Moore Gironimo!
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95726-000-0
Verlag: Covadonga Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein Mann, ein Rad und die härteste Italien-Rundfahrt aller Zeiten
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-95726-000-0
Verlag: Covadonga Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Der Engländer Tim Moore, geboren 1964 in Chipping Norton, gilt als Großmeister der komischen Reisereportage. Bereits mehrere seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt, darunter 'Alpenpässe und Anchovis' und 'Zwei Esel auf dem Jakobsweg'
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II
Seitdem Paolos Buch eingetroffen war, hatte mich die Abbildung des Rennrads der Marke Stucchi fasziniert, auf dem der Giro 1914 gewonnen worden war. Den Diamantrahmen mit seinen dünnen Rohren lediglich als schlicht zu bezeichnen, wäre maßlos untertrieben: eine Rennmaschine ganz ohne Schaltung, mit klobigem Lenker und steinhartem Sattel, in der Werkhalle der Mailänder Firma scheinbar aufs Geratewohl aus einzelnen Teilen zusammengezimmert. Ich musste jedes Mal lächeln, wenn ich das Rad sah: unverfälscht, simpel und ehrlich, der anmutige Gegenentwurf zu den heutigen, 6.000 Euro teuren Profirädern mit ihrer reizlosen, von Strömungswiderstand, Werkstoffkunde und Biomechanik bestimmten Geometrie.
Nach einer Weile verhärtete sich dieses Lächeln zur Fratze grimmiger Entschlossenheit. Mit einem Rad wie diesem wäre ich in der Lage, Eddy Merckx und Chris Boardman und il ciclismo eroico auf gebührende Weise die Ehre zu erweisen. Der Generation Armstrong würde ich es schon zeigen: Weg mit Energy-Gels und Titan, her mit Schmalzbroten und schwerem Stahl. War es nicht sterbenslangweilig (und vermutlich auch völlig sinnlos), wenn ich Monate investierte, um für dieses Unterfangen halbwegs in Form zu kommen? Nein, stattdessen würde ich mich fortan einfach auf das konzentrieren, was Männer in meinem Alter eh am besten können: rostigen alten Plunder anhäufen.
Meine ersten Recherchen förderten gute und schlechte Nachrichten zutage: Hundert Jahre alte Rennräder waren weiter verbreitet, als ich erwartet hatte, aber auch wesentlich teurer. Bei eBay wurden für restaurierte Modelle Preise ab 1.500 Pfund aufwärts aufgerufen. Selbst für ein in irgendeinem Schuppen vor sich moderndes Schnäppchen würde ich mindestens 700 Pfund hinblättern müssen. Italiener, wie ich ebenso erfreut wie ernüchtert feststellte, pflegten eine besonders innige Beziehung zu den Rädern aus der goldenen Ära des Sports. Erfreut, weil ich mich schon auf einer Welle der Nostalgie durch malerische Bergdörfer radeln sah, und ernüchtert, weil dies wohl nicht auf einer authentischen italienischen Maschine geschehen würde. Stucchi war eine nicht mehr fabrizierte Marke, deren verbliebene Exemplare offenbar nur noch Ausstellungszwecken dienten. Das Gleiche galt für Räder von Maino, Ganna, Globo und Atala, die 1914 ebenfalls am Start gewesen waren. Das Beste, was ich auftreiben konnte, war ein Bianchi von 1913, damals Stucchis ärgster Konkurrent und die einzige Firma, die auch heute noch produziert. Doch die Pedale passten nicht zusammen, und das gute Stück sollte 3.400 Euro kosten.
