Moran All About a Girl
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15384-7
Verlag: carl's books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-15384-7
Verlag: carl's books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
England in den 90ern, die Happy Mondays sind in den Charts, Margaret Thatchers Regierungszeit als Premierministerin neigt sich dem Ende zu, und das Land ächzt unter der Arbeitslosigkeit: Wie soll man bloß in einer Sozialsiedlung in Wolverhampton inmitten einer chaotischen Familie erwachsen werden – mit einem Vater, der seit zwanzig Jahren von einer Karriere als Rockstar träumt und einer Mutter, die, obwohl sie schon drei Kinder hat, eine erneute Schwangerschaft bis zum Geburtstermin als Magenverstimmung deutet? Wird Johanna Morrigan mit Hilfe von schwarzem Eyeliner, Doc Martens, derben Sprüchen, einem wilden Partystil und ihrem Wissen über Popmusik endlich Sex haben und ihre Familie retten?
Ein intelligenter und witziger Roman über das Erwachsenwerden, trügerische Geschlechterrollen und das Glück, ein Kind der 90er zu sein.
Caitlin Moran, geboren 1975, ist das älteste von acht Kindern und wuchs in Wolverhampton in England auf. Mit fünfzehn verfasste sie ihren ersten Roman, mit sechzehn ihre ersten Artikel für den Melody Maker. Seit sie achtzehn ist, schreibt sie Kolumnen für die Times. Sie wurde für ihre journalistische Arbeit bereits mehrfach mit dem British Press Award ausgezeichnet. Ihr „feministisches Manifest mit viel schrägem Humor“ (Zeit-Magazin), How to be a woman (dt. 2012), war ein internationaler Bestseller. Ihr neuer Roman About a Girl stürmte in Großbritannien die Spitze der Bestsellerlisten und erscheint in zahlreichen Ländern.Moran lebt mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in London.
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01
Ich liege im Bett, neben meinem Bruder Lupin.
Er ist sechs Jahre alt und schläft.
Ich bin vierzehn und schlafe nicht. Ich masturbiere.
Im Grunde tue ich es nur ihm zuliebe, aus reinem Edelmut, denn schließlich liegt ihm mein Glück doch am Herzen.
Er hat mich gern und würde nicht wollen, dass ich gestresst bin. Ich habe ihn auch gern – bloß nicht gerade beim Masturbieren. Es wäre nicht richtig, dabei an ihn zu denken. Dabei kann ich keine Geschwister gebrauchen. Zwar lasse ich ihn heute bei mir schlafen – er ist um Mitternacht weinend aus dem Etagenbett geklettert und zu mir unter die Decke geschlüpft –, aber in meinem sexuellen Hinterland hat er nichts verloren. Ich kann ihn in meinen Gedanken nicht brauchen.
»Da muss ich alleine durch«, sage ich energisch – wenn auch nur im Stillen – zu ihm und baue, um meine Privatsphäre zu schützen, ein Kopfkissen zwischen uns auf. Unsere eigene kleine Berliner Mauer. Geschlechtsreife Jugendliche auf der einen Seite (Westdeutschland), sechsjährige Knaben auf der anderen (Ostblock). Grenzübertritte müssen verhindert werden. Das gehört sich so.
Kein Wunder, dass ich Hand an mich legen muss – ich habe einen furchtbar stressigen Tag hinter mir. Unser alter Herr ist – mal wieder – nicht berühmt geworden.
Nachdem er zwei Tage verschwunden war, kreuzte er heute nach dem Mittagessen wieder auf, Arm in Arm mit einem ramponierten Streuselkuchengesicht im abgewetzten grauen Anzug mit rosa Schlips um den Hals.
»Dieser Sack«, verkündete Dad frohgemut, »ist unsere Zukunft. Sagt unserer Zukunft guten Tag, Kinder.«
Höflich sagten wir dem Sack, unserer Zukunft, guten Tag.
Eingehüllt in eine Wolke aus Guinness-Dunst ließ Dad uns wissen, dass es sich bei dem jungen Mann vermutlich um den Talentscout einer Plattenfirma aus London namens Rock Perry handelte. »Kann aber auch sein, dass er Ian heißt.«
Wir lugten aus der Diele ins Wohnzimmer. Rock hockte auf unserer durchgesessenen rosa Couch und hielt sich den Kopf. Er war knülle. Man hätte meinen können, der Schlips wäre ihm von einem Feind umgebunden worden, um ihn zu erdrosseln. Er sah nicht wie die Zukunft aus, sondern nach 1984. Was im Jahr 1990 sehr vorgestrig war – sogar oben bei uns in Wolverhampton.
