bisschen lustig gefunden...