Monioudis | Land | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Monioudis Land

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-423-43085-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Odyssee
Eine Recherche nach den Wurzeln der eigenen Familiengeschichte
Ein junger Mann macht sich auf den Weg, um seinen Vorfahren nachzuspüren. Als Zuckerbäcker waren sie von Griechenland nach Alexandria aufgebrochen und haben dort eine berühmte Konditorei geführt. Als sie Ägypten fluchtartig verlassen mussten, kam die Familie in die Schweiz. Die Hinterlassenschaft des einst stolzen Backhauses ist ein legendäres Rezeptbuch, von dem nicht genau bekannt ist, wo es sich befindet. Seine Odyssee führt den Erzähler durch viele Hafenstädte des Mittelmeerraums.
Monioudis Land jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1
Nach dem Abendessen ging er nun, die Brise im Rücken, die Straße hinunter und erreichte einen ausgedehnten, mit Flutern erhellten Platz. Nur kurz versuchte er, sich den Stadtplan von Alexandria zu vergegenwärtigen, den er im Hotel, auf dem Nachttisch, liegengelassen hatte. Er schmeckte das Salz in der Brise. Der Reisende atmete auf, als ob er erst in diesem Augenblick am anderen, südlichen Rand des Mittelmeers angelangt wäre. Als er sich umdrehte, stieß er gegen die hölzerne Bank. Einige Dutzend Sitzreihen waren vor der Bühne aufgestellt. Er betrachtete die alten Menschen, die vielen Familien und Gruppen junger Männer. Sie mußten, neugierig, wie sie sich umsahen, von den Dörfern im Nildelta angereist sein. Die bunten Beleuchtungen, Glühbirnen, an den Seiten des Platzes die Stände, an denen Erdnüsse geröstet und Maiskolben gebraten wurden. Er kaufte eine Handvoll Pistazien. Von hier also kam die Musik, die er schon von weitem, Straßen entfernt, gehört hatte: vom Band, aus aufgestapelten Lautsprecherboxen, schwarze, mannshohe Türme, links und rechts der Bühne mit Seilen an den ausgewachsenen Gummibäumen und Palmen festgemacht. Wie auf einen Befehl hin füllten sich die Reihen. Die Menschen blinzelten, sie hielten die Hand vor die Stirn, die Scheinwerfer waren zum guten Teil auf sie und auf die Stände gerichtet, wo sich die Ansammlungen nun aufgelöst hatten. Sie bewegten die Lippen zum Text, schlossen die Augen, mit den Fingern schlugen sie den schleppenden Rhythmus, auf das Knie, mit der Sohle auf den gewalzten Sand. Er mochte diese Musik. Er merkte, daß er sie vermißt hatte, nicht sehnsüchtig, eher erfüllte sich dabei eine lange währende Vorfreude. Von der Sängerin mit dem kratzigen Alt besaß sein Vater mehrere Kassetten, blau und rot arabisch beschriftet. Mit zwölf hatte der Junge eine nach der anderen abgespielt. Daß ihn diese Musik zum Tanzen gebracht, ihn übermütig die Hüften kreisen und die Arme in die Luft hatte werfen lassen, verwunderte ihn heute. War sie ihm näher als die Schullieder deutscher Sprache gewesen, näher als die Schlager im Fernsehen, vorgetragen von Einheimischen, von Menschen, die ihm nur außerhalb des Elternhauses begegneten? Er öffnete eine Pistazie und warf sie, wie er es hier beobachtet hatte, aus dem Handgelenk in den Mund. Die Hülsen steckte er in die Hosentasche, die er, als sie sich zu füllen begann, neben einer Palme ausschüttelte. Die Pistazien schmeckten. Er sollte vielleicht ein Pfund auf Vorrat kaufen – doch wann würde er hier die Möglichkeit haben, Kadaifi oder Baklava zuzubereiten? Er versicherte sich der Brieftasche im Jackett, kam sich gleich kindisch vor, man hatte es nicht auf seine Brieftasche abgesehen. Woher diese Befürchtung, fragte er sich. Er machte ein paar Schritte und setzte sich ans Ende einer Bank, neben eine Familie; hier, im Orient, wo auch er in der Lage war, für sich Unterscheidungen zu treffen und sich