Moore | Das Große Wenn | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 410 Seiten

Reihe: Carcosa

Moore Das Große Wenn

Long London 1
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-910914-47-6
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Long London 1

E-Book, Deutsch, 410 Seiten

Reihe: Carcosa

ISBN: 978-3-910914-47-6
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dennis Knuckleyard, achtzehn Jahre alt und Vollwaise, lebt und arbeitet in einem heruntergekommenen Buchladen. Nichtsahnend folgt er eines Tages den Anweisungen seiner kettenrauchenden Chefin und Ersatzmutter Ada, einen Stapel seltener Bücher abzuholen - unter denen sich jedoch eines befindet, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Denn obwohl es einem Roman entstammt, also fiktiv ist, hält er es wahrhaftig in den Händen. Wie sich herausstellt, kommt es aus einem anderen London, dem großen Wenn, einem Spiegelbild der Stadt, in dem Zeit und Raum zerfließen und wundersame Geschöpfe ihr Unwesen treiben. Und Dennis muss, wenn ihm sein Leben lieb ist, das geheimnisvolle Buch dorthin zurückbringen.

Alan Moore (*1953) gilt in der westlichen Welt ohne jede Einschränkung als bester und berühmtester Autor von Comicszenarien; mit Graphic Novels wie 'Watchmen', 'V for Vendetta' und 'From Hell' erreicht er ein Millionenpublikum, mit Serien wie 'Promethea' und 'Lost Girls' lotet er die Grenzen der »neunten Kunst« aus. Sein eigentliches Hauptwerk hat er jedoch in einem anderen Medium geschaffen, dem des Romans: 'Jerusalem' ist 2024 auf Deutsch bei Carcosa erschienen. Er lebt und arbeitet zusammen mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Melinda Gebbie, in seiner lebenslangen Heimatstadt Northampton.
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Die Musik zum Auftakt

Holzbläser: Draußen hinter dem Gästehaus, wo eine niedrig stehende Wintersonne turmhohes Unkraut in goldenes Licht taucht, sterben zwei Zauberer bei Tee und Keksen.

Der Ältere gleicht einem Vogel, wirkt beinahe zierlich mit seinem akkurat gestutzten Van-Dyke-Bart. Über zwanzig Kilo hat er abgenommen und einen Großteil seiner ostentativen Monstrosität abgelegt; und so sitzt er nun da, eine karierte Decke über den Knien, das Musterbild eines Zeichenlehrers im Ruhestand, vielleicht einer, der sich in seiner Jugend für einen zweiten Sargent gehalten hat. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Klapptisches mit dem Teeservice, streicht sich sein Gast eine verwehte Strähne aus der heroisch anmutenden Stirn. Sie ist beinahe fünfzehn Jahre jünger und schaut zu, wie sich der ockerfarbene Strahl in die nicht zueinanderpassenden Tassen ergießt. Seine Hände zittern sichtlich, und das, obschon er einst der Schrecken seines Zeitalters war.

Er reicht ihr die beladene Untertasse, die wie ein Milchwagen klirrt, und betrachtet sie fragend.

»Mein liebes Mädchen. Sie sind sehr krank, wie mir scheint?«

Die hohe Stimme und der singende Tonfall überraschen immer wieder aufs Neue. Ihre Augen werden schmal, ihr Blick wie stets voller Enttäuschung, wider Willen beeindruckt von den divinatorischen Fähigkeiten ihres Gastgebers. Schließlich lacht sie.

»Das ist wirklich gut! Einen Moment lang habe ich Sie für einen echten Magier gehalten. Aber natürlich wissen Sie, dass Sie buchstäblich der Letzte sind, von dem ich gefragt werden möchte, wie viel Zucker ich in den Tee nehme.«

Er senkt den Blick, betrachtete den pflichtvergessenen Rasen und lächelt entschuldigend. Sie starrt ihn noch etwas länger an, und die Stirn über ihren breiten, an eine Bulldogge gemahnenden Gesichtszügen legt sich in nachdenkliche Falten.

»Andererseits, wenn wir dieser Logik folgen … ach herrje. Sie auch?«

Hoch über ihnen zerren Stürme zerknautschte Bettlaken von dem ungemachten Himmel über Hastings. Er zuckt bedauernd die Achseln, der heruntergekommene Heilige einer wegen Regen abgesagten Apokalypse.

»Leider ja. Nichts Endgültiges, und wenn das Universum mir geneigt ist, habe ich vielleicht noch ein Jahr oder zwei. Jedenfalls sagen mir das die Karten und Münzen. Andererseits bin ich eine uralte Ruine, also sind solche Rückschläge zu erwarten. Aber was ist mit Ihnen? Sie sind noch ein Kind, kaum Mitte fünfzig. Was für eine Tragödie!«

In der Küche des Hauses bereitet der neueste und letzte Lehrling des Teufelsanbeters Sandwiches mit Ei und Kresse zu – alles außer dem Brot und der Kresse auf dem Schwarzmarkt beschafft –, und zerteilt sie sorgfältig diagonal. Draußen rümpft die Hohepriesterin die Nase, weist jedes Mitgefühl von sich.

