Monroe Das verletzte Gesicht
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95576-242-1
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-95576-242-1
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Charlotte Godfreys Schönheit hat ihr eine große Karriere in Hollywood ermöglicht. Doch hinter ihrem perfekten Gesicht verbirgt sich ein Geheimnis, das sie um jeden Preis wahren will. Bis der Mann, den sie liebt, sie verrät ...
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2. KAPITEL
Charlotte schloss, müde nach einer fünfstündigen Kostümprobe von , die Tür der Vierzimmerwohnung auf, die sie sich mit ihrer Mutter teilte. Um den Türgriff war die Farbe abgeblättert, und die einzige Lampe im Flur warf nur Dämmerlicht. Ein Heim für Scrooge, dachte sie mit unterdrücktem Lachen. Was für ein hektischer Tag. Ihre Stimme war rau vom Rufen, wenn sie dem gehetzten Regisseur antworten und Schauspielern Stichworte geben musste, die unfähig zu sein schienen, sich eine einzige Dialogzeile zu merken. Sie verstand nicht, wie man so nachlässig sein konnte. Sie kannte den gesamten Text. Ihr Gedächtnis war tadellos, und alle verließen sich auf die Hilfe der guten alten Charlotte, wenn sie stecken blieben. Vielleicht lag darin das Problem. Als Bühnenmanagerin musste sie es allen leicht machen – und darin war sie sehr gut.
Nicht dass sie hoffen konnte, selbst einmal eine Rolle zu übernehmen, obwohl sie das gern getan hätte. Sie würde hinter der Bühne bleiben müssen. Sie hatte ihr Schicksal und damit ihre Entstellung vor Jahren schon akzeptiert. Theater war jedoch ihr Leben, wenn auch nur als Teilzeit-Bühnenmanager der örtlichen Theatertruppe.
Ihr oblag es, sich um alles zu kümmern, was sonst niemand machen wollte. Eine lohnende Aufgabe für einen detailverliebten Menschen wie sie. Sie sorgte für Ordnung in den Garderoben und bei den Drehbüchern, sprang bei Proben ein, wenn ein Schauspieler fehlte, und machte allgemein gut Wetter, damit alle glücklich waren. Es machte ihr nichts aus, im Hintergrund zu bleiben. Bei ihrem Aussehen war das nicht anders möglich. Ihren größten geheimen Triumph feierte sie bei der aktuellen Inszenierung, als sie hinter der Bühne stehend, das Gesicht in die Scheinwerfer gereckt, den Text mit all dem Einfühlungsvermögen gesprochen hatte, das den Schauspielern fehlte.
„Mama, ich bin zu Hause!“ rief sie und ließ den Mantel auf die Bank bei der Tür fallen. Sie ging in ihr Zimmer, schloss die Tür und schaltete Musik ein, um ein paar Minuten allein zu entspannen, ohne dass jemand nach ihr rief. Nachdem sie sich ausgezogen hatte, fiel sie aufs Bett, genoss die kuschelige Wärme und wollte dort bleiben bis morgen, Sonntag, zur Frühmesse.
„Charlotte, du kommst spät!“ rief Helena, als sie eintrat. Die große, breitschultrige Polin, deren Rücken vom jahrelangen Putzen in fremden Häusern bereits leicht krumm war, sackte noch ein wenig mehr zusammen vor Erleichterung, weil ihr einziges Kind sicher heimgekehrt war. Mit siebenundvierzig war Helena Godowskis Gesicht so blass, durchscheinend und von Linien durchzogen wie altes Porzellan. Allerdings war sie stark genug, einen großen Porzellanschrank zu heben. Und ihre Körperkräfte verblassten noch im Vergleich zu ihrem eisernen Willen.
