Morábito | Das geordnete Leben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

Morábito Das geordnete Leben

Erzählungen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86034-546-7
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

ISBN: 978-3-86034-546-7
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Der Erzähler Morábito versteht es, den Leser in eine phantastische Welt inmitten des Alltäglichen zu versetzen. Seine Prosa schafft prägnante Bilder und Situationen - Sprache als »Zauberwerkzeug«, mit dem die Dinge ihrem gewohnten Raum entzogen und in neuem Licht präsentiert werden. Meister der präzisen Sprache und Beobachtung, lotet er in Das geordnete Leben den Mahlstrom der steten Verunsicherungen und kleinen Katastrophen im Alltag aus. Ob Verwandtenbesuch, Wohnungsbesichtigung oder Geburtstagsfest: allenthalben lauert die Anarchie, unmerklich entfalten sich Kräfte, die die Figuren den Boden unter den Füßen verlieren lassen. Doch unter dem Riss an der Oberfläche tut sich nicht nur der Abgrund auf, sondern auch eine Welt der großen Sehnsüchte im kleinen Leben. von Fabio Morábito außerdem in der Edition diá: Die langsame Wut. Prosa Aus dem mexikanischen Spanisch von Thomas Brovot und Susanne Lange ISBN 9783860345450

Fabio Morábito wurde 1955 in Alexandria als Sohn italienischer Eltern geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Mailand, bis seine Eltern sich 1970 in Mexiko niederließen, wo Morábito heute als Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller lebt. Das Italienische ist seine Muttersprache, seine Werke jedoch verfasst er auf Spanisch: Erzählungen, Essays und Gedichte, die mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurden. In vordergründig einfacher Erzählweise erzeugt er in seinen Texten prägnante Bilder und Situationen, in denen Menschen und Dinge ihrem gewohnten Raum entzogen werden und in neuem Licht erscheinen. Fabio Morábito war 1998/99 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Er gilt als einer der einflussreichsten spanischsprachigen Autoren der Gegenwart, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

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Weitere Infos & Material


Das Arrangement
Der Mietvertrag
Der umgestürzte Baum
Die Schlüssel
Stadt, Land, Fluss
Der Mond und die Ratten