»Mm. Oder vielleicht die Boshaftigkeit des Allmächtigen. ›Deo, non Fortuna.‹ Gott, nicht Glück. Ein netter Gedanke, wenn es einem gutgeht, aber andernfalls ein äußerst dämlicher Wahlspruch, ein äußerst dämlicher Name. Offenbar leide ich an einer unheilbaren Krankheit. Irgendetwas mit dem Knochenmark, heißt es, allerdings habe ich noch nie davon gehört. Leukämie könnte, soweit ich weiß, genauso gut eine Magd der Hera sein. Mir bleiben noch ein paar Monate, um meine Hinterlassenschaft zu ordnen, und dann werde ich herausfinden, wie viel letztlich bloße Theorie war. Hoffentlich halte ich noch bis Kriegsende durch, aber nur, wenn wir ihn gewinnen.«

Sie schmiegt sich in ihren dicken Mantel, das Kinn entschlossen vorgereckt, was ihn immer an Churchill erinnert. Er strafft die Schultern und nickt ihr aufmunternd zu.

»Ach, wir gewinnen bestimmt! Mich würde es ehrlich gesagt wundern, wenn die Deutschen die Cricket-Saison überstehen. Wirklich schade. Ich hatte so gehofft, dass das mein Zeitalter des Horus werden würde, streng und strahlend, mit lauter Sonnenrädern geschmückt, aber es soll nicht sein. Mir scheint, ich habe mich in vielerlei Hinsicht geirrt.«

Er trinkt einen Schluck und leckt sich über den gilbenden Bart. Die Frau stößt ein verächtliches Schnauben aus.

»Als eine, die einen Großteil ihrer magischen Laufbahn damit zugebracht hat, sich für das Chaos zu entschuldigen, dass Sie während Ihrer Laufbahn angerichtet haben, kann ich dem nur zustimmen.« Sie denkt einen Moment nach und fährt in etwas sanfterem Tonfall fort. »Auch wenn ich vermute, dass mein eigenes Wassermannzeitalter bald Ihrem Zeitalter auf den Friedhof folgen wird, wo alle Epochen enden. Manchmal palavern die Stimmen aus dem Äther einen entsetzlichen Haufen Unsinn, nicht wahr?«

Beide kichern über diese Ketzerei und stellen überrascht fest, wie sehr sie einander mögen, seit ihnen das ganze Theater von Licht und Finsternis nicht mehr in die Quere kommt. Unvermittelt rauscht eine Windbö durch die Taubnesseln, begleitet vom erschöpften Wiehern eines Brauereipferdes aus den umliegenden Straßen der Vorstadt. Sie kann sich der peinlichen Zuneigung nicht erwehren, die sie in diesem Moment für den zittrigen Dämonenbeschwörer empfindet, beugt sich vor und berührt ihn kurz am Arm.

»Trotz unserer Differenzen übertreffen Ihre magischen Werke immer noch alles, was ich je gelesen habe. Das wissen Sie, oder? In moralischer Hinsicht sind Sie natürlich die widerwärtigste Kreatur, die vorstellbar ist, aber was Zauberei betrifft, alter Mann, habe ich nur die größte Hochachtung vor Ihnen.«

Unerwarteterweise rührt ihn diese Äußerung zutiefst. Ihr Tee wird allmählich kalt.

»Und ich vor Ihnen, meine cara Soror. Ich habe Sie stets für die Begabteste Ihrer Generation gehalten.«

Ohne Vorwarnung stehen ihnen die Tränen in den Augen, was den beiden furchtbar peinlich ist. Die Frau rettet die Situation, indem sie den Kopf in den Nacken wirft und verächtlich seufzt.

»Dergleichen haben Sie bestimmt nie gedacht. Was ist denn mit Ihrer Unterstellung, von wegen ›Miss Firth ist bei Radclyffe Hall in die Schule gegangen‹? Und das von einem schamlosen Homo wie Ihnen. Sie sind ein wirklich grässlicher Kerl, der zufällig verdammt gut zaubern kann – auch wenn uns das herzlich wenig genützt hat. Diese ganzen prachtvollen Gewänder, und jetzt sitzen wir beide hier und sehen aus, als hätte uns die Heilsarmee eingekleidet. Ich meine, kommen Sie hier unten zurecht? Wie zahlen Sie denn Ihre Miete?«

Seine unschuldige Miene ist ein kleines komödiantisches Meisterstück.