„Ich weiß, ich weiß. Tut mir Leid.“ Charlotte beeilte sich, ihre Mutter zu beschwichtigen. „Die Proben heute waren verrückt, und ich musste bleiben, bis alle den Text konnten. Vor einer Premiere ist das immer so.“ Sie fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und schüttelte es aus. „Ich bin erledigt. Ich glaube, ich gehe früh zu Bett.“
„Zu Bett? Unmöglich!“ Helena hob den blau-rosa Plastikbehälter, den sie unter dem Arm trug. „Heute Abend ist eine schöne Party!“ Ihre Augen strahlten. „Ich habe mein Make-up geholt. Wir werden etwas Schönes ausprobieren.“
„O nein!“ stöhnte Charlotte und kniff entsetzt die Augen zusammen. Ihr Magen rebellierte, und sie hatte keinen Appetit mehr. „Die Büroparty. Die hatte ich total vergessen. Mom, ich bleibe lieber zu Hause. Heute läuft im Fernsehen, die alte Verfilmung mit Alastair Sim. Die beste. Und ich bin so müde.“
„Filme!“ grummelte Helena. „Immer nur Filme und Theaterstücke. Du bist nur Zuschauer, Tag und Nacht. Nie gehst du aus. Nur in dieses alberne Theater, das dir nicht genug bezahlt für das Fahrgeld. Das ist nicht gut für dich. Du musst leben in richtiger Welt. Du kannst dich nicht immer verstecken in deine Zimmer. So findest du nie eine Mann.“ Helena beugte sich herab, hob Charlottes Sachen auf, faltete sie und stapelte sie ordentlich auf dem Bett.
„Ach Mama, ich finde auch auf der Weihnachtsparty vom Büro keinen Mann. Da findet man höchstens Betrunkene.“ Schaudernd rieb sie sich die Arme bei der Aussicht auf eine weitere endlose Party mit spitzen Bemerkungen. „Also gut, ich gehe“, gab sie nach, als sie Helenas Enttäuschung bemerkte. „Aber nur, weil Mr. Kopp ein Memo geschickt hat, das uns alle zur Anwesenheit verpflichtet.“
„Dein Boss wird nicht zulassen, dass Party wird zu wild. Du wirst dich amüsieren. Mach dir keine Sorgen.“
Gerade ihr Boss, Lou Kopp mit den „flinken Händen“, war bei allen Frauen Anlass zur Sorge. „Ich versuche mich zu amüsieren“, versprach sie resigniert. „Falls ich etwas zum Anziehen finde.“ Sie suchte im Schrank, der voll gestopft war mit alten Schuhen, abgetragenen Kostümen und einer Sammlung staubiger Hüte. Ihre Mutter warf nie etwas weg. In allem steckte noch ein wenig Leben.
war das Lebensmotto für Charlotte und ihre Mutter. Ihre Wohnung war klein und ohne jeden Charme. Aber sie lag bequem an einer Buslinie, und die Miete war gering. Also begnügte man sich damit.
Wenn die Wohnung auch nicht schön war, so war sie doch zumindest sauber. Das alte Linoleum glänzte, und der schlichte braune Teppichboden war makellos. Auch Charlottes alte Röcke waren tadellos, und an ihren Blusen fehlte nie ein Knopf. Das blassgrüne Resopal in der Küche war hässlich, aber strahlend wie Charlottes polierte Schuhe. Und jeder, der den schmalen Flur an der Harlem Avenue betrat, hob den Kopf und schnupperte mit geschlossenen Augen nach den delikaten Düften, die aus Apartment 2B kamen.
„Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Party. Du lernst vielleicht jemand kennen“, sagte Helena zufrieden lächelnd. „Ich habe dafür gebetet.“
Charlotte verdrehte die Augen und wandte ihr den Rücken zu, um in ein altes rotes Wollkleid zu steigen.