»Wenn wir unsere Trümpfe richtig ausspielen, sind wir bald Millionäre«, flüsterte unser Vater weithin hörbar.
Lupin und ich rannten in den Garten, um zu feiern. Wir schaukelten zusammen auf der Schaukel und schmiedeten Zukunftspläne.
Mutter und unser großer Bruder Krissi blieben stumm. Sie hatten schon zu oft mit ansehen müssen, wie die Zukunft bei uns im Wohnzimmer Platz nahm – und wieder entschwand. Auch wenn sie jedes Mal einen anderen Namen und andere Klamotten trägt, läuft ihr Besuch immer nach dem gleichen Schema ab: Sie lässt sich stets nur angetrunken bei uns blicken und darf unter gar keinen Umständen wieder nüchtern werden, weil wir sie mit List und Tücke dazu bringen müssen, uns mitzunehmen, wenn sie wieder geht. Wir müssen uns wie Kletten in ihren Pelz hängen – alle sieben – und uns aus unserer armseligen Hütte bis nach London tragen lassen, wo Ruhm, Reichtum und rauschende Feste auf uns warten. Wo wir hingehören.
Es hat noch nie geklappt. Bis jetzt ist die Zukunft noch immer ohne uns aus dem Haus gewankt. Und wir sitzen seit dreizehn Jahren in einer Sozialsiedlung in Wolverhampton fest und warten, fünf Kinder – die Zwillinge kamen erst vor drei Wochen überraschend dazu – und zwei Erwachsene. Wir müssen hier raus. So schnell wie möglich. Viel länger halten wir es nicht mehr aus, arm und verkannt zu sein. Die 1990er sind kein gutes Jahrzehnt für Leute ohne Geld und Ruhm.
Wieder im Haus, geht auch schon alles den Bach runter. Der geraunte Wunsch meiner Mutter – »Ab in die Küche, kipp noch ’ne Dose Erbsen in die Bolognesesoße! Wir haben Besuch!« – ist mir Befehl. Mit einem Knicks reiche ich Rock den Teller. Verzweifelt schaufelt er die Nudeln in sich hinein, um wieder nüchtern zu werden. Wobei zarte Hülsenfrüchte leider keine große Hilfe sind.
Mit dem heißen Teller auf dem Schoß sitzt Rock in der Falle. Dad hat sich leicht schwankend vor ihm aufgebaut und rührt die Werbetrommel. Wir kennen seine nun folgende Ansprache auswendig.
Worauf es dabei ankommt, hat er uns oft genug erklärt: »Man darf nicht kleckern, Kinder. Man muss klotzen. Eigenwerbung stinkt nicht – wenn man von seinem Produkt überzeugt ist. Von seiner Sache, seinem Anliegen. Man muss bloß laut genug auf die Pauke hauen, dann wickelt man jeden um den Finger.«
Über unseren Gast gebeugt, schwenkt Dad eine Kassette.
»Sohn«, sagt er. »Kumpel. Please allow me to introduce myself. I’m a man of wealth and taste. Nun ja, momentan hapert es noch ein bisschen am Reichtum. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, hä, hä, hä. Und ich habe dich heute in mein Haus geladen, um dir eine große Wahrheit zu verkünden. Es gibt drei Männer, ohne die wir heute alle nicht hier wären«, fährt er fort, während er mit dicken Fingern an der Kassettenhülle rumfummelt. »Die Heilige Dreifaltigkeit. Das Alpha, Epsilon und Omega aller Menschen mit Verstand. Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die einzigen drei Männer, die ich je geliebt habe. Die drei Bobbys: Bobby Dylan. Bobby Marley. Und nicht zuletzt Bobby Lennon.«
Rock Perry glotzt zu ihm hoch – genauso verdattert wie wir damals, als wir diesen Spruch zum ersten Mal hörten.
