E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Morgenroth Der Sohn des Alchemisten
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-423-40648-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Abenteuer auf dem Jakobsweg
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-423-40648-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Morgenroth,geboren 1972, arbeitet, wenn er keine Bücher schreibt, als Journalist für den Rundfunk. Er lebt mit seiner Familie in München.
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Erschrocken starrte Marie auf die flatternden Blätter. Bewegte sich da nicht etwas im Holunderbusch? Aus den Augenwinkeln hatte sie ein kleines Huschen wahrgenommen. Und in den Ästen hatte es geknackt.
Hoffentlich keine Hollergeister, dachte sie und stellte den Korb mit den Eiern ab, die sie gerade hinter dem Misthaufen bei den Hühnern gesammelt hatte. Holunderbüsche waren schließlich bekannt dafür, dass in ihnen die Hollergeister hausten, die die Menschen neckten und narrten. Aber am helllichten Tag? Merkwürdig.
Vielleicht hat sich ja ein Huhn verlaufen und sein Ei unter den Busch gelegt, dachte sie und trat näher zum Busch. Nein. Kein Gackern war zu hören.
Da passierte es. Die Zweige hoben sich. Jemand gab ein grunzendes Geräusch von sich.
Marie schrie leise auf.
Vor ihre Füße purzelte ein Junge, der weder wie ein Huhn noch wie ein Hollergeist aussah, sondern ziemlich wie aus Fleisch und Blut.
»So ein Mist«, hörte sie ihn schimpfen, »auch das noch!«
Marie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Junge versuchte verzweifelt, seine Beine zu entwirren, die sich in seinem Beutel und in einer Brombeerranke verfangen hatten. Seine Füße steckten in groben ledernen Stiefeln, an seinem Gürtel hing eine Kürbisflasche und in der Hand hielt er einen Wanderstab.
»Lach bloß nicht«, schimpfte er, während er die stachelige Brombeerranke vorsichtig von seiner Hose zupfte. »Immer passiert mir so etwas! Letzte Nacht bin ich schon in einem Sumpf stecken geblieben, habe mich auf einen Ameisenhaufen gesetzt und bin gegen einen Baum gerannt. Ganz zu schweigen von dem Sturz von meinem Maultier! Und jetzt kugle ich auch noch dir vor die Füße, wie ein Idiot! Es ist zum Mäusemelken!«
Marie betrachtete den fremden Jungen von oben bis unten. Seine wollene Jacke war von Schlamm überkrustet, seine Arme sahen ziemlich zerkratzt aus und auf der Stirn hatte er eine dick geschwollene Beule.
»Was machst du auch nachts im Wald!«, war alles, was ihr schließlich einfiel. »Da liegt jeder anständige Mensch im Bett!«
»Was denkst du wohl, wie gern ich das auch gemacht hätte!«, erwiderte der Junge. »Aber leider kamen mir Räuber dazwischen!«
»Räuber?« Marie sah sich erschrocken um. »Bei uns im Wald?«
Der Junge grinste. »Nein, nicht direkt. Es liegen mindestens ein Sumpf, ein Ameisenhaufen und fünf Stunden Fußmarsch dazwischen.«
»Was wollten denn die Räuber von dir?«, fragte Marie weiter und half dem Jungen auf die Füße.
»Wegezoll«, sagte er und blickte sie an.
»Wegezoll?«, fragte Marie verständnislos zurück.
»Geld! Kohle! Pinkepinke! Das wollten sie!«, erklärte er. »Ich bin ein Pilger! Ein Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela, zu den Gebeinen des heiligen Jakobus! Kapiert?«
Pilger? Dieser Junge sollte ein Pilger sein? Marie hatte schon einige Pilger gesehen, denn auf den Anhöhen verlief die Straße Richtung Santiago de Compostela, wohin seit Menschengedenken Leute aus aller Herren Länder pilgerten. Aber die Pilger, die sie dort oben entlangwandern gesehen hatte, waren ehrwürdige Herrschaften gewesen, wohlgekleidet, mit langen Mänteln und breiten Hüten. Und mit Packpferden.