Schließlich zwangen mich Ahnungslosigkeit und aufkommende Unruhe dazu, die letzte Grenze männlicher Verzweiflung zu durchbrechen: Ich bat um Hilfe. Auf meiner Suche nach zeitgenössischen Herstellern war mir eine bestimmte Website immer wieder untergekommen, ein französisches Forum für Liebhaber klassischer Räder namens »Tonton Vélo« (was so viel wie »Onkel Stahlross« heißt, aber auf Französisch vermutlich etwas weniger nach dem Spitznamen eines gesuchten Päderasten klingt). Die tontons wussten, wovon sie sprachen, waren gleichzeitig aber erfreulich entspannt bei der Sache. Für jeden fanatischen, bis zum letzten Schräubchen authentischen Nachbau gab es die Geschichte eines verbeulten alten Schrottesels, der in Nachbars Garten aufgetan, in WD-40 eingelegt und durch die Gegend gefahren wurde, bis er in der Mitte durchbrach.
Als Nation, die das Fahrrad erfunden und das erste Radrennen ausgetragen hatte und noch immer die größte dreiwöchige Landesrundfahrt der Welt veranstaltet, hätte ich von Frankreich erwartet, dass es die Relikte aus der damaligen Zeit in allerhöchsten Ehren hielt und mit den entsprechenden Preisschildern versah. Damit lag ich falsch. Wie die schiere Zahl der Berichte über Scheunenfunde vermuten ließ und die dazugehörigen Diskussionen über vergleichsweise bescheidene Summen bestätigten, gab es keinen besseren Ort auf der Welt, um ein äußerst altes Fahrrad zu erstehen. Ich meldete mich bei »Tonton Vélo« an, rief Google Translate auf und bat im Unterforum »Rennräder vor 1945« um Beistand.
Fast sofort erhielt ich eine private Mitteilung von einem Nutzer namens Roger Rivière. Das hätte mir eine Warnung sein sollen: Rivière hatte bei der Tour de France 1960 traurige Berühmtheit erlangt, als er völlig benebelt von Aufputschmitteln eine Begrenzung durchbrach, einen Abhang hinabstürzte und den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbrachte. Wie auch immer, dieser andere Roger machte mich freundlicherweise auf ein Festival für klassische Räder in Nordfrankreich aufmerksam, wo ich vielleicht fündig werden würde. Darüber hinaus schickte er mir einen Link zu einer Anzeige auf Le Bon Coin, dem größten Online-Schnäppchenmarkt seines Landes. Die Anzeige war von Max, der dort den bereits erwähnten Berg ausgedienter Teile für 400 Euro anbot.
Da er schon mit Max gesprochen hatte, hielt Roger das Angebot für einen ziemlich günstigen Deal. Zusätzlich zu einem großen Sortiment willkürlicher Einzelteile umfasste die Sammlung die vollständigen Komponenten zweier altehrwürdiger Maschinen. Eine davon war ein Rennrad aus den 1940er Jahren, das mich außer als Gratis-Dreingabe nicht weiter interessierte. Das andere aber war ein La Française-Diamant.
Nach Ansicht eines per E-Mail geschickten Fotos konnte Roger das Rad lediglich auf den ungefähren Zeitraum zwischen 1910 und 1920 datieren, aber das sollte mir reichen. Ich wusste nicht viel über den Hersteller, aber ich wusste genug: Maurice Garin, der Sieger der allerersten Auflage der Tour de France, hatte damals auf einem La Française-Diamant triumphiert.
Mein Herz machte einen Satz und drohte dann die umliegenden Organe zu erdrücken, als ich bei Google auf eine bewegende Aufnahme stieß, die Garin samt prächtigem Schnauzbart bei der Siegerparade von 1903 auf seinem geschmückten La Française-Diamant zeigte. Eigentlich hatte ich ein italienisches Rad gewollt, aber das vom ersten Tour-de-France-Sieger erwählte Ross war natürlich nicht zu toppen. Aus lauter Begeisterung buchte ich sofort eine Fähre, bevor ich nach draußen ging und den Beifahrersitz aus meinem Auto ausbaute, um Platz zu schaffen für den ganzen wunderbaren Krempel. Dafür brauchte ich vier Stunden, was für das komplexe Bauvorhaben, das vor mir lag, nichts Gutes verhieß.
