E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Morante Aracoeli
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8031-4324-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4324-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
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Elsa Morante, 1912 in Rom geboren und 1985 dort gestorben, gehört zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der italienischen Nachkriegsliteratur. Sie war mit Alberto Moravia verheiratet und mit Natalia Ginzburg und Pier Paolo Pasolini befreundet. Für ihren Roman »Arturos Insel« erhielt sie 1957 den begehrten Premio Strega.
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Über meine Abenteuer mit Frauen (zwei und nicht mehr) habe ich mit keinem Menschen je gesprochen – bis 1968. In diesem Jahr hatte ich bei einer Demonstration einen jungen Mann kennengelernt, der – den Jahren nach – noch unmündig war, von mir jedoch geradezu als Lehrmeister anerkannt wurde. Er gehörte einer sogenannten »marxistisch-leninistischen« Gruppe an und hatte sich seinen eigenen Idealen mit solcher Absolutheit verschrieben, dass er für sich selbst auf alle materiellen Annehmlichkeiten verzichtete und, zur Enthaltsamkeit entschlossen, vor allem auf die Freuden der Sexualität. Er war schön, und in seinen ernsten, melancholischen Augen las ich solch frühe Reife und Weisheit, dass ich mich dazu durchrang, ihm meine zwei weit zurückliegenden, einzigen und verhängnisvollen Erlebnisse anzuvertrauen – in der Hoffnung, bei ihm das gleiche Mitleid zu finden, das ich für mich selbst empfand. (Ja, wenn ich zurückschaute und mich als halbes Kind an diesem ligurischen Strand oder in dem Zimmer der alten Hure sah, erschien ich mir immer als ein Objekt des Mitleids: wie ein verletzbares, schuldloses Tierchen, vom unergründlichen Zufall wehrlos den äußersten Erniedrigungen ausgesetzt.)
Doch die Schlussfolgerung meines kleinen Lehrmeisters lautete:
. Das Mädchen am Strand war ein unschuldiges, vom imperialistischen Krieg korrumpiertes Kind. In Wirklichkeit erlitt sie schutzlos eine Vergewaltigung nach der anderen – und ich, mit meinem angemaßten , hatte nicht gezögert, ihr gegenüber die Rolle des Vergewaltigers zu spielen. Wäre ich jedoch kein Ausbeuter und Feigling gewesen, dann hätte ich sie der Gewalt der anderen entrissen, sie respektiert und ihr beigebracht, dass sie ein Opfer sei und sich dagegen auflehnen müsse.
. Die in Turin war wirklich eine Signora, das heißt eine anständige Proletarierin, vom Hunger gezwungen, dieses letzte Stück altes Fleisch, das sie noch hatte – etwas anderes besaß sie nicht –, zu verkaufen. Und wenn ich kein gewissenloser Ausbeuter gewesen wäre, hätte es mir nicht vor ihr, sondern vor mir selbst geekelt. Anstatt sie wie eine Abortschüssel für meine niederen Bedürfnisse zu benutzen, hätte ich ihr eine solche Qual erspart. Und ich hätte mich damit begnügt, ihr die Hand zu küssen und ihr, möglichst ohne dass sie es merkte, alles Geld unters Kopfkissen zu stecken, das ich hatte.
Was meinen sizilianischen Freund betraf, so war er ein dreckiger Lüstling und ein Sadomasochist. Wahrscheinlich litt er auch noch an , einem Defekt, mit dem man bestenfalls bei Huren ankam. Und in einer rhetorischen Selbststilisierung tat er so, als glorifiziere er die Prostituierten, während er sich ihrer in Wirklichkeit doch nur als eines bequemen Instruments für seine Laster bediente. Er hätte gut daran getan, sich kastrieren zu lassen. Und wenn ich nicht genauso ein Schuft gewesen wäre wie er, dann wäre ich nicht wie ein Hündchen bei ihm geblieben, sondern hätte ihm ins Gesicht gespuckt und ihm einen Tritt in den Arsch gegeben.
mein Verhalten war historisch folgerichtig, denn ich war als Bourgeois geboren, und das blieb ich auch. Solange die Bourgeoisie nicht bis zum Letzten ausgerottet sei, gebe es kein Heil auf der Welt: Denn die Bourgeoisie sei wie eine Seuche, die jeden anstecke, der mit ihr in Berührung kommt. Ich, der Bourgeois, sei ein infiziertes Wesen und infiziere die andern. Und erst mit der Bourgeoisie würde man alle anderen Übel eliminieren, angefangen von den sexuellen Lastern, die nichts seien als die Auswirkung von Heuchelei und bürgerlicher Repression. Der Sieg des Proletariats werde ein für allemal Schluss machen mit Prostitution und Perversion. Der Beischlaf werde dann zum schöpferischen Akt.
Seine Stimme – vor Kurzem erst männlich geworden, aber bereits ein schöner Bariton und in meinen Ohren fast melodiös – klang bei meiner Verurteilung fest und leidenschaftslos, wenngleich ein vorwurfsvoll vibrierender Unterton nicht zu überhören war. Vor ein paar Monaten nun, als ich allein in einer Kneipe saß, hörte ich diese unvergessliche Stimme plötzlich wieder. Sie kam aus einem Fernsehapparat, und auf dem Bildschirm sah man ihn lässig und überlegen sprechen. Ich hatte ihn seit fast sieben Jahren nicht mehr gesehen, erkannte ihn jedoch sofort wieder, sosehr er in seinem Aussehen auch verändert war. Er war elegant gekleidet, mit Sakko und Krawatte, und hatte nicht mehr seine schmutzigen langen Locken, sondern eine gut geschnittene, gewaschene und sorgfältig gekämmte Mähne. Eine weitere Neuheit: Er trug einen Ehering am Finger und war etwas dicker geworden. Und in der Art, sich zu geben und zu reden, hatte er eine kluge, seriöse Brillanz angenommen – die eines Weltmannes mit sicherer Karriere. Ich vermute, dass er zu einem Publikum sprach, denn er hatte ein Mikrofon vor sich; und er hielt eine Propagandarede für eine große konservative Partei, die von der Bourgeoisie unterstützt wird. Zuerst dachte ich an einen Doppelgänger meines kleinen Lehrmeisters oder an eine Halluzination. Doch wenn man ihn ansah und reden hörte, war er es wirklich, wie er leibt und lebt. Und da kam mir der Verdacht, dass ich ihn vor sieben Jahren durch meine Anwesenheit infiziert haben könnte. Nach meinen beiden Niederlagen habe ich die Liebe nicht mehr bei Frauen gesucht. Mit meiner Übersiedlung nach Mailand begannen meine anderen unglücklichen Lieben. Sie brachten auch in meine einige Veränderungen. An die Stelle jener einzigen Gestalt ohne Namen und mit verschwommenen Zügen traten nun unterschiedliche Personen, die sofort durch irgendeine Besonderheit identifizierbar waren: einen glatten Haarschopf, eine Narbe auf der Nase, einen Flicken auf der Hose, eine bestimmte Stimme (die gleiche, die mich womöglich tagsüber zum Zittern gebracht hatte) – bis hin zu den verschiedenen Namen oder Kosenamen: Antonello, Cherubino, Tiger, Rock. Allein ihr Klang konnte das Blut zum Rasen bringen, wie eine Droge. Im Unterschied zu meinem ersten Widersacher waren die hier keine Nichtexistenzen, sondern Doubles realer Existenzen; und ihre lebenden Originale hielten sich unterdessen in der Stadt auf, in Cafés, am Arbeitsplatz, in Vorstadtlokalen, an der Flusspromenade. Alle waren jung und meistens den Frauen zugetan. In meinen Filmen gipfelten unsere Begegnungen wie gewohnt in meiner Ermordung, während sich in der Wirklichkeit keiner von ihnen die Mühe gemacht hätte, mich umzubringen. Von ihnen konnte ich weder Liebe erwarten noch die ersehnte letzte Wunde. Die höchste Gnade, die sie mir gewähren konnten, war, sich von mir saugen zu lassen. Gegen Bezahlung. Sie wie königliche Statuen. Ich, als ob sie heilig seien, auf den Knien zu ihren Füßen. Und meine Augen verschleierten sich bei diesem Trinken in dem bewundernden und schläfrigen Blick des von der Mutter gestillten Kindes.
Die Luft auf dem Hafenplatz ist feucht und reglos; doch in meiner ausgehöhlten Müdigkeit fing mein Kreislauf plötzlich an, mich mit einem Dröhnen bis zu den Schläfen hinauf zu überfallen: Und ich hielt es für einen starken, unsichtbaren Wind, der sich lärmend erhob. Ohne es zu merken, ging ich bis zum Rand des Kais, und hier sitze ich nun in einem kleinen Garten mit wenigen Bäumen und einem Mini-Lunapark, der heute Abend nicht in Betrieb und dunkel ist. Es gibt eine Schießbude und in der Mitte ein Karussell mit seinen reglosen kleinen Pferden und Holzschwänen, mit Zwergenfahrrädern und winzigen Autos und Lastwagen. Ohne dass es mich überrascht hätte, umfängt mich plötzlich eine milde Sonnenwärme. Und ich brauche nur die Augen zuzumachen, damit sich das Karussell in Bewegung setzt, an einem Sommernachmittag, an dem die Schatten des Laubs und die Lichter der Luft einander haschen, wie in einem Auf und Nieder gesprenkelter Schwingen. Ich bin ungefähr vier oder fünf Jahre alt und fahre auf dem Karussell der Villa Borghese in Rom. Wie immer werde ich mir statt der Motor- oder anderen Fahrzeuge ein Pferd oder einen Schwan ausgesucht haben, verschwisterte Tiere und geneigt zu Reiserouten der Tollheit. Das Karussell dreht sich zum Klang eines Liedchens mit einer Geschwindigkeit, die zumindest der der Erdumdrehung entspricht: ein strahlender Ritt, voll Wonne und Furcht und mit der geheimen Drohung, nie mehr zu enden. Bei jeder Runde wiederholt man die Umdrehung der Welt, wobei man in einem Flug alle Punkte des Äquators passiert. Und an einem bestimmten Punkt steht immer eine, die mich erwartet, mich und niemand anderen unter allen Reisenden. Aracoeli! Schon von Weitem erkennt sie mich mit dem Ausdruck großer Überraschung, und freudig winkt sie mir in ihrem wehenden Blumenröckchen zu: Stolz über meine Weltreise, grüße ich sie, sosehr ich auch damit beschäftigt bin, mich im Sattel zu halten, mit einem jauchzenden Lachen. Dem meinen antwortet das gleiche Jauchzen ihres Lachens. Und unsere beiden Lachen hüpfen gemeinsam in einer unendlichen Fuge von einer Saite zur anderen, in unsichtbaren Resonanzkästen vibrierend: bis sie hier an meinem abendlichen Aufenthaltsort in Almeria anlangen. Ein leises, kratzendes Pfeifen in den Ohren bedeutet das endgültige Haltesignal meines Karussells. Und von einer ungesunden Kälte gepackt, die mich mit den Zähnen klappern lässt, beschließe ich, ins Hotel zurückzugehen.
Das Zimmer ist so, wie ich es erwarten konnte: ein Hotelzimmer vorletzter Klasse, wenig anders als das, das ich heute morgen in Mailand verlassen habe. An der Wand eine Tapete mit Rauten und verkümmerten kleinen Blumen; ein Waschbecken, das ich – nach alter Gewohnheit – gleich als Pissoir benutze; ein wackeliger Spiegelschrank, in dessen...