»Mit magischen Mitteln, natürlich! Ich erhalte regelmäßige Zahlungen, weil ich den Besitzer von Netherwood mit Tabletten versorge, die seiner schwächelnden Manneskraft aufhelfen, denn sie sind mit meinen eigenen yogischen Essenzen durchtränkt.«

Sie starrt ihn an und blinzelt verwirrt, bevor ihr etwas dämmert, das sie lieber wieder vergessen hätte.

»Um Himmels willen! Sagen Sie bloß nicht, die bestehen aus zerstoßener Kreide und Ihrem Ejakulat.«

Verlegen breitet er die Arme aus. Seine Haut knittert wie Folie, seine Fingernägel sind nicht geschnitten.

»Wenn ich dazu nur in der Lage wäre, meine Liebe. Wenn ich dazu nur in der Lage wäre.«

Alles trieft vor Geschichte unter diesem heiß umkämpften Himmel, während auf dem ganzen Globus quälende Ungewissheiten ihr beharrliches Ende finden. Sie glotzt ihn mit offenem Mund an, allerdings nicht ungläubig, denn dafür kennt sie seinen schlechten Ruf zu gut. Dann kichern sie beide wieder – ein pergamentenes, leicht verstaubtes Kinderpaar. Als die Heiterkeit nachlässt, starrt der alte Zauberer mit feuchten Augen in die Leere und wird wieder ernst. Alles hat sich verändert, sogar die Reihenfolge der Zeitalter ist durcheinandergeraten. Einen Nachmittag mit genau diesem Zigarettenkartenblau wird es nie wieder geben. Nach einer Weile ergreift die Frau das Wort.

»Sie wissen, dass es in England, wenn dieses Affentheater vorbei ist, einen fürchterlichen Bruch geben wird. Ich glaube nicht, dass meine Engel eine große Hilfe waren. Die V1-Raketen rauschen einfach durch sie hindurch. Wenn wir erst dahin sind, wird in der Welt der Magie eine gewaltige Lücke entstehen. Mögen die meisten unserer Behauptungen auch bloße Trugbilder gewesen sein, wissen wir doch beide, dass manches der Realität entsprach. Die Okkultisten, die uns nachfolgen, haben mit Überzeugung von diesem Thema gesprochen, aber das Thema ist ihnen die Antwort schuldig geblieben. Diese Leute haben sich nie mit einer pulsierenden Erscheinung im selben Zimmer aufgehalten. Sie sind diesen Geschöpfen nur in Büchern begegnet.«

Wie aufs Stichwort tritt der junge Grant mit einem Teller voller Sandwiches aus der Hintertür. Seine mit Makassaröl gepflegten Haare glänzen – er sieht aus wie ein Filmstar. Das in den Ruhestand versetzte Biest mustert seine Besucherin unter von Raureif bedeckten Brauen hervor mit undurchdringlicher Miene.

»Erinnern Sie sich noch an diese grässliche Katze?«

Sie versteift sich auf ihrem Stuhl und sieht ihn vorwurfsvoll an. Obwohl sie sich alle Mühe gibt, es zu verbergen, entgeht ihm nicht, dass sie unwillkürlich erschaudert.

»Natürlich. Moina Mathers hat sie auf mich losgelassen. Sie war bei mir im Haus! Etwas so Entsetzliches ist mir in meinem ganzen Leben nicht passiert.«

Der dienstbeflissene Schüler kommt mit den Sandwiches über den struppigen Rasen. Die Frau senkt die Stimme und stellt ihrem moralischen Gegenpol, ihrem einzigen überlebenden Standesgenossen, eine letzte Frage.

»Tatsächlich ist das andere London ein Paradebeispiel. Das haben wir uns...


Moore, Alan
Alan Moore (*1953) gilt in der westlichen Welt ohne jede Einschränkung als bester und berühmtester Autor von Comicszenarien; mit Graphic Novels wie "Watchmen", "V for Vendetta" und "From Hell" erreicht er ein Millionenpublikum, mit Serien wie "Promethea" und "Lost Girls" lotet er die Grenzen der »neunten Kunst« aus. Sein eigentliches Hauptwerk ist jedoch der Riesenroman "Jerusalem". Er lebt und arbeitet zusammen mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Melinda Gebbie, in seiner lebenslangen Heimatstadt Northampton.

Alan Moore (*1953) gilt in der westlichen Welt ohne jede Einschränkung als bester und berühmtester Autor von Comicszenarien; mit Graphic Novels wie "Watchmen", "V for Vendetta" und "From Hell" erreicht er ein Millionenpublikum, mit Serien wie "Promethea" und "Lost Girls" lotet er die Grenzen der »neunten Kunst« aus. Sein eigentliches Hauptwerk ist jedoch der Riesenroman "Jerusalem". Er lebt und arbeitet zusammen mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Melinda Gebbie, in seiner lebenslangen Heimatstadt Northampton.



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