Michi Strausfeld: Die innere Unordnung
Bibliographie


Der Mietvertrag
»Fühlen Sie sich wie zu Hause, schauen Sie sich überall um«, sagte die Frau mit ihrem deutschen Akzent, ging wieder zu dem blonden Mann ins Wohnzimmer und ließ Rosario und mich im Flur stehen. Es ärgerte mich, dass sie sich nicht die Mühe machte, uns die Wohnung zu zeigen, als hätte sie uns angesehen, dass wir sie niemals mieten könnten. Tatsächlich brauchten wir nur den ersten Raum zu betreten, das Arbeitszimmer, ganz in Mahagoni getäfelt, und wir wussten, dass es unsere Möglichkeiten überstieg. »Ich hab’s dir gesagt«, zischelte Rosario. »Sie haben sogar eine Doppeltür, hast du gesehen?« »Ja, habe ich gesehen«, sagte ich. Es war mir aufgefallen, als die Frau uns öffnete. Aber die Frau war groß und attraktiv und nicht der Typ, sich zu verbarrikadieren, vielleicht hatten frühere Mieter die Tür eingebaut. Sie und der Blonde frühstückten am Esstisch, und vom Arbeitszimmer aus hörten wir sie Deutsch sprechen. Rosario gab mir Juan, und mit meinem Sohn auf dem Arm stellte ich mir vor, wie es wäre, in diesem großen, hellen Raum zu arbeiten, mit Blick auf die Eukalyptusbäume im Park. Seit zwei Monaten waren wir auf Wohnungssuche, und diese war von allen die schönste. Plötzlich rief der Mann etwas, und die Frau antwortete erregt. Er reagierte im selben Tonfall, und sie sagte heftig: »Nein! Nein!« Der Streit wurde vom Telefon unterbrochen, und sie antwortete auf Deutsch. Ich nahm an, dass die Wohnung ihr gehörte. Vielleicht war der Mann, der ein gutes Stück älter war als sie, ihr Liebhaber, und sie frühstückten um diese Uhrzeit, weil sie nach einer gemeinsamen Nacht spät aufgestanden waren. Wir gingen über den Flur, wo Rosario neugierig vor einem kleinen Wandmöbel stehen blieb, während ich mit Juan auf dem Arm eins der Zimmer betrat, offenbar das Schlafzimmer der Frau. Es war doppelt so groß wie unseres und ging ebenfalls auf den Park hinaus. Auf einem der Nachttische stand, in einem kleinen Bilderrahmen, ein Foto von ihr im Badeanzug, und ich musste mich hinabbeugen, um es zu betrachten. Auf dem Bild war sie jünger als jetzt, hatte schöne lange Beine und die Schultern einer Schwimmerin. Im Badeanzug sah sie noch deutscher aus. Ich wandte den Blick von dem Foto, weil ich hörte, wie Rosario über den Flur kam, und als sie ins Zimmer trat, fragte ich, wie sie die Wohnung finde. »Wie soll ich sie finden. Wenn sie uns den Preis nennen, möchte ich dein Gesicht sehen.« Die Frau hatte das Telefongespräch beendet, denn der Mann sagte etwas zu ihr, und sie rief erneut: »Nein! Nein!« Er antwortete mit einem langen Satz, und plötzlich wurde der Tonfall heftiger. Rosario und ich blickten uns an. Die Frau schien die Nerven zu verlieren, sie sagte etwas mit erstickter Stimme, und als Antwort schlug der Mann mit der Faust auf den Tisch. Rosario wurde blass. Die beiden schrien sich an. Immer wieder rief er dasselbe Wort, und die Frau sagte: »Nein! Nein! Nein!« Ich dachte, sie hätten uns vergessen, und ein absurder Gedanke schoss mir durch den Kopf: Sie taten es absichtlich, damit wir gingen. Ein Trick, um die Bewerber zu verscheuchen, von denen nichts zu erwarten war. »Gehen wir«, sagte Rosario. »Nicht jetzt, wir müssen durchs Wohnzimmer.« »Na und!« Aber wir taten keinen Schritt, denn wir hörten, wie die Frau über den Flur kam. Sie trat ins Zimmer und warf sich schluchzend auf das Bett. Dann hörten wir auch den Mann kommen, und Rosario nahm mir Juan vom Arm, als befürchtete sie einen Kampf zwischen dem Blonden und mir. Ich sah mich schon mit dem Kerl über den Teppich rollen. Aber er stürzte herein, ohne uns zu sehen, beugte sich über die Frau und schrie ihr dieses Wort ins Ohr, das er seit Beginn des Streits immer wiederholt hatte. Ich dachte, er würde sie schlagen, machte einen Schritt nach vorn und rief mit ausgebreiteten Armen: »Genug! Genug!« Sie drehten sich verschreckt um und blickten uns an, als hätten sie uns noch nie gesehen. Ich fragte mich, ob sie uns vielleicht aus dem Gedächtnis gestrichen hatten, nachdem die Frau gesagt hatte, wir könnten uns überall umschauen, und ins Wohnzimmer zurückgegangen war. Juan war so verängstigt von meinem Schrei, dass er in Rosarios Armen anfing zu weinen. Der Mann reagierte als Erster, richtete sich auf und verließ das Zimmer. Ich stand da, mit ausgebreiteten Armen, und kam mir lächerlich vor. Ich war mir nicht einmal sicher, dass ich das richtige Wort benutzt hatte. Ich ließ die Arme sinken, und Rosario trug Juan aus dem Zimmer. Auch die Frau ging hinaus, nachdem sie sich die Tränen abgewischt hatte, doch auf dem Flur blieb sie neben Rosario stehen und sagte zu ihr: »Entschuldigen Sie bitte.« »Macht doch nichts«, sagte Rosario. »Es ist mir so peinlich.« Sie schaute auf Juan, streichelte ihn und sagte mit zitternder, mütterlicher Stimme: »Hast du dich erschrocken?