Moore | Jerusalem | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 1400 Seiten

Reihe: Carcosa

Moore Jerusalem

Roman
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-910914-21-6
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 1400 Seiten

Reihe: Carcosa

ISBN: 978-3-910914-21-6
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Michael Warren kann sich an das wichtigste Ereignis seines Lebens nicht erinnern: Im Alter von drei Jahren verschluckt er ein Hustenbonbon – und droht daran zu ersticken. Zehn Minuten soll er, so heißt es, nicht geatmet haben, und während dieser zehn Minuten wird Michael hinfortgerissen in eine andere Welt, wo er als Ehrenmitglied der ›Bande der Todtoten‹ zahlreiche fröhliche wie furchterregende Abenteuer erlebt.
Dabei erfährt er am eigenen Leibe, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, von Leben und Tod kaum an der Oberfläche der Realität kratzen: Unsere Wirklichkeit ist nur die unterste Ebene eines mehrstöckigen Weltengebäudes, das von ganz anderen Gesetzen beherrscht wird als jenen, die wir für unumstößlich halten. Und zwischen diesen höheren Gefilden und Michaels Zuhause in den Boroughs von Northampton besteht eine geheimnisvolle Wechselwirkung ...
Mit Jerusalem hat Alan Moore ein verstörendes, berauschendes Romanepos über die Tragik und das Glück des menschlichen Daseins verfasst, ein Monument, das in seiner brillanten Vielfalt von tiefschürfender Gesellschaftskritik bis zu extravaganter Phantastik alle Register zieht.

