E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Montes Sag kein Wort
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-16083-8
Verlag: Limes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-16083-8
Verlag: Limes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Téo Avelar ist Einzelgänger. Er hat nur wenige Freunde, und am wohlsten fühlt er sich im Seziersaal. Echte menschliche Gefühle bringt er nur für sein dortiges Studienobjekt auf - bis er Clarice begegnet. Téo ist davon überzeugt: Sie ist die Frau seines Lebens. Er beginnt, sie zu verfolgen, macht ihr Geschenke, ist geradezu besessen von ihr. Als Clarice ihn abblitzen lässt, greift Téo zu extremen Mitteln, um ihre Zuneigung zu gewinnen: Er entführt sie, hält sie gefangen. Nichts und niemand soll seinem glücklichen Leben mit Clarice in die Quere kommen ...
Raphael Montes, geboren 1990 in Rio de Janeiro, ist Jurist und Autor. Er schrieb Short Storys für verschiedene Krimianthologien und Magazine. Sein Debütroman wurde u.a. für den São Paulo Literaturpreis nominiert, und in seiner Heimat wird Raphael Montes als 'Stephen King Brasiliens' gefeiert. Mit seinem zweiten Spannungsroman sorgt Montes auch international für Furore. Sag kein Wort erscheint in siebzehn Ländern.
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2
Téo wachte schlecht gelaunt auf und ging in die Küche, um seiner Mutter einen Kaffee zu kochen. Die Spüle war so hoch, dass Patrícia vom Rollstuhl aus den Geschirrständer nicht erreichen konnte, ohne sich auf die Fußleisten zu stemmen und sich danach zu strecken. Und das war demütigend.
Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, fegte Téo das Wohnzimmer und spülte das Geschirr vom Vortag. Er wechselte die Zeitung, auf der Sansão lag, und füllte den Fressnapf. Wie immer stellte er seiner Mutter den Kaffee ans Bett und weckte sie mit einem Kuss auf die Stirn, denn das war schließlich, was von einem liebevollen Sohn erwartet wurde.
Um neun kam Patrícia aus ihrem Zimmer. Sie trug ein schlichtes Kleid und Leinensandalen. Wie seine Mutter sich anzog, hatte Téo nie gesehen, aber er konnte sich vorstellen, wie mühselig es für sie sein musste. Einmal hatte er angeboten, ihr in die neue Jeans zu helfen, aber sie hatte das vehement abgelehnt. »Das ist das Einzige, was mir noch bleibt.« Eine halbe Stunde später war sie fertig gewesen. Die Jeans hatte im Mülleimer im Bad gelegen.
»Ich gehe mit Marli auf den Markt und nehme Sansão mit«, sagte sie, während sie sich vor dem Spiegel auf dem Couchtisch einen Ohrring ansteckte.
Téo grunzte zustimmend, ohne den Blick von der Verfolgungsjagd abzuwenden, die sich Tom und Jerry gerade im Fernsehen lieferten.
»Sehe ich gut aus?«
Sie hatte sich geschminkt.
»Hast du auf dem Markt einen heimlichen Verehrer? Jetzt sag schon, Dona Patrícia, mir brauchst du nichts zu verheimlichen.«
»Bisher noch nicht. Aber man weiß ja nie … Ich bin ein Krüppel, aber nicht tot.«
Téo hasste das Wort Krüppel. Patrícia versuchte damit, ihren Zustand mit Humor zu nehmen. Es war traurig, das verstand er. Seit dem Unfall mieden sie das Thema. Den Rollstuhl hatten sie ganz selbstverständlich in ihren Alltag integriert, und eigentlich sah Téo auch keinen Grund, warum sie darüber reden sollten.
Patrícia kam mit Sansão an der Leine aus der Küche. Der Golden Retriever wedelte munter mit dem Schwanz. Er war vor neun Jahren zu ihnen gekommen, als sie noch in der Penthousewohnung in Copacabana gelebt hatten. Mittlerweile störte er, wenn er in der kleinen Zweizimmerwohnung umherwanderte. Téo hätte ihn am liebsten ins Tierheim gebracht. Sansão hatte ein hübsches Fell und war ein Rassehund, er würde dort schnell einen neuen Besitzer finden. Aber das hatte er seiner Mutter nie gesagt, weil er wusste, dass sie den Hund liebte wie ein Kind. Obwohl der Vorschlag, den Hund loszuwerden, vernünftig gewesen wäre, würde sie so etwas rundheraus ablehnen.