in diesen eingebildeten oder tatsächlichen Unterscheidungen als das zu sehen, was er nicht war: ein auf Anhieb Eindeutiger. Der Mann mit dem Samowar auf dem Rücken bot ihm das leere Glas an, ließ sich nicht abweisen. Der bittere schwarze Tee war noch warm. Der Reisende gab das leere Glas zurück, kramte Augenblicke später schon wieder in der Innentasche des Jacketts, nach einem Schein für das Ticket, das ihm ein Alter in einem verschlissenen braunen Anzug in die Hand drückte. Er konnte den Schriftzug auf dem Papierstreifen mit Mühe lesen, kam sich dabei erneut wie ein Ungebildeter vor. Er erinnerte sich an den Moment, da er, mit zwölf oder etwas älter, verstanden hatte, daß er nicht alles über die Welt wissen konnte. Der Junge lag auf dem Bett, dachte nach, blickte in sich, flößte sich selbst eine kindliche, scheinbar grenzenlose Kraft ein, die immer wieder einen Größenwahn, einen doch höchst eigenen Wahn, eine Art phantastischer Ekstase hervorbrachte: den Kapitän auf den Weltmeeren verlangte es nach Betätigung, den einsamen Beduinen nach Beanspruchung, den großen Erfinder nach Herumgehen, Reisen. Der Wahn endete öfter unter dem Bett, wo der Junge sich jahrelang mit Vorliebe ausgestreckt hatte, oder dann gleich auf dem Bett, das französisch gemacht war, mit weißem Laken, einem weiteren Laken und der dünnen, blauen Schlafdecke. Nachts kam die Daunendecke drauf, tagsüber, während sie neben dem Daunenkissen im Bettschrank am Kopfende verstaut war, der weinrote Überwurf. Da lag er und starrte mit innerem Blick an die Zimmerdecke. Das Bett war gemacht wie in einer Schiffskabine. Der Junge verbrachte Stunden auf dem Bett und jagte sich selbst namenlose Angst ein. Er fürchtete sich davor, zu sterben oder daß seine Mutter, eines seiner Geschwister, sein Vater sterben würde. Er hätte wohl sein Leben hingegeben, um Unheil von ihnen abzuwenden. Der Tod, vielleicht auch nur dessen Schatten, beschäftigte ihn maßlos. Besessen aber war er von der zu entdeckenden Welt. Ihre Kehrseite, die schon entdeckte Welt, begriff er als Tod, als letzte Einsamkeit. Die Stadt ging dem Jungen nicht aus dem Kopf. Früher oder später würde er in die Stadt, nach Zürich, ziehen, vielleicht in eine noch größere, in eine viel größere Stadt, nach Chicago, nach London oder Berlin. In Zürich fuhren Straßenbahnen, die Stadt war beleuchtet, er sah dort Kaufhäuser und Gesichter, die er noch nie zuvor gesehen hatte. In der kleinen Kantonshauptstadt war ihm nichts und niemand fremd; alle, die er kannte, kannten ihn. Die kleine Stadt, sosehr er sie liebte, sosehr er den Jahreszeiten mit ihren Veränderungen und, zu Sankt Nikolaus, zu Weihnachten, zu Ostern, den Ritualen anhing, so sehr wünschte er sich in die große Stadt, wo er die Zimmerdecke gegen die vielen Straßen und Plätze würde eintauschen können, die Berge gegen die Straßenzüge. In einer Umgebung, die nur das von ihm wußte, was er selbst von sich zeigte, würde er in Bedrängnis geraten, das ahnte er schon damals. Unterschiedslos würde man ihn zu Selbstbezichtigungen des Fremden drängen, bis er seine fremde Herkunft haßte. Er beglückwünschte sich, hier, am Mittelmeer, zum großen Erfolg, mit dem er als Jugendlicher den einheimischen Habitus nachgeahmt hatte. Er kaute Pistazien, schaute sich um. Er fragte sich, was es mit jener kindlichen Ahnung auf sich gehabt hatte, der ekstatischen Phantasie, die er längst nicht mehr herbeisehnte, dem Kapitän, den Beduinen, dem großen Erfinder. Vom Scheinwerferlicht geblendet, überlegte er, ob diese Ahnung so etwas wie ein Instinkt sein konnte, der immer genauer befolgte Instinkt, mit dem er sich Menschen zu- oder abwandte. Die Bühne war groß genug für ein Blasorchester, dachte er, vielleicht wurde sie dafür gebaut. Als Kind hatte