»Pilger auf dem Weg nach Galizien müssen immer damit rechnen, überfallen zu werden«, sagte der Junge und strich sich über seine Beule an der Stirn. »Bei mir war es schon der dritte Überfall. Pah! Aber wenn du denkst, die Räuber hätten mich eingeschüchtert, dann täuschst du dich! Räuber wollen ja immer nur ein paar Münzen, dann lassen sie dich wieder laufen, das weiß jeder echte Jakobspilger. Wenn sie die Pilger abmurksen würden, dann würden sie ja alle andern vergraulen und verschrecken. Und die Pilger brauchen sie ja, denn wem sollten sie sonst das Geld abknöpfen?«
Dass es irgendwo auf der Welt Räuber geben sollte, das konnte man sich an diesem Morgen kaum vorstellen, so freundlich lag die Sonne über der Mühle im Erlenschlag. Gleichmäßig drehte sich das große Rad im Bachlauf und die ganze Welt duftete nach Sommer.
»Wenn du ein Pilger bist«, fragte Marie neugierig, »was bitte schön machst du dann bei uns im Gebüsch? Da führt kein Weg nach Santiago! Da liegt unser Misthaufen!«
»Ich weiß, ich weiß«, knurrte der Junge mürrisch. »In den bin ich auch schon getreten.«
Er blickte sehnsüchtig auf die Eier im Korb.
»Hunger hatte ich eben«, fügte er schließlich kleinlaut hinzu. Er rutschte ein wenig näher zu dem Eierkorb. Dann räusperte er sich. »Hättest du – vielleicht – bitte – ich meine, hättest du vielleicht ein Ei? Ein klitzekleines Ei?«
Marie überlegte. Sie war schließlich nur die Magd auf der Mühle und der Müller war ein harter Mann. Sie wollte keine Schläge riskieren. Aber andererseits sollte man ja den Armen helfen und Almosen geben. Und dieser Junge kam ihr ziemlich arm vor. Schließlich hatte er schon drei Überfälle hinter sich und war recht zerkratzt.
»Gut, ein Ei bekommst du«, entschied sie.
Der Junge griff gierig danach.
»Halt«, bremste ihn Marie und hielt das Ei in die Luft. »Bevor du es isst, musst du mir erst einmal sagen, wie du heißt!«
»Jakob natürlich«, sagte Jakob ungeduldig, dann schnappte er sich das Ei, pikste es an und schlürfte es aus.
Jakob natürlich? Marie musste lachen. Der Kerl meinte wohl, alle Welt müsste ihn kennen!
»Jakob Flamel«, sagte Jakob, wischte sich den Mund ab und blickte Marie erwartungsvoll an. »Aus Paris. Du weißt schon!«
»Nein«, antwortete Marie, denn sie wusste weder etwas von Paris noch hatte sie jemals von einer Familie namens Flamel gehört.
»Paris! Die große Stadt! Da komm ich her! Hast du noch ein Ei?«
Marie zögerte, dann reichte sie diesem Jakob Flamel aus Paris noch ein zweites Ei hinüber. Der Müller konnte ja nicht wissen, wie viele Eier seine Hühner heute gelegt hatten. Hoffte sie zumindest.
»Gehst du allein als Pilger nach Santiago?«, fragte Marie vorsichtig, denn immer noch kam ihr die ganze Geschichte ziemlich komisch vor.
Jakob zog ein sorgenvolles Gesicht. »Nein«, sagte er zwischen zwei Schlucken aus dem Ei, »natürlich nicht. Ich begleite meinen Vater. Mensch, der macht sich jetzt sicher wahnsinnige Sorgen, weil er nicht weiß, wo ich stecke. Vielleicht glaubt er, die Räuber hätten mich verschleppt! Dabei bin ich doch nur vom Maultier gefallen, als sie kamen. Und dann ist mir alles schwarz vor Augen geworden. Als ich wieder zu mir kam, waren alle weg! Mein Vater auch!«
»Das ist ja furchtbar!«, sagte Marie.
Jakob nickte und griff sich noch ein drittes Ei, diesmal ohne zu fragen. Marie blickte ängstlich nach der Mühle. Wenn der Müller sie erwischte, würde es Ärger geben! Sie war doch sowieso kaum geduldet!
»Ja, wirklich furchtbar!«, schmatzte Jakob. »Und mindestens genauso viel Sorgen wie um mich wird er sich auch um unser Buch machen, denn das steckt bei mir in der Tasche! Er wird denken, dass die Räuber es geschnappt haben, und dann wäre unsere ganze Reise umsonst! Und nicht nur das, seine ganze Arbeit! Aber das Buch ist nicht verloren! Ich habe es! Nur – davon darf natürlich keiner wissen–« Jakob hielt erschrocken inne. »Ich Idiot! Jetzt hab ich dir von dem Rindenbuch erzählt!«
»Das bei dir in der Tasche steckt?«, fragte Marie.
»Hab ich das etwa auch noch gesagt?«, rief Jakob aufgeregt. »Vergiss es! Vergiss es einfach! Es ist ein Geheimnis. Zeig mir lieber, wie ich wieder auf den richtigen Weg Richtung Santiago de Compostela komme, dann kann ich mich auf die Suche nach meinem Vater machen!«
In diesem Augenblick drang ein Gebrüll aus der Mühle zu den beiden Kindern herüber: »Marie! In drei Teufels Namen, wo bleiben die Eier!«
Das war er, der Müller! Jakob schaute erschrocken auf, schließlich konnte er als weit gereister Pilger aus dem fernen Paris nicht wissen, wie es in der Mühle im Erlenschlag zuging. Der Müller war für seine Wutausbrüche im ganzen Tal bekannt, und für seine harten Schläge auch. Marie hatte er nur als Magd aufgenommen, weil sie die Tochter seiner Cousine war, die in dem Hungerwinter vor zwei Jahren gestorben war, genau wie ihr Vater.
»Schnell!« Eilig schob Marie Jakob in den Schatten des Holunderbuschs. »Der Müller bekommt dich besser nicht zu Gesicht! Ich muss jetzt schleunigst in die Küche, aber danach zeige ich dir den Weg hinauf zu den Dörfern, wo öfter Pilger vorbeikommen. Versteck dich inzwischen!«
»Bin schon weg«, nickte er folgsam und setzte sich mit Schwung. Kracks! Es gab ein eigenartiges Geräusch, eine Mischung aus Knacksen, Knirschen und Blubbern.
Marie hielt den Atem an. Wo die frischen Eier im Korb gelegen hatten, war jetzt nur noch Rührei! Und mittendrin saß Jakob.
»Hoppla«, war alles, was ihm einfiel. Vor lauter Erstaunen blieb er erst einmal sitzen. »Jetzt kann ich’s bald nicht mehr an einer Hand abzählen! Erst bin ich vom Maultier gefallen, dann hab ich mich in einen Ameisenhaufen gesetzt, der Sumpf, der Misthaufen und jetzt auch noch das–«
»Wo ist denn dieses Luder von einer Magd!« Der Müller schien näher zu kommen.
»Oh! Hintern aus dem Korb«, zischte Marie. Ihr war zum Weinen zumute.
Immerhin. Zwei Eier waren wie durch ein Wunder heil geblieben.
Sie nahm wortlos den Korb und eilte zur Mühle. Vor dem Haus stand schon der Müller, die Hände in die Hüften gestemmt, und erwartete seine Magd. Aber wenn sie gedacht hatte, er würde glauben, die Hühner hätten an diesem Tag nur zwei Eier gelegt, dann hatte sie sich gründlich getäuscht. Nein, er nahm die restlichen zwei Eier und warf sie Marie wutschnaubend an den...