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Work in Progress ALMA WARREN, fünf Jahre alt, vermutete, dass sie einkaufen gewesen waren, sie, ihr Bruder Michael in seinem Kinderwagen und ihre Mama Doreen. Im Woolworth vielleicht. Nicht in dem an der Gold Street, nicht im unteren, sondern im oberen Woolworth ein Stück die von Läden erleuchtete Abington Street hoch, dem mit der minzgrün gefliesten Milchbar und mit der Waage, die neben der Holztreppe an der Rückseite des Gebäudes stand, das riesige Ziffernblatt in beruhigendes Magnetrot eingefasst. Das stämmige kleine Mädchen, das so kompakt wirkte, als käme es aus einer Druckgussform, hatte keine Erinnerung daran, dort die schweren Schwingtüren aus schmierigen Messing und Glas aufgehalten zu haben, damit Doreen den Kinderwagen in das samtene Gewimmel der draußen flimmernden Hauptstraße bugsieren konnte. Angestrengt versuchte Alma, sich irgendeinen Orientierungspunkt entlang der altbekannten Route ins Gedächtnis zu rufen, vielleicht die Leuchtreklame, die von dem Regenbekleidungsgeschäft Kendall’s an der Ecke Fish Street hinausragte und deren marschierendes K sich verwegen gegen den stürmischen Wind stemmte, den mit ein paar Lichtstrichen gezeichneten Regenschirm aufgespannt und irgendwie vom handlosen, ausgestreckten Arm des Buchstabens gehalten, aber ihr wollte nichts einfallen. Ehrlicherweise konnte sich Alma im Rückblick überhaupt nicht mehr an ihre Einkaufsexpedition erinnern. Alles vor dem laternenerleuchteten Stück Gehweg, auf dem sie sich jetzt wiederfand; alles vor dem Quietschen von Michaels Kinderwagen und dem rhythmischen Klappern der Absätze ihrer Mutter lag in einem rätselhaften Nebel. Das Kinn gegen die durchdringende Kälte der Abenddämmerung in den zugeknöpften Kragen ihres Regenmantels geschoben, betrachtete Alma eingehend die glitzernden Steinplatten, die in stetiger Folge unter dem hypnotisierenden Vor und Zurück ihrer abgerundeten Schnallenschuhe hindurchglitten. Die wahrscheinlichste Erklärung für die Lücke in ihrem Gedächtnis schien ihr schlichte Geistesabwesenheit. Vermutlich hatte sie während des ganzen langweiligen Ausflugs getagträumt und dabei lauter vertraute Dinge gesehen, ihnen jedoch keine Aufmerksamkeit geschenkt, versunken in den trägen Strom ihrer Gedanken, in die Phantasien und Ungereimtheiten, die zwischen ihren herabbaumelnden Zöpfen dahintrieben, unter ihren Schmetterlingsspangen, die verwaschen rosa waren und brüchig wie Karbolseife. Es passierte ihr fast täglich, dass sie aus einer Trance erwachte, aus ihrem Kokon aus Plänen und Erinnerungen auftauchte und auf einmal zwei oder drei Häuserreihen weiter war als beim letzten Hinsehen. Dass sie keinerlei Einzelheiten des gegenwärtigen Einkaufsbummels behalten hatte, war deshalb kein Grund zur Sorge. Am ehesten, dachte sie, waren sie wohl in der Abington Street gewesen, und das würde auch erklären, warum sie jetzt am unteren Rand des menschenleeren Market Square auf die Gasse neben Osborn’s zuhielten. Von dort aus würden sie die Drapery hinaufstapfen und Michael an dem nach Meer riechenden Backsteinblock des Fischmarktes mit seinen hohen, staubverschleierten Fenstern vorbeischieben, dann die Silver Street runter, über die Mayorhold und hinein in die schmalen Passagen der Boroughs, in deren wankem Wirrwarr sie zu Hause waren. Alma fand diese Vorstellung beruhigend, doch sie hatte noch immer das dumpfe Gefühl, dass an ihrer Erklärung irgendetwas nicht stimmte. Wenn sie Woolworth’s gerade erst verlassen hatten, konnte es nicht viel später sein als fünf Uhr, und alle Läden im Zentrum müssten noch geöffnet sein. Aber warum brannten dann entlang des Marktes keine Lichter? Kein blassgrüner Glanz kroch am oberen Rand des abschüssigen Platzes aus dem geschlossenen Schlund der Emporium Arcade, und auch die Fenster von Lipton’s an seiner Westseite waren verdunkelt, ohne ihre gewohnte käserindenfarbene Wärme. Sollten nicht im Übrigen die Markthändler noch immer ihre Waren zusammenpacken, ihre Verkaufsstände für heute schließen, während sie fröhlich lauthals miteinander redeten und durch verdorbene Früchte und Seidenpapier wateten, Tapeziertische zusammenklappten und mit hufschlagendem Klirren und Klappern in die klobigen, stotternden Laster luden, die aussahen wie Krankenwagen und deren blecherne Aufbauten bei jedem neuen Armvoll hallten wie ein Gong? Aber die weite Fläche war verwaist, und ihr zugiges Gefälle verlor sich nach oben hin in leere Finsternis. Auf der Gänsehaut des nassen Pflasters erhoben sich nur schiefe Pfosten zur Unterteilung der abwesenden Buden, durchweichte Balken, die wie an einem Ende zerkaute Bleistifte aus viereckigen, von Rost gesäumten Löchern zwischen den buckligen Steinen ragten. Eine zerfledderte Markise war zurückgeblieben, offenbar zu armselig, um sie zu stehlen, und das nasse Flattern ihres einsamen Flügels war wiederholt über dem leisen, schläfrigen Murmeln des Windes zu hören; das Geräusch wurde von den hohen Gebäuden, die den Platz umstanden, wie Peitschenknallen zurückgeworfen. In der Mitte dräute, schwarz vor rußgrau, das eiserne Marktdenkmal im schmutzigen Waschwasser der Nacht; die verschnörkelte viktorianische Säule erblühte zu einem ausgekehlten, von einem Kupferglobus gekrönten Kapitell, einer prähistorischen Monsterblume ähnlich, einsam und versteinert. Um den gestuften Sockel herum wuchsen, wie Alma wusste, hartnäckig und heimlich in Ritzen und Rissen kleine smaragdgrüne Grasbüschel – außer ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihr vielleicht das einzig Lebendige an jenem Abend auf dem Platz, wenngleich für sie unsichtbar. Wo waren all die anderen Mütter, die ihre Kinder durch die einladend leuchtenden Inseln vor den Schaufenstern nach Hause zum Tee schleiften? Wo waren die müden, unglücklich dreinblickenden Männer, die gebückt und allein aus den Fabriken zurückkehrten, eine Hand in der schäbigen Tasche ihrer marineblauen Hose und den ausgefransten Gurt eines geschulterten Beutels in der anderen? Über den Schieferdächern der umliegenden Häuser lag keine perlmuttfarbene Aura, die in den schwarzen Himmel aufschien, keine weißen elektrischen Strahlen zitterten aus der stromlinienförmigen Fassade des Gaumont – als sei Northampton plötzlich ausgeschaltet worden, als wäre es mitten in der Nacht. Aber wenn es so spät war, was taten sie dann im Stadtzentrum, wo alle Läden geschlossen hatten und die länglichen Glasaugen ihrer verriegelten Türen unfreundlich und abweisend geworden waren, dich mit leerem Blick anstarrten, als kennten sie dich nicht, als wollten sie dich nicht hier haben? Während Alma neben ihrer Mutter hertrottete, eine heiße Hand auf dem kühlen Metallgriff des Kinderwagens, leicht widerspenstig, sodass Doreen sie hinter sich herziehen musste, wuchsen ihre Sorgen. Wenn die Dinge nicht mehr so abliefen, wie sie sollten, bedeutete das nicht, dass dann alles passieren konnte? Alma blickte hoch zu dem schalumwickelten Profil ihrer Mutter, konnte jedoch weder im weichen, gescheiten Blick ihrer blauen Augen, der auf das Pflaster vor ihnen gerichtet war, noch in ihrem kleinen, zu einem geduldigen Strich verschlossenen Rosenmund ein Anzeichen von Besorgnis entdecken. Wenn es irgendeinen Grund gäbe, sich zu fürchten, wenn sie in Gefahr wären, dann wüsste Mama das doch bestimmt? Aber was, wenn da etwas Grässliches umging, ein Gespenst oder ein Bär oder Mörder, und ihre Mutter ahnte nichts davon? Was, wenn es sie einholte? Alma kaute auf ihrer Unterlippe und versuchte erneut, sich zu erinnern, wo sie drei vor diesem geisterhaften kopfsteingepflasterten Platz gewesen waren. Da bemerkte das stämmige Kind erleichtert, dass in den Schattentümpeln nicht weit vor ihnen an der unteren Flanke des Marktes wenigstens ein Licht in der ansonsten offenbar menschenleeren Düsternis brannte, ein Rechteck so hell wie Elfenbein, das aus dem großen Vorderfenster des Zeitungsladens an der Ecke Drum Lane in schiefem Winkel auf die ausgetretenen, vergilbten Steinplatten fiel. Als hätte sie die wachsende Besorgnis ihrer Tochter belauscht, sah Almas Mutter jetzt zu ihr hinunter, lächelte und wies mit einem Nicken auf die Ladenfront, die kaum mehr als drei Kinderwagenlängen entfernt war. »Na also. Da is’ mal ’n Laden, der nich’ zu is’, was?« Alma nickte ebenso erfreut wie beruhigt, während Michael in seinem knarrenden Kinderwagen zustimmend gegen das Trittbrett trat. Sein goldener Lockenkopf, der ihn wie Bubbles auf dem bekannten Gemälde aussehen ließ, hüpfte dabei auf und ab. Als sie sich auf der Höhe des Zeitungsladens befanden, spähte das kleine Mädchen durch die große, saubere Fensterscheibe hinein in den blendend hellen, leergeräumten Innenraum, wo offenbar gearbeitet wurde – Zimmerleute, die in den Nachtstunden Renovierungen durchführten, zweifelsohne um während der normalen Öffnungszeiten nicht den Geschäftsbetrieb zu stören. Vier oder fünf Männer hantierten dort, über Sägeböcke gebeugt, auf den blanken, neu aussehenden Holzdielen, hämmerten und hobelten unter einer schirmlosen Glühbirne, und das Mädchen bemerkte, dass ihre Füße im Staub nackt waren und sich Hobelspäne wie Butterflocken um sie herum aufhäuften. Hatten sie denn keine Angst vor Splittern? Alle trugen sie einfache weiße Kittel, die ihnen bis zu den Knöcheln reichten. Alle hatten kurzgeschnittene Fingernägel und glatte Haut, die strahlend sauber war, als kämen sie gerade von einem anständigen Sitzbad. Auf ihren feuchten Schultern klebte noch Lavendelpuder, bildete Krusten, die wie ganze Kontinente geformt waren. Sie alle wirkten ernst und stark, aber nicht unfreundlich, und den meisten hingen die Haare bis auf die Kragen der frisch gewaschenen Kittel hinunter, die Köpfe über ihre kraftvolle, kratzende Plackerei...


Moore, Alan
Alan Moore (*1953) gilt in der westlichen Welt ohne jede Einschränkung als bester und berühmtester Autor von Comicszenarien; mit Graphic Novels wie "Watchmen", "V for Vendetta" und "From Hell" erreicht er ein Millionenpublikum, mit Serien wie "Promethea" und "Lost Girls" lotet er die Grenzen der »neunten Kunst« aus. Sein eigentliches Hauptwerk hat er jedoch in einem anderen Medium geschaffen, dem des Romans. Er lebt und arbeitet zusammen mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Melinda Gebbie, in seiner lebenslangen Heimatstadt Northampton.

Alan Moore (*1953) gilt in der westlichen Welt ohne jede Einschränkung als bester und berühmtester Autor von Comicszenarien; mit Graphic Novels wie "Watchmen", "V for Vendetta" und "From Hell" erreicht er ein Millionenpublikum, mit Serien wie "Promethea" und "Lost Girls" lotet er die Grenzen der »neunten Kunst« aus. Sein eigentliches Hauptwerk hat er jedoch in einem anderen Medium geschaffen, dem des Romans. Er lebt und arbeitet zusammen mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Melinda Gebbie, in seiner lebenslangen Heimatstadt Northampton.



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