Von Vorfreude und Energydrinks aus dem Supermarkt befeuert, machte ich mich auf die Reise in den hintersten Winkel der Bretagne, wo mich beim Anblick meiner Beute eine gewisse Beklemmung erfasste. Ich glaubte aus Max’ Worten heraushören zu können – seine Englischkenntnisse schienen sich mit der Begrüßungsformel erschöpft zu haben –, dass das meiste von dem Krempel aus dem Lagerraum eines örtlichen Radgeschäfts stammte, das geschlossen worden war, als der in die Jahre gekommene Betreiber in den Ruhestand ging.
Wenn es mir für einen kurzen Moment gelang, die vor mir stehende mechanische Mammutaufgabe zu vergessen, konnte ich in dem Haufen viel Zauber und Schönheit entdecken. Da war eine braune Papiertüte voller hübsch gravierter Messingklingeln. Ein schöner alter geschwungener Lenker, der aussah, als wäre er aus einem Pariser Metroschild gearbeitet. Mehrere hundert originalverpackte Speichen aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Ein bis zum Rand mit rostigen Ritzeln gefüllter Bleicheimer. Ein halbes Dutzend hölzerner Felgen, eine Kiste mit Bremszubehör und ein Schuhkarton mit Pedalteilen, eine verstaubte Ansammlung von Ledersätteln und Werkzeugtaschen … dazu die bereits erwähnten Vierkantschrauben und ein paar tausend rätselhafte Teile mehr, und eines war klar: Mir würde nun ein ziemlich großer Haufen echt uralten Radplunders gehören. Max, ein untersetzter Bursche mittleren Alter mit kleinem grauen Schnauzbart, hob die Brauen und lächelte erneut. »Il y a beaucoup«, sagte ich.
Mit meinen spärlichen Französischkenntnissen, die in etwa so eingerostet waren wie der Krempel vor mir, fragte ich Max, wo er den ganzen Ramsch herhabe und warum er ihn jetzt verkaufe. Statt einer Erklärung führte er mich durch die Garage in einen Kellerraum, in dem ein auf Hochglanz poliertes klassisches Motorrad stand.
»Ma Vélocette«, seufzte Max und deutete zärtlich auf diese Sinfonie aus glänzendem schwarzen Lack und Chrom. Ich entnahm seinen Ausführungen, dass er das La Française-Diamant zu seinem nächsten Projekt auserkoren hatte. »Mais, uh, ma femme …« Mit einem resignierten, von bastelwütigen Ehemännern auf der ganzen Welt perfektionierten Achselzucken gab Max mir zu verstehen, warum er das Vorhaben widerwillig auf Eis hatte legen müssen.
Sonderlich weit war er im Übrigen noch nicht gekommen. Eine einzige Bremszange war vernickelt worden, und er hatte den Rahmen grob mit einer weißen Grundierung lackiert. Das bot einen eher traurigen Anblick, aber immerhin hatte Max wohlweislich vorher das Steuerkopfschild mit dem La-Française-Diamant-Emblem vom Rahmen entfernt.
Dieses wurde nun wie eine Reliquie in einem winzigen Gläschen verwahrt: ein Miniaturfirmenschild mit dem Namen der Marke darauf, deren Herkunftsort – Paris – und fünf sternförmig angeordneten Diamanten. Genau das Hersteller-Emblem, das bei der ersten Austragung der Tour de France das Zielband durchtrennt hatte. Ich schaute es mit dem gleichen Entzücken an, mit dem bei Indiana Jones der eine Nazi den verlorenen Schatz geöffnet hatte, dann steckte ich es mir lieber schnell in die Tasche, bevor mein Gesicht zu schmelzen drohte.
Es war fast dunkel, als ich meinen Wagen bis unters Dach mit dem ganzen Schrott vollgepackt hatte und...




