E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Monbiot Verwildert
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95757-829-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Wiederherstellung unserer Ökosysteme und die Zukunft der Natur
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-95757-829-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fast alle Landschaften auf der Erde sind Kulturlandschaften, in die der Mensch großräumig eingegriffen hat. Was wir für ursprüngliche Natur und schützenswert halten, ist allzu oft degenerierter Wald, abgebrannte Heide oder kahl gefressenes Hügelland. Verwildert plädiert dafür, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen, und fordert in einem radikalen Ansatz, die Natur, die der Mensch jahrhundertelang gierig ausgebeutet hat, in ihr altes Recht zu setzen, ihr maximale Freiräume zu geben. George Monbiot fordert, eine Wildnis zu ermöglichen, die vielleicht nicht schön ist im Sinne der Naturidylle, in der aber womöglich eines Tages und mitten in Europa wieder Büffel und Elefanten zu Hause sein könnten. Wo Kahlschlag herrscht, könnte wieder Wald entstehen, und wo das Meer zu Tode gefischt wurde, ein artenreicher und üppiger mariner Lebensraum. Verwildert ist ein leidenschaftliches Plädoyer und eine unterhaltsame Reportage, die nicht nur Agrarlobbyisten und Umweltschützer, Wildnisträumer und Waldbesitzer befragt, sondern in der die Begegnung mit den Schwundformen und dem Reichtum der Natur zu einem ebenso intensiv erlebten wie eindringlich geschilderten Abenteuer wird: Monbiot fährt Kajak neben Delfinen an der walisischen Küste, wandert durch Osteuropa, wo Luchse und Wölfe ihre alten Jagdgründe wieder für sich beanspruchen. Er erzählt von Erfolgen und Misserfolgen und beginnt so, eine Welt zu imaginieren, in der der Mensch wieder Teil der Natur sein kann. »Teils persönlicher Reisebericht, teils Einführung in die Wiederherstellung der Umwelt, bricht Verwildert eine Lanze für das Konzept der Rückverwilderung und wird sehr wahrscheinlich Förster, Landbesitzer, Politiker und die Öffentlichkeit dazu bringen, ihre Wahrnehmung der Natur und ihre Rolle in unserem Leben infrage zu stellen.« - Science
George Monbiot, geboren 1963, studierte Zoologie in Oxford und ist einer der bekanntesten Umweltschützer Großbritanniens und schreibt neben Büchern eine wöchentliche Kolumne für den Guardian. Seine Kolumnen werden weltweit übersetzt. 1995 überreichte ihm Nelson Mandela den UN Global 500 Award für außergewöhnliche Leistungen im Umweltschutz.
Weitere Infos & Material
1)Ein Sommer voller Geräusche
Ich steh jetzt auf und gehe, denn ich hör Tag und Nacht Den See ans Ufer plätschern, die Wellen kräuseln sacht: Gleich, ob ich auf dem Feldweg, auf grauem Pflaster steh, Ganz tief im Herzen hör ich den See. William Butler Yeats, Die Seeinsel von Innisfree1 Jedes Mal, wenn ich ein Stück Grassoden anhob, sah ich das Gleiche: Ein weißes Komma, das sich zwischen den Graswurzeln wand. Ich klaubte eines auf. Es besaß einen kleinen ingwerfarbenen Kopf und winzige Beinchen. Seine Haut war so straff gespannt, dass sie an den Segmenten beinahe platzen wollte. Am Schwanzende war der indigofarbenen Strich seines Verdauungstrakts zu sehen. Ich ging davon aus, dass es sich um den Engerling eines Maikäfers handelte, jenes Käfers mit dem bronzefarbenen Rücken, der im Frühsommer ausschwärmt. Einen Moment lang sah ich noch zu, wie er zuckte, dann steckte ich ihn mir in den Mund. Als er auf meiner Zunge zerplatzte, erlebte ich zwei Empfindungen, die mich wie Blitze durchzuckten. Die erste war der Geschmack. Er war süß, cremig, leicht rauchig, wie Alpenbutter. Die zweite betraf die Erinnerung. Ich wusste sofort, warum ich die Eingebung hatte, das Ding ließe sich essen. Ich stand in meinem Garten, Graupel bohrten sich in meinen Nacken, und