„Eine Frau braucht eine Mann, der auf sie aufpasst“, setzte ihre Mutter eifrig ihren Monolog fort. „Und sie muss für ihn und sein Heim sorgen. Und für seine Kinder. Die Ehe ist ein heiliger Stand, ein Sakrament. Ja, dafür bete ich.“ Ihre Stimme bebte vor Rührung. „Ich möchte nicht, dass du allein und unglücklich bist.“
Charlotte verharrte und hielt den Kleiderbügel fester. Im Spiegel sah sie sich, wie ihre Mutter sie nicht sehen wollte: eine dünne Zwanzigjährige, eine Hinterzimmerbuchhalterin, dazu verdammt, bis an ihr Lebensende mit ihrer Mutter in einer schäbigen Wohnung zu leben.
„Mom.“ Charlotte legte ihrer Mutter einen Arm um die Schultern. Sie wollte Trost spenden, obwohl sie ihn eigentlich selbst brauchte. „Mach dir um mich keine Gedanken. Ich kann für mich sorgen – und für dich. Wir werden nicht allein sein. Ich liebe dich.“ Sie küsste ihrer Mutter die eingefallenen Wangen.
Helena straffte sich, tätschelte ihr den Arm und schob sie sacht von sich. „Zieh dich besser an. Hübsch, ja?“
Charlotte wich rasch zurück. „Hübsch …“, wiederholte sie, gekränkt von dem Wort. Sie zog das Kleid über den Kopf und stöhnte, als die enge Taille ihr die Brüste quetschte. Entweder war das Kleid eingelaufen, oder ihr Busen war üppiger geworden, denn der Stoff presste ihn zusammen.
„Das kannst du nicht tragen zu Party!“ entschied ihre Mutter missbilligend.
„Scheint ein bisschen eng zu sein, ich weiß …“ Charlotte versuchte den Stoff über der Brust zu weiten.
„Ein bisschen? Ich kann sehen deine … du weißt schon.“
„Was?“ Charlotte drehte sich um und betrachtete sich im großen Spiegel. Das Kleid umschloss ihren großen schlanken Körper wie eine zweite Haut und hob ihre vollen Brüste üppig hervor.
Ihre Mutter zeigte errötend auf sie. „Da, die Spitzen. Sie stehen vor – wie Kleiderhaken!“
Charlotte lief rot an. Ihre Brustspitzen malten sich tatsächlich deutlich durch den Stoff ab. Sie zog die Schultern ein, doch das half nichts. Ihre Brüste ließen sich nicht verbergen. Charlotte seufzte. Warum musste sie so üppig ausgestattet sein? Der Busen war voll und die Taille schmal, eigentlich eine Traumfigur, um die sie von vielen beneidet wurde.
„Zieh was anderes an.“
„Ich habe nichts anderes, außer meinem Kirchenkleid. Und das alte braune Ding werde ich nicht zu einer fröhlichen Party tragen. Ich gehe nicht hin.“
„Du gehst. Eine Jacke vielleicht, um dich zu bedecken. Es ist Sünde zu provozieren.“
Provozieren war das Letzte, was sie wollte. Sobald sie eine schwarze Jacke über das anstößige Kleid gezogen hatte, entspannte sich ihre Mutter sichtlich und nickte zufrieden.
„Das geht. Du kannst gut Jacke tragen wie dein Vater.“
„Ich hoffe, er hatte nicht solche Brüste“, murmelte sie.
„Sprich nicht so von deinem Vater. Er war ein feiner Mann, ein feiner Mann“, wiederholte sie und strich sich den Pullover glatt wie gesträubtes Gefieder. „Er stammt aus einer vornehmen Familie in Warschau. Was für ein großes Haus sie hatten! Und Diener. Und seine Mutter, was für eine Lady. Diese Frau musste nie einen Finger rühren.“
Charlotte wandte sich ab und schlüpfte aus der Jacke. Sie passte nicht zum Kleid, aber wie immer würde sie sich damit begnügen. Sie hatte sonst nichts. Sie waren arm und waren es immer gewesen. Was hatte es für einen Wert, einer Familie zu entstammen, die mal reich gewesen war? Es war nur ein...