Es klingelte, und Patrícia war noch vor ihm an der Tür.
»Marli, meine Liebe!«
Marli war Patrícias Nachbarin und beste Freundin und hatte eine Vorliebe für Esoterik. Außerdem war sie überzeugte Junggesellin – und ziemlich dumm. Hin und wieder kümmerte sie sich um Patrícia, half ihr beim Duschen oder beim Gassigehen. Mittwochs spielten sie Karten. Téo wusste nicht, für wen von beiden diese Freundschaft wichtiger war, und amüsierte sich, wenn Marli seiner Mutter die Karten legte – meist handelte es sich dabei um Vorhersagen ohne den geringsten Bezug zur Wirklichkeit. Ein einziges Mal hatte er Marli erlaubt, seine Zukunft vorherzusagen.
»Du wirst sehr reich und sehr glücklich werden«, hatte sie ihm prophezeit. »Und du wirst ein hübsches Mädchen heiraten.«
Er hatte ihr kein Wort geglaubt. Es war nicht sonderlich wahrscheinlich, dass er je glücklich werden würde. Er fühlte sich, als wäre er zu einer Art Vorhölle verdammt, die aus eintönigen Routinen ganz ohne glückliche oder traurige Momente bestand. Sein Leben war eine mit bloß zaghaften Empfindungen gefüllte Leere, aber das war auch gut so und sollte so bleiben.
»Wir sind in einer Stunde wieder zurück«, rief Patrícia. »Denk dran, dass wir heute Nachmittag zum Grillen eingeladen sind.«
»Bei wem?«
»Bei Éricas Tochter. Sie hat Geburtstag.«
»Ich will dort nicht hin, Mutter. Ich kenne das Mädchen doch kaum.«
»Es kommen Leute in deinem Alter.«
»Ich bin Vegetarier, Mutter.«
»Meine Freunde fragen schon nach dir. Und bestimmt gibt es Knoblauchbrot.«
Manchmal fühlte Téo sich wie eine Trophäe, die seine Mutter herumzeigte. Das war ihre Art, ihre eigenen Schwächen zu überspielen – die körperlichen ebenso wie die geistigen.
»Und das war keine Bitte, Sohn. Du kommst mit.«
Dann knallte Patrícia die Tür hinter sich zu. Endlich war es still in der Wohnung, bis auf die gedämpfte Musik des Zeichentrickfilms.
Es gab natürlich kein Knoblauchbrot. Vom Fleisch auf dem Grill triefte Blut und Fett in die Glut. Junge Leute tanzten zu ohrenbetäubendem Funk. Patrícia war von Freunden umringt und amüsierte sich sichtlich. Téo kannte diese Leute kaum und ärgerte sich darüber, nicht zu Hause bei Tom und Jerry geblieben zu sein.
Zwischen den Wodkaflaschen, die im Kühlschrank lagen, angelte er sich eine Wasserflasche heraus. Er hatte mit seiner Mutter ausgemacht, dass er nicht lange bleiben würde. Er würde mit dem Taxi nach Hause fahren, und Patrícia sollte später von irgendeiner Freundin heimgebracht werden. Obwohl er sich fehl am Platz fühlte, gefiel ihm der Ort. Das Anwesen war in den Fels hineingebaut worden und bestand aus mehreren weitläufigen Terrassen, die inmitten der wilden Vegetation entlang der Klippe lagen und durch Steintreppen miteinander verbunden waren. Das Wohnhaus stand ganz oben auf der Klippe. Wenn man die Treppe hinunterging, kam man zu einer Art Bungalow mit Swimmingpool, Grillplatz und im Boden verankerten Holztischen. Dort fand auch das Fest statt. Auf gewundenen Pfaden gelangte man schließlich in einen sorgsam gepflegten, farbenprächtigen Garten, der nahtlos in den Wald übergegangen wäre, hätte dort nicht ein weißer Zaun gestanden.