erinnerte mich. Als ich aufwachte, brauchte ich einen Moment, bis mir klar war, wo ich mich befand. Über meinem Kopf wogte und knallte eine blaue Plane im Wind. Die Pumpen liefen schon, ich musste also verschlafen haben. Ich schwang meine Beine über den Rand der Hängematte und saß blinzelnd in dem hellen Licht, starrte über das zerstörte Land. Die Männer standen schon bis zur Hüfte im Wasser und spritzten mit Hochdruckschläuchen die Kiesbänke frei. In der Nacht waren ein paar Schüsse gefallen, aber Leichen waren keine zu sehen. Die Bilder der vergangenen Wochen gingen mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an Zé, den Massenmörder, dem die Landebahn in Macarão gehörte, wie er mit seinen schießwütigen Männern in die Bar kam und den Laden aufmischte. Ich erinnerte mich auch an den Mann, der später herausgetragen wurde, in der Brust ein Loch von der Größe eines Apfels. Ich dachte an João, einen mestizo aus dem Nordosten Brasiliens, der zehn Jahre lang den Amazonas zu Fuß durchstreift hatte, bis hinauf zu den Minen in Peru und Bolivien, um sich dann weitere 3500 Kilometer durch die Wälder zu schlagen und hier zu landen. »Ich habe in meinem Leben nur drei Männer getötet«, erzählte er, »und dass sie starben, war absolut notwendig. Aber wenn ich hier einen Monat bleibe, würde ich nochmal so viele umbringen.« Ich erinnerte mich an den Mann, der mir die seltsame Schwellung an seiner Wade zeigte. Als ich sie mir genauer betrachtete, wimmelte das Fleisch von langen gelben Maden. Auch an den Professor mit dem gepflegten schwarzen Bart, der Goldrandbrille und der strengen asketischen Art erinnerte ich mich, an den zynischen Kopf, der für einen weniger belesenen Besitzer die Aufsicht über das größte Claim versah. Er sei, so sagte er, bevor es ihn hierher verschlagen habe, Direktor der Universität von Rondônia gewesen. Aber allen voran musste ich an den Mann denken, der von den Schürfern Papillon genannt wurde. Blond und muskulös, wie er war, mit einem Schnurrbart à la Asterix, überragte er die kleinen dunklen Typen, die von Armut und Landraub getrieben hierhergekommen waren. Von den Chefs, den Händlern, den Luden und den Besitzern der Landebahnen abgesehen war er der Einzige, der sich freiwillig in diese Hölle begeben hatte. Bevor er, ein Franzose, sich dem Goldrausch anschloss, war er im Süden Brasiliens als Techniker für Landwirtschaftsmaschinen tätig gewesen. Er hatte noch kein Gold gefunden und saß nun hunderte Kilometer von der nächsten Stadt entfernt in den Wäldern Roraimas in der Falle, so mittellos wie alle anderen. Hier war ein Mann, der alles riskiert, der Behaglichkeit und Sicherheit aufgegeben hatte für ein Leben in gnadenloser Unsicherheit. Seine Chancen, aus dieser Situation lebend, zahlungskräftig und gesund herauszukommen, standen gering. Aber ich war nicht der Überzeugung, er habe die falsche Wahl getroffen. Ich putzte mir die Zähne, nahm mein Notizbuch, ging hinaus, über den Schlamm und den Kies. Die Temperatur stieg und im umgebenden Wald erstarb der Lärm der Rufe, Pfeiftöne und Triller. Es war nun drei Wochen her, dass Barbara, die Kanadierin, mit der ich arbeitete, einen Weg durch den Polizeikordon am Boa-Vista-Flughafen gefunden und uns unregistriert auf einen Flug zu den Minen gebracht hatte. Gefühlt waren es Monate. Wir hatten den Schürfern zugesehen, wie sie die Adern aus dem Wald rissen: die Flusstäler, deren Sedimente von Gold durchsetzt waren. Wir waren auf Belege für den einseitigen Krieg gestoßen, den manche gegen die in der Gegend ansässigen Yanomami führten, und für den physischen und kulturellen Kollaps der Gemeinschaften, über die sie hergefallen waren. Wir hatten das Gewehrfeuer gehört, das jede Nacht aus den Wäldern kam, wo Banditen den Schürfern auflauerten, Diebe exekutiert wurden oder Männer, denen das Glück hold gewesen