ihm sein Vater immer wieder die Lebensgeschichte des Big-Band-Leaders Glenn Miller erzählt. Sie fing an mit den Erfolgen während des Krieges und endete, unweigerlich, mit der Schlacht in El-Alamein und der kleinen Musikkapelle, einer Band, mit der sein Vater in Alexandriner Nachtklubs gespielt hatte, in seiner Freizeit an Hochzeiten, Trompete und Kontrabaß. Der Junge verstand nur, daß die Gattin zu Hause auf Miller gewartet hatte, während die US-amerikanischen Truppen in Übersee waren – hier. Auf jener Schallplatte mit der roten Hülle lächelte Miller im nachtblauen Anzug, eine Posaune im Arm. Das Bild war ihm im Gedächtnis haftengeblieben, er hätte gern gewußt, weshalb. Eine andere Geschichte, die sein Vater gern erzählte, handelte von jener ägyptischen Sängerin, die in den siebziger Jahren starb. Umm Kalsum war ein kratziger, sonorer Alt, eine Stimme wie aus dem Märchen oder doch aus dem, was der Junge dafür hielt. Wenn Umm Kalsum im Radio sang, ließen die Menschen alles stehen und liegen, versammelten sich vor den Apparaten, die sie auch vor die Fenster banden. Der Verkehr kam zum Erliegen, falls die Autos nicht schon vor dem Friseur, auf Plätzen, bei den Märkten verlassen worden waren, ihre Fahrer nicht längst im Kaffeehaus der Stimme harrten, die jetzt, nach der Ouvertüre – nervöse Streicher, schlichte Tamburine, Schellen – anhob und ein tausendfaches Echo hervorrief: Ya-habibi; Auftakt und Begrüßung zugleich: Ach, mein Freund. Umm Kalsums weinerlicher, so mütterlicher wie lockender Gesang dauerte eine halbe Stunde, versetzte die Männer in ein stummes Hochgefühl, entrückte sie in den Tarab. Weit davon entfernt, eine geistige Führerin zu sein, war sie Ursprung und Erfüllung jeder flehentlichen Sehnsucht, begleitet im orientalischen Takt von Schalmeien und Celli, von den Zwischenrufen der Tonleute und Studioangestellten. Auf der Bühne, beim Mikrophonständer, tat sich noch immer nichts. Er hörte Umm Kalsums Stimme und sah, wie die Menschen in sich gekehrt, die meisten mit geschlossenen Augen, in den Reihen saßen. Daß Umm Kalsum auftreten würde, war unmöglich, dennoch schienen sie mit dieser Erwartung gekommen zu sein, in der Hoffnung, jemanden zu hören und zu sehen, der die Stille, die nun eintrat, für die Dauer eines Menschenlebens aufheben konnte: Ya-habibi. Das war keine Aufnahme, nochmals: Ya-habibi. Die Streicher setzten ein, auch sie nicht vom Tonband, die Musiker saßen wohl hinter der Bühne, als ob diese große, stabile Bühne für eine einzige Person gebaut worden wäre: eine zierliche Person im weißen Abendkleid, Mitte Zwanzig, ein gelbes Seidentuch in der Hand. Ya-habibi, sang sie, die Menschen antworteten ihr, fingen an, im Takt in die Hände zu klatschen. Die junge Frau sang Umm Kalsums Lied, das zuvor vom Band gekommen war – das hatten sie nicht für möglich gehalten. Sie sahen in ihr Umm Kalsum, das Alter stimmte, es konnte nur Umm Kalsum sein. Kaum war sie abgetreten, fielen sie...


Monioudis, Perikles
Perikles Monioudis, 1966 in Glarus/Schweiz geboren, zog nach dem Studium der Soziologie und Politologie an der Universität Zürich nach Berlin. Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Romane und Erzählbände wurde er mit vielen Auszeichnungen bedacht, darunter der Preis des Schweizerischen Schriftstellerverbandes und der Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis.

Perikles Monioudis, 1966 in Glarus/Schweiz geboren, zog nach dem Studium der Soziologie und Politologie an der Universität Zürich nach Berlin. Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Romane und Erzählbände wurde er mit vielen Auszeichnungen bedacht, darunter der Preis des Schweizerischen Schriftstellerverbandes und der Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.