»Bist du vor der Musik abgehauen oder vor den Leuten?«, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm. Sie klang heiser und angetrunken.
Téo drehte sich um. Die Frau war jung, wahrscheinlich jünger als er, und sehr klein, höchstens einen Meter fünfzig. Ihr Blick schweifte achtlos über die Blumenpracht.
»Vor der Musik«, sagte er.
Für einen Moment herrschte Schweigen.
Das Mädchen war gut gekleidet. Sie trug eine mit bunten Rauten bedruckte Bluse und einen schwarzen Rock. Hübsch war sie nicht, allenfalls hatte sie eine gewisse exotische Schönheit. Ihr hellbraunes Haar war zu einem nachlässigen Knoten geschlungen, und ein paar Strähnen klebten an ihrer verschwitzten Stirn.
»Hast du getanzt?«, fragte Téo.
»Ja, aber jetzt hab ich keine Lust mehr.«
Als sie lächelte, sah er, dass ihre oberen Schneidezähne schief standen. Das fand er charmant.
»Wie heißt du?«
»Téo. Eigentlich Teodoro. Und du?«
»Clarice.«
»Hübscher Name.«
»Komm mir jetzt bloß nicht mit Clarice Lispector! Ich hab nie etwas von ihr gelesen. Aber diese Frau verfolgt mich.«
Die spontane Art des Mädchens amüsierte ihn, trotzdem blieb er ernst. Ungezwungene Frauen machten ihn immer ein bisschen nervös. Er fühlte sich ihnen unterlegen, und sie waren für ihn praktisch unerreichbar.
Clarice kam ein wenig näher, stellte den Teller mit Würstchen und Hühnerherzen, den sie in der Hand gehalten hatte, auf einem Holzbalken ab, biss in eines der Herzen und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Am Halsausschnitt ihrer Bluse konnte Téo eine bunte Tätowierung sehen, aber er konnte nicht erkennen, was sie darstellte.
»Isst du denn gar nichts?«
»Ich bin Vegetarier.«
»Und du trinkst auch nichts? Ist das etwa Wasser?«
»Ich trinke wenig. Ich vertrage nicht viel Alkohol.«
»Na gut«, sagte sie, »wenigstens trinkst du. Es heißt, Leute, die nicht trinken, sind gefährlich … Das bedeutet dann ja wohl, dass du ungefährlich bist.«
Téo hatte das Gefühl, als müsste er über diese Bemerkung lachen, also lachte er.
Clarice nahm sich zwei weitere Herzen vom Teller.
»Und du? Was trinkst du?«, fragte er.
»Das ist Gummy. Irgend so ein ekliger Mix aus Wodka und Zitronenlimo. Schmeckt wie Kloreiniger.«
»Woher weißt du denn, wie Kloreiniger schmeckt?«
»Manche Sachen muss ich nicht probieren, um zu wissen, wie sie schmecken«, sagte sie im Brustton der Überzeugung, als würde dieser Satz keiner weiteren Erläuterung bedürfen.
Sie machte Téo befangen. Gleichzeitig trieb ihn irgendetwas an, das Gespräch fortzuführen. Er senkte den Blick und sah auf ihre weißen Beine hinab, auf die kleinen Ballerinazehen, die in rote Riemchensandalen eingezwängt waren. Die Zehennägel hatte sie sich in verschiedenen Farben lackiert.
»Warum hast du deine Nägel so lackiert?«
»Meine Fingernägel sehen genauso aus.«
Sie hielt sie ihm hin. Ihre Finger waren lang und schmal, die zartesten Hände, die er jemals gesehen hatte. Die kurz geschnittenen Nägel waren bunt lackiert.
»Stimmt. Und warum?«
»Um anders zu sein als die anderen«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen und hob den rechten Zeigefinger an den Mund.
Mit einer gewissen Genugtuung stellte Téo fest, dass er richtig vermutet hatte: Clarice knabberte an der Nagelhaut. Deshalb waren ihre Schneidezähne schief und standen ein wenig vor. Obwohl er nie ein Seminar in Zahnmedizin belegt hatte, wusste er genug über das Thema. Mit...