war, um das Gold kämpften, das sie gefunden hatten. In den sechs Monaten, seitdem der eigentliche Goldrausch hier einsetzte, waren von den 40 000 Schürfern 1700 durch Gewehrkugeln getötet worden. Von den Yanomami waren fünfzehn Prozent an Krankheiten gestorben. Wegen des internationalen Skandals, den die Invasion auslöste, ließ die brasilianische Regierung die Minen nun räumen und die Schürfer zu Enklaven in anderen Gebieten des Yanomami-Lands abtransportieren. Von dort, das wussten die Schürfer, konnten sie wieder in ihre alten Claims einfallen, sobald das Interesse der restlichen Welt erlahmen würde. Die Bundespolizei hatte die Versorgungslinien unterbrochen, auf den Landepisten waren seit einigen Tagen keine Flugzeuge mehr gelandet. Die Schürfer brauchten ihren letzten Diesel auf und bereiteten sich auf ihren Abzug vor. Am Tag zuvor hätte eigentlich die Polizei eintreffen sollen, um noch vor der Räumung die Waffen zu beschlagnahmen, und die Männer waren den ganzen Morgen über in den Wald gegangen, um ihre Schusswaffen, in Plastik eingewickelt, zu vergraben. Ich war auf Beobachtungsstation geblieben, doch die Polizei war nicht aufgetaucht. Barbara – mein Gott, wo zur Hölle war Barbara? Sie war gestern aufgebrochen, um in den Bergen ein Yanomami-Dorf ausfindig zu machen, und wollte eigentlich am heutigen Abend zurück sein. Aber niemand hatte sie gesehen. Ich hielt Ausschau in den von den Schürfern errichteten Hütten und Bars, unter den Trauben von Männern am Boden der Gruben – ohne Erfolg. Ich stieß auf meinen Freund Paolo, einen Mechaniker, der die Ureinwohner in Auseinandersetzungen mit anderen Schürfern verteidigt hatte. Zusammen schlugen wir uns das Tal hinauf, um sie zu suchen. Der Fluss war orange und tot, erstickt von dem Lehm des Waldes, der von den Minen aufgewirbelt wurde. Links und rechts war das Tal eine Wüstenei aus Gruben, Abraumhalden und umgestürzten Bäumen. Arbeiter auf einem Junior Blefé genannten Feldstück erzählten, Barbara sei zwar tags zuvor vorbeigekommen, aber nicht wieder zurückgekehrt. Ein Mann mit einem Trinkergesicht und einem blauen Auge wusste den Weg zum Dorf und erklärte sich bereit, uns zu führen. Wir gingen los, rannten, liefen in die Berge. Bald nachdem wir in die Dunkelheit des Waldes vorgestoßen waren, stießen wir auf die Abdrücke von Barbaras Turnschuhen, sie waren einen Tag alt und überlagert von den nackten Fußspuren der Yanomami. Ich hatte meinen Blick auf den Boden gerichtet, aber Paolo hielt immer wieder mit lautem Rufen inne: »Sieh nur dieses Wasser, sieh nur die Bäume, wie schön, sind sie nicht schön?« Ich stoppte und starrte für einen Moment, sah Bäume, die von Moos und Epiphyten über das klare Wasser gebeugt wurden, in Lichtflecken schwebten Wasserjungfern. Barbaras Fußabdrücken folgend liefen wir weiter, rutschten über den lehmigen Pfad. Gegen Mittag ging es steil aufwärts; wir kletterten und ich hatte das Gefühl, durch ein Tuch einzuatmen. Bald sah ich es vor uns hell werden: Wir erreichten den Kamm. Von dort sahen wir auf der gegenüberliegenden Talseite Frauen, die sich, nur mit einem Lendentuch bekleidet, durch einen Bananenhain bewegten und Körbe mit Früchten trugen. Hügel auf Hügel, bewaldet und unberührt, versanken in der Stille. Ein paar Minuten noch blieben wir versteckt zwischen den Bäumen, dann gingen wir hinunter durch den Talgrund und wieder in die Gärten hinauf, riefen auf Portugiesisch, dass wir Freunde seien. Die Frauen hielten an und beobachteten, wie wir näher kamen. Ich streckte meine Hände aus; sie schüttelten sie mit scheuem Lächeln. »Weiße Frau«, sagte ich. »Habt ihr die weiße Frau gesehen?« Mit den Händen ahmte ich Barbaras Größe und ihr langes Haar nach. Sie lachten und wiesen den Hang hinauf, in den Wald hinter ihrem Rücken. Wir rannten wieder los, über die Anhöhe und in das nächste Tal...