»Und jeder Musiker auf der Welt hat nur einen einzigen Wunsch«, fährt Daddy fort. »Eines Tages will er sich im Pub vor diesen dreien hinstellen können und zu ihnen sagen: ›Ich höre dich, Kumpel. Ich höre dich. Aber hörst du mich auch? Du bist der Buffalo Soldier, Bobby. Und du bist Mr. Tambourine Man, Bobby. Und du bist das gottverfluchte Walross, Bobby. Das weiß ich. Aber ich – ich bin Pat Morrigan. Und was ich bin, ist das hier.‹«
Damit hält er Rock Perry die Kassette, die er endlich doch noch aus der Hülle gepfriemelt hat, unter die Nase.
»Weißt du, was das ist?«, fragt er.
»Eine C90er?«
»Das sind die letzten fünfzehn Jahre meines Lebens, Sohn«, antwortet Daddy. Er nötigt Rock die Kassette auf. »Fühlt sich nicht so an, was? Hättest du nicht gedacht, dass du mal ein ganzes Menschenleben in den Händen halten würdest, oder? Aber so ist es. Demnach bist du also ein Riese. Was ist das für ein Gefühl, ein Riese zu sein?«
Rock Perry starrt dumpf die Kassette an. Er wirkt vor allem riesig verwirrt.
»Willst du dich auch noch wie ein König fühlen?«, fragt Daddy. »Soll ich dir verraten, wie das geht? Du brauchst bloß diese Kassette auf CD rausbringen und zehn Millionen Stück davon verkaufen. Es ist die reine Alchemie. Du und ich, wir können unser Leben verwandeln – in eine fette Monsterjacht, einen Lamborghini und Weiber bis zum Abwinken. Musik ist wie Magie, Kollege. Musik kann dein Leben verändern. Aber bis dahin – Johanna, geh und hol unserem Gast was zu trinken.«
Das gilt mir.
»Was zu trinken?«, wiederhole ich.
»Aus der Küche, aus der Küche«, antwortet er gereizt. »Die Getränke sind drüben, Johanna.«
In der Küche schuckelt Mum einen Zwilling. »Ich gehe ins Bett«, sagt sie müde.
»Aber Daddy kriegt doch gleich einen Plattenvertrag!«
Mum gibt das Geräusch von sich, mit dem – Jahre später – Marge Simpson berühmt werden wird.
»Ich soll Rock Perry was zu trinken holen«, sage ich mit all dem Nachdruck, den die Situation meiner Meinung nach erfordert. »Aber wir haben nichts da, oder?«
Mit todesmatter Geste zeigt Mum zum Sideboard, auf dem zwei halb volle Gläser Guinness stehen.
»Die hat er aus dem Pub mitgebracht. In den Jackentaschen«, sagt sie. »Und ein Billardqueue.«
Das Queue aus dem Red Lion lehnt am Elektroherd. In unser Haus passt es ungefähr genauso gut wie ein Pinguin.
»Das hatte er in der Hose. Ich weiß wirklich nicht, wie er das macht«, seufzt sie. »Außerdem haben wir doch schon eins.«
Das stimmt. Wir besitzen bereits ein geklautes Queue. Da wir keinen Billardtisch haben – das zu klauen schafft noch nicht mal Daddy –, wird es von Lupin, wenn wir Herr der Ringe spielen, als Gandalfs Zauberstab zweckentfremdet.
Unser Gespräch über Queues wird jäh durch laute Musik aus dem Wohnzimmer unterbrochen. Ich erkenne das Stück sofort – »Dropping Bombs«, Daddys neuester Demosong. Anscheinend hat das Vorspielen bereits begonnen.
»Dropping Bombs« war bis vor Kurzem eine schunkelnde Ballade, bis Daddy auf seinem Yamaha-Keyboard die Reggae-Einstellung entdeckt hat: »Der Bob-Marley-Knopf! Jawoll! Jetzt geht die Post ab!«
Es ist einer von Dads Politsongs und wahnsinnig bewegend: Die ersten drei Strophen sind aus der Sicht einer Atombombe geschrieben, die auf Frauen und Kinder in Vietnam, Korea und Schottland abgeworfen werden soll. Völlig ungerührt stellt sie sich die Verwüstungen vor, die sie anrichten wird – und die Daddy mit einer Roboterstimme auflistet.
»Eure Haut wird verbrennen/Und die Menschen werden rennen/Nichts macht mehr Sinn/Die ganze Ernte ist dahin«, sagt die Roboterstimme blechern.
Aber in der letzten Strophe kommt die Bombe plötzlich zur Einsicht. Sie rebelliert gegen das amerikanische Militär, das sie gebaut hat, und beschließt, in der Luft zu explodieren. Auf die verängstigten...