« »Ich glaube, wir gehen besser«, sagte ich. Aber sie schüttelte den Kopf: »Sie haben die Wohnung ja gar nicht gesehen. Kommen Sie, bitte«, worauf sie die Tür zu dem Zimmer nebenan öffnete, einem weiteren Schlafzimmer. Wir wollten sie nicht kränken und gingen hinein. Anschließend zeigte sie uns die beiden Bäder und die Küche. Irgendwoher hatte sie ein rosa Taschentuch, mit dem sie sich die Augen und die Nase wischte. Dann kamen wir in die geräumige Küche, wo der blonde Mann in den Schubladen kramte, und als er uns sah, verschwand er ins Wohnzimmer. Als wir ins Wohnzimmer kamen, ging er wieder in die Küche. Er war wie ein Schatten, den niemand zur Kenntnis nahm. Die Frau hatte sich wieder gefasst und wurde immer redseliger. Sie hielt uns einen langen Vortrag über den Boiler, die Entsorgung des Hausmülls und die Mädchenkammer auf dem Dach. Dann streichelte sie wieder Juan und kniff ihm zärtlich in die Wange. Als sie uns alles gezeigt hatte, bat sie uns, auf dem Sofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Wir trauten uns nicht, nein zu sagen. Sie ging zu dem Mann in die Küche, und ich fürchtete, sie würden wieder anfangen zu streiten. Doch wir hörten keinen rauen Ton in ihren Worten, und sie kam mit einer Käseplatte zurück, die sie auf den Couchtisch stellte. »Ein kleiner Imbiss«, sagte sie. »Bitte, keine Umstände«, sagte ich mit einer sanft ablehnenden Handbewegung. »Den Käse hat Peter aus Hamburg mitgebracht. Probieren Sie doch.« In ihrer Stimme lag ein flehentlicher Ton. Ich schnitt vom ersten Käse ein Stück ab, bot es Rosario an und schnitt eins für mich ab. Der Mann brachte eine Flasche Wein, einen Rheinwein, und stellte ihn auf den Tisch. Dann nahm er ein paar Gläser aus der Hausbar. »Bitte, keine Umstände«, wiederholte ich. Der Mann entkorkte die Flasche, schenkte uns ein und setzte sich neben die Frau. »Salud!«, sagte er, und alle vier prosteten wir uns zu. Sie schlug die Beine übereinander, und ich sah ihre kräftigen Fesseln. Kräftige Fesseln sind meine Schwäche, Rosario weiß das, und bestimmt waren sie ihr auch aufgefallen. »Peter ist ein großer Käsekenner«, sagte die Frau. »Wirklich köstlich!«, sagten Rosario und ich. Peter, der nur den Mund aufgemacht hatte, um »Salud!« zu sagen, begann von den Käsesorten seines Landes zu sprechen. Er hatte einen sehr viel ausgeprägteren Akzent als sie. Er gab uns eine kleine Einführung in die wichtigsten Verfahren der Reifung, bis sie seinen Vortrag unterbrach und mich fragte, ob ich Deutsch spräche. Ich sagte, nur ein paar Dutzend Wörter, und sie blickte zu Rosario, als wollte sie sich vergewissern, dass ich nicht log. Dass ich die Gründe für ihren Streit womöglich verstanden hatte, musste sie beunruhigt haben. Sie fragte uns, wie uns die Wohnung gefallen habe, und Rosario und ich antworteten im Chor: »Sie ist wunderschön!« Die beiden schauten sich an, und sie fragte mich, wie viel wir zahlen könnten. Mein Puls beschleunigte sich. Mir war klar, dass sie bereit waren, mit dem Preis herunterzugehen, um die peinliche Szene von vorhin aus der Welt zu schaffen. Ich nannte eine Zahl, die leicht über dem lag, was wir uns leisten konnten, und sie sagte: »Darüber lässt sich reden.« Ich blickte zu Rosario, die ihre Erregtheit zu verbergen suchte, indem sie an Juans Lätzchen zupfte, und ich fühlte mich verpflichtet, unsere Situation zu erklären: »Das ist tatsächlich alles, was wir anbieten können. Wir wissen, dass die Wohnung mehr wert ist.« Die Frau lächelte zum ersten Mal. »Wir wollen kein Geschäft machen, wir möchten sie an Leute vermieten, die Rücksicht nehmen und sie in Schuss halten.« »Ja, heute ist es besser, man bewahrt, was man hat, das Geld wird immer weniger wert«, bekräftigte Peter mit seinem Akzent. »Nur Karl muss noch einverstanden sein«, sagte sie. »Ja, unser Bruder«, erklärte Peter und machte eine sie beide und den abwesenden Bruder einschließende Handbewegung. Als die Frau mein überraschtes Gesicht sah, lächelte sie: »Wir ähneln uns kaum, Peter und ich. Kein Mensch glaubt, dass wir Geschwister sind, aber wenn Karl neben uns steht, ähneln wir uns mehr, er hat ein bisschen von uns beiden. Er verbindet uns.« Sie musste diesen Satz schon unendliche Male gesagt haben, denn Peter nickte, als wäre das eine unwiderlegbare Tatsache. In dem Moment erkannte ich eine tiefe Ähnlichkeit in ihren Gesichtern, etwas Feierliches, das ihr, die viel hübscher war als er, einen Hauch von Lüsternheit verlieh, worauf ich erneut ihre Fesseln ansah. Als ich aufschaute, trafen sich unsere Blicke. »Kommen Sie doch um sechs vorbei. Dann ist Karl da, und wir trinken zusammen einen Kaffee«, sagte Peter. »Gerne«, sagte ich und sah auf die Uhr. Es war eins. Uns blieb Zeit,...


Fabio Morábito wurde 1955 in Alexandria als Sohn italienischer Eltern geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Mailand, bis seine Eltern sich 1970 in Mexiko niederließen, wo Morábito heute als Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller lebt. Das Italienische ist seine Muttersprache, seine Werke jedoch verfasst er auf Spanisch: Erzählungen, Essays und Gedichte, die mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurden. In vordergründig einfacher Erzählweise erzeugt er in seinen Texten prägnante Bilder und Situationen, in denen Menschen und Dinge ihrem gewohnten Raum entzogen werden und in neuem Licht erscheinen.

Fabio Morábito war 1998/99 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Er gilt als einer der einflussreichsten spanischsprachigen Autoren